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Ist das Gedenken an den Holocaust provinziell?

Das US Holocaust Memorial Museum scheint für deutsche Mbembe-Verteidiger „provinziell“ zu sein
Das US Holocaust Memorial Museum scheint für deutsche Mbembe-Verteidiger „provinziell“ zu sein (© Imago Images / Dean Pictures)

Das Gedenken in Deutschland sei auf den Holocaust fixiert, was die Opfer anderer Gewaltverbrechen an den Rand dränge, meinen die Verteidiger von Achille Mbembe. Ihnen schwebt eine Universalisierung der Erinnerung vor. Damit aber werden die Spezifika des Antisemitismus und der Shoa ausgeblendet – und Israel erscheint als archaisches, koloniales Relikt.

In der Diskussion über den postkolonialen Philosophen und Historiker Achille Mbembe, die seit Wochen vor allem in den Feuilletons ausgetragen wird, spielt nicht zuletzt die erinnerungspolitische Komponente eine gewichtige Rolle.

Etwas verkürzt formuliert ließe sich zusammenfassen: Für diejenigen, die Mbembe verteidigen – und die Kritik an dessen Äußerungen über Israel teilweise für rassistisch motiviert halten –, ist das Gedenken in Deutschland zu stark auf die Shoa fixiert und lässt deshalb keinen Raum für die Erinnerung an andere Gewaltverbrechen wie insbesondere den Kolonialismus. Felix Axster, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin, nennt dieses Gedenken im Freitag sogar „provinziell“, was so viel heißt wie: hinterwäldlerisch, engstirnig, rückständig.

Mbembes Verteidiger und generell die Anhänger der postkolonialen Theorie wenden sich gegen das Beharren auf der Unvergleichbarkeit des Holocaust und gegen die Kritik, dass entsprechende Vergleiche regelmäßig auf eine Relativierung der Shoa hinauslaufen.

In einem Beitrag für die Zeitung des Deutschen Kulturrates beispielsweise schreiben Reinhart Kößler und Henning Melber: „Die Disqualifizierung solcher Vergleiche leistet auch der in Deutschland vorherrschenden kolonialen Amnesie Vorschub.“ Die koloniale Gewaltgeschichte gehöre „zu den Blindstellen offizieller deutscher Erinnerung“. Indem die Shoa „über das unverzichtbare Gedenken hinaus durch das Tabu des Vergleichs isoliert“ werde, würden „all die anderen Opfergruppen an den Rand gedrängt oder beschwiegen“.

Die Singularität des Holocaust werde damit „zum Ausschlusskriterium für die adäquate Bearbeitung anderer Gewaltgeschichten“, so die Autoren. Dabei sei „aus Sicht der Nachfahren der Opfer – wie etwa der Bevölkerungsgruppen im heutigen Namibia, die bis heute von den Konsequenzen des Völkermords in der ehemaligen deutschen Kolonie nachhaltig betroffen bleiben – ihr erfahrenes Leid ebenso singulär“.

Außerdem, so Rößler und Melber, sei die „vergleichende Genozidforschung“ ein „unverzichtbares Mittel der Prävention schwerster Massenverbrechen“, da sie es durch ihre Vergleiche ermögliche, „gefährliche Tendenzen und Mechanismen zu erkennen“.

Nicht nur eine „metaphorische Zusammenschau“

Mbembe habe lediglich „eine metaphorische Zusammenschau des Holocaust, der Apartheid in Südafrika, vieler anderer Kolonialsysteme und auch der gegenwärtigen israelischen Besatzungspolitik“ vorgenommen.

Für Kößler und Melber sind das allesamt „segregierende Herrschaftssysteme“, denen eine Systematik innewohne, „die zur Steigerung und [zu] einer zur Willkür neigenden Praxis der gewaltsamen Diskriminierung“ neige, die „bis zum Völkermord gehen“ könne. Deshalb sei es „notwendig, derartige Prozesse zu erforschen“.

Völlig zu Recht hat Ingo Elbe in einem Beitrag für die Tageszeitung Die Welt gegen diese Sichtweise eingewendet, „dass es nicht an der Betonung der Spezifik des Holocaust liegt, wenn Rassismus und Kolonialgeschichte nicht berücksichtigt werden, sondern schlicht an der in einer Gesellschaft herrschenden Ignoranz oder an rassistischen Ressentiments“.

In der Tat ist es abwegig, das Gedenken an die beispiellose Vernichtung von sechs Millionen Juden für den Hauptgrund zu halten, warum andere Gewaltverbrechen einen zu geringen Raum in der Erinnerung einnehmen. Damit stellt sich die Frage, ob Mbembe und seine Verteidiger nicht auf etwas anderes hinauswollen.

Man muss noch einmal ins Gedächtnis rufen, dass Achille Mbembe keineswegs bloß eine „metaphorische Zusammenschau“ verfasst hat. Er hat nicht nur verglichen, sondern behauptet, Israel verfahre mit den Palästinensern weitaus schlimmer als Südafrika während der Apartheid mit seinen schwarzen Bürgerinnen und Bürgern, wende „Techniken der materiellen und symbolischen Auslöschung“ an und betreibe eine „fanatische Zerstörungspolitik“.

Er hat sich zu dem Urteil verstiegen, die Israelis betrachteten die Palästinenser als „Müll“, der entsorgt werden müsse, und das den „größten moralischen Skandal unserer Zeit“ genannt. Die israelische Politik hält Mbembe für eine Folge davon, dass die Juden den Nihilismus der Nationalsozialisten, von denen sie verfolgt und vernichtet wurden, verinnerlicht hätten.

Neuer Historikerstreit mit umgekehrten Vorzeichen

Bei Kößler und Melber findet sich an diesen Ungeheuerlichkeiten nicht nur keinerlei Kritik, sie halten es vielmehr selbst für geboten, die „gegenwärtige israelische Besatzungspolitik“ zu den „segregierenden Herrschaftssystemen“ zu zählen, denen eine „zur Willkür neigende Praxis der gewaltsamen Diskriminierung“ eigen sei, die „bis zum Völkermord gehen“ könne.

Zwar schreiben die beiden Autoren, Vergleiche wie in der Genozidforschung eröffneten „Gemeinsamkeiten wie Unterscheidungen“ – doch um die ganz erheblichen, wesentlichen, grundlegenden Unterschiede geht es ihnen in ihrem Text gerade nicht. Ihre Botschaft ist an dieser Stelle vielmehr: Israel findet sich zu Recht in Mbembes Vergleichskanon von Herrschaftssystemen, zu denen auch der Nationalsozialismus, der Kolonialismus und die Apartheid zählen. Das aber ist eine Dämonisierung und Delegitimierung des jüdischen Staates.

Thierry Chervel im Perlentaucher, Ingo Elbe in der Welt und auch Niklaas Machunsky bei einer Online-Veranstaltung zum Thema „Die Causa Mbembe. Antisemitismus, Postkolonialismus und deutsche Erinnerungskultur“ (das Manuskript liegt MENA-Watch vor) haben mit Recht festgestellt, dass Mbembes Verteidiger „an exkulpatorische Mythen der Deutschen anknüpfen und eine fatale Tradition der Einebnung der Spezifik der Shoa fortsetzen“, wie es Elbe formuliert hat.

Chervel erinnert die Causa Mbembe an den Historikerstreit um Ernst Nolte und Jürgen Habermas, nur „mit umgekehrten Vorzeichen“: Seien es damals die Konservativen gewesen, „die den Holocaust in die Geschichte stellen wollten, ihm die Singularität absprachen“, so finde sich diese Position nun – wenngleich in einem anderen Kontext, wie Chervel betont – aufseiten der linken postkolonialen Theoretiker.

Machunsky knüpft daran an, wenn er sagt: „Nolte ging es in seinen damaligen Beiträgen […] um Schuldabwehr durch Relativierung. Er bediente sich der Methode des Vergleichs, um den Holocaust in einem allgemeinen Sumpf menschlicher Verbrechen untergehen zu lassen.“ Der Historiker habe „die Schuld durch Verweis auf die Moderne und allgemeine menschliche Eigenschaften abwehren“ wollen.

In der jetzigen Debatte, so Machunsky, „soll der Holocaust ebenfalls auf einer universellen, anthropologischen Disposition beruhen“, wie sie beispielsweise Mbembe mit dem Begriff „Trennungswahn“ beschreibe. Er soll also letztlich nichts Spezifisches, nichts Präzedenzloses mehr sein, sondern ein Gewaltverbrechen unter vielen; das Gedenken an ihn soll entsprechend keinen besonderen Stellenwert mehr haben, sondern gleichberechtigt mit den Erfahrungen der Kolonisierten sein.

Wozu eine „Universalisierung der Erinnerung“ führt

Es müsse, so argumentieren Mbembes Verteidiger, also eine Erweiterung der Perspektive der Erinnerung stattfinden, auch und gerade vor dem Hintergrund, dass Deutschland ein Einwanderungsland sei und Migranten die Möglichkeit bieten müsse, sich mit ihren eigenen (Gewalt-)Erfahrungen in das Gedenken einzubringen, um sich damit identifizieren zu können.

Niklaas Machunsky zitiert in diesem Zusammenhang aus dem Aufsatz „Citizenship: Migrant Archives of Holocaust Remembrence in Contemporary Germany“ von Michael Rothberg und Yasemin Yildiz, in dem es heißt: „Wir müssen anerkennen, dass sich die Zeiten geändert haben und dass die Singularität des Holocaust zunehmend dazu genutzt wird, um nichtjüdische Minderheiten in Europa zu disziplinieren – insbesondere die muslimischen Minderheiten sind davon durch die Behauptungen betroffen, dass der Antisemitismus vollkommen inkommensurabel mit anderen Formen des Rassismus sei, aber auch durch die Anwendung ‚neuer‘ Formen von Antisemitismus auf muslimische Minderheiten.“

Was das bedeutet, macht Machunsky deutlich: „Wenn die Juden aber darauf beharren, dass sie nicht als Menschen umgebracht wurden, sondern als Juden von Tätern, die Antisemiten waren, dann stören sie die neue deutsche Erinnerungskultur.“ Und wenn der Holocaust durch die Erweiterung der Erinnerung der staatsbürgerlichen Integration dienen solle, werde er funktionalisiert. Das wiederum setze „eine Verallgemeinerung voraus, die das konkrete historische Ereignis in eine Metapher für jegliches Unrecht auflöst“.

Wenn jeder seine persönliche Geschichte, auch wenn diese nichts mit dem konkreten Ereignis zu tun hat, auf die Ermordung der europäischen Juden projizieren können solle, so Machunsky, „dann ist jedes Beharren auf den Tatsachen, jede Zurückweisung von unangemessenen Vergleichen eine Störung und Gefährdung des öffentlichen Friedens“.

Schon fragt Felix Axster, der eingangs zitierte Mitarbeiter des Berliner Zentrums für Antisemitismusforschung, mit Blick auf die Institution des Antisemitismusbeauftragten: „Ist die Hervorhebung der Bedeutung von Antisemitismus im Verhältnis zu Rassismus, die in dieser Institution angelegt ist und aus der Geschichte des Holocaust beziehungsweise der Erinnerung an die Judenvernichtung im Land der Täter resultiert, noch zeitgemäß – angesichts der globalen Dimension von Erinnerungskultur und -politik sowie angesichts zunehmend gemischter Migrationsgesellschaften mit vielschichtigen Herkünften und Traumatisierungen?“

Schließlich könne dieses Amt von denjenigen, die von Rassismus betroffen sind, „im Sinne einer Opferkonkurrenz verstanden“ werden und entsprechend den Eindruck hervorrufen, „dass ihre Gewalterfahrungen weniger ins Gewicht fallen als die von Juden“.

Die Spezifika des Antisemitismus werden bewusst verkannt

Von dieser Einebnung des Antisemitismus – die nur funktioniert, wenn man seine spezifische Funktion und Wirkmächtigkeit, seine Bedeutung als lagerübergreifende Weltanschauung und -erklärung sowie den ihm immanenten Vernichtungsdrang vernachlässigt – ist es dann nicht mehr weit zu einer Klage, wie sie Aleida Assmann führt.

Sie hält die von vielen Ländern adaptierte Antisemitismusdefinition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA), die auch die Dämonisierung und Delegitimierung Israels sowie die Anwendung doppelter Standards gegen den jüdischen Staat einschließt, für etwas, das „die globale Solidarität im Kampf gegen Judenhass nicht stärkt, sondern behindert“ und für ein „Klima des Verdachts, der Verunsicherung und Denunziation“ gesorgt hat.

Für Assmann ist also weniger der Antisemitismus das Problem, vielmehr sind jene es, die ihn zur Sprache bringen, wo immer er in einer seiner vielfältigen Formen auftritt. Diese Sichtweise setzt voraus, dass man die spezifische Vernichtungsdrohung leugnet oder ignoriert, der die Juden der Welt und vor allem Israels noch immer ausgesetzt sind.

„Im nächsten Schritt wird dann, wie im Fall von Mbembes Anwendung der postkolonialen Schablone, die Verteidigung Israels gegen antisemitischen Terror zur rassistischen Apartheidspolitik umgebogen“, wie Ingo Elbe konstatiert. Damit einher geht die Ignoranz gegenüber dem islamischen Antisemitismus, den man in postkolonialen Kreisen gerne beschweigt, weil es das Bild von den Palästinensern als Opfer des Kolonialismus grundlegend in Frage stellen würde.

Delegitimierung Israels

„Die Verteidiger Mbembes haben kein Problem damit, die AfD oder sonstige Rechte und deren Antisemitismus zu denunzieren“, führt Niklaas Machunsky in seinem Vortrag aus.

Doch wenn Israel sich „als Staat gegen seine Feinde wehrt und hinter deren Motivation Antisemitismus erkennt und denunziert“, hängt es aus Sicht der postkolonialen Theoretiker „einem überholten, ethnisch-partikularen Staatsbürgerverständnis an“. Israel sei für sie „ein archaisches Relikt, verstockt und veraltet, während die neue deutsche Erinnerungskultur einen neuen, universellen nationalen Typus repräsentiert“.

Diese „Universalisierung der Erinnerung“, die gegen eine „deutsche Gedenkkultur“ und ihren angeblichen Provinzialismus stark gemacht wird, ebnet die Spezifika und die Singularität der Shoa ein, verweist die Juden auf die Plätze, verkennt absichtsvoll die eliminatorischen Besonderheiten des Antisemitismus und führt eine Dämonisierung und Delegitimierung des jüdischen Staates mit sich. Dass sie sich als fortschrittlich gebärdet, macht die Sache nicht besser.

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