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Israels verpasste Chance im Negev

Beduinisch-israelische Hamas-Geisel Qaid Farhan Al-Qadi wird nach seiner Freilassung seinem Dorf im Negev begrüßt
Beduinisch-israelische Hamas-Geisel Qaid Farhan Al-Qadi wird nach seiner Freilassung seinem Dorf im Negev begrüßt (© Imago Images / NurPhoto)

Nach dem 7. Oktober war eine Annäherung zwischen israelischen Juden und Arabern zu bemerken, inzwischen sind jedoch die alten Klüfte wieder spürbar.

Qaid Farhan Al-Qadi gehört zu den beduinisch-muslimischen Bürgern Israels, die am 7. Oktober 2023 in den Gazastreifen entführt wurden. Seine Befreiung Ende August als auch die Tatsache, dass unter den israelischen Geiseln weiterhin Beduinen sind, erinnerte Israel daran, dass diese Gemeinschaft infolge des Hamas-Überfalls Tote und Verletzte zu beklagen hatte.

Im Herbst noch pries ganz Israel beduinische Helden, die selbstlos Unbekannten das Leben retteten, und lobte die humanitären Initiativen für Notleidende, die diese 300.000 Personen zählende Minderheit der Negev-Wüste auf die Beine stellte. Die jüdische Mehrheitsgesellschaft nahm in dieser Lage zudem dankbar wahr, dass die Identifizierung der arabischen Bürger mit dem jüdischen Staat ein historisches Hoch erreichte.

In den Wochen nach dem Überfall hatte man das Gefühl, gemeinsam in einem Boot zu sitzen. Obwohl alte Phänomene wie gegenseitiges Misstrauen keineswegs verschwunden waren, schienen sich am Horizont neue Chancen für das Miteinander abzuzeichnen. Doch im Negev kippte die Lage schon vor Monaten. Die Realität, in die der nur noch 36 Kilogramm wiegende Qaid Farhan Al-Qadi nach fast elf Monaten Geiselhaft zurückkehrte, ist harsch und sorgt unter Negev-Beduinen für große Frustration.

Trotz allem gradlinig

Der zum bewaffneten Sicherheitsteam des Kibbuz Magen gehörende Al-Qadi wurde am 7. Oktober angeschossen und verschleppt, weil er sich geweigert hatte, den Hamas-Terroristen zu zeigen, wo Juden lebten: »Lieber wäre ich gestorben, als sie auch nur zu einem einzigen Juden zu führen.«

Seiner Einstellung blieb der in Polygamie lebende, elffache Vater während 326 Tagen Geiselhaft treu; nicht nur. als er dem kranken und verletzten 85-jährigen Arye Zalmanovich, entführt aus dem Kibbuz Nir Oz, in den letzten Minuten dessen Lebens beistand. Als Al-Qadi nach unsachgerechter und brutaler Behandlung seiner Beinverletzung in das Hamas-Tunnelnetzwerk verlegt wurde, erbat er sich von seinen Bewachern einen Koran und wollte mit anderen Geiseln zusammengelegt werden, was ihm als Verrat ausgelegt und er isoliert, erniedrigt und gequält wurde. Damals fragte er sich, wie er in einem Interview berichtete, wie sie erst mit Juden umgingen.

Bald wieder angegriffen

Dass eine weitere Geisel in Sicherheit war, verbreitete sich in Israel wie ein Lauffeuer. Nicht nur Staatspräsident Isaac Herzog teilte auf Twitter seine Freude mit. Premierminister Benjamin Netanjahu telefoniert sogar mit dem Befreiten – eine Geste, die der Regierungschef bis dato zumeist unterlassen hatte.

Kaum zurück in seinem Dorf auf halbem Weg zwischen Rahat und Be´er Sheva setzte allerdings eine Hetzkampagne gegen Al-Qadi ein. Auslöser war die Behauptung des national-religiösen Kreisen nahestehenden Channel 14, Al-Qadi habe sich als Palästinenser bezeichnet. Richtigstellungen mehrerer Medien, er habe vielmehr darüber geredet, dass sowohl Israelis als auch Palästinensern das Recht auf Freiheit zustehe, halfen wenig. Es hagelte Angriffe und letztlich auch Drohungen, was Al-Qadi sehr verletzte. Dennoch hätte schon sein Großvater und würden jetzt auch seine Kinder zu jenen »90 Prozent der Bürger Israels gehören, die zusammenstehen, die eine Familie sind«. Überdies betonte er, nur eine Minderheit würde dies anders sehen, und die solle »nach Hause gehen und dort ihr Gift verbreiten«.

Damoklesschwert

Diese Minderheit, auf die sich Al-Qadi bezieht, ist mit vierzehn Sitzen in der Knesset vertreten. Darüber hinaus ist ausgerechnet Itamar Ben-Gvir von der Partei Jüdische Stärke als Minister für nationale Sicherheit in vielen Bereichen, die das Leben der Beduinen im Negev betreffen, tonangebend, so bezüglich Räumungsbescheiden oder dem Abriss von Gebäuden ohne Baugenehmigung. Von diesen Maßnahmen sind insbesondere Dörfer, die nicht anerkannt sind, wie Al-Qadis Heimatort Khirbet Karkur, betroffen, in denen rund 80.000 Negev-Beduinen leben.

Zu Khirbet Karkur gibt es keine offiziellen Zahlen, ist es ist weder an die Strom- noch an die Wasserversorgung angeschlossen und auf keiner Landkarte verzeichnet. Bekannt ist jedoch, dass im November 2023 rund siebzig Prozent der Einwohner Abrissbescheide erhielten, weil sie ohne Genehmigung und zudem in einem »geschützten Wald« ihre Häuser und Wellblechverschläge errichtet hatten.

Al-Qadis Kernfamilie blieb »in Anbetracht der Situation« (des Status von Al-Qadi als Ex-Geisel, Anm. Mena-Watch) von den Behörden bislang verschont. Dennoch wäre auch Al-Qadi mit seiner vielköpfigen Familie mit schwierigen Zukunftsfragen konfrontiert, sollte die Mehrheit seines Dorfes ohne Dach über dem Kopf dastehen.

Entwicklungen zunehmend bedenklich

Schon seit Jahren nehmen in beduinischen Ortschaften Abrissaktionen als auch Räumungen zu. Im Negev stiegen sie im heurigen ersten Halbjahr – trotz Kriegsgeschehen –im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um dreizehn Prozent zu.

Waleed Alhwashla, der einzige beduinische Knesset-Abgeordnete, der nach der Wahl im November 2022 für die arabische Ra‘am-Partei ins Parlament einzog, warnt vor einer Verstärkung dieses Trends. Erschwerend kommt hinzu, dass trotz Wohnraumangels der massiv wachsenden beduinischen Minderheit von der Regierung immer weniger Baugenehmigungen erteilt werden.

Ben-Gvir sorgte vor Monaten dafür, dass eine altbekannte Maßnahme wieder an Fahrt aufgenommen hat, die der von Yair Lapid und Naftali Bennett geführte »Veränderungskoalition« von 2021 bis 2022 erstmals einen anderen Ansatz entgegenstellte. Nachdem sich Ra´am unter ihrem Vorsitzenden Mansour Abbas unterstützend an die Seite der Regierung gestellt hatte, gingen die Abrissaktionen zeitweise zurück. Damals wurden stattdessen einige beduinische Dörfer anerkannt und anderen mit diversen Maßnahmen der Weg in die Gesellschaft erleichtert. Doch das ist nicht der einzige Problembereich, der sich mit Netanjahus Rechtskoalition radikal verändert hat:

Während der Zeit der Ra´am-Regierungsbeteiligung wurden Pläne ausgearbeitet, um die jahrzehntelange Zurücksetzung der arabischen Gesellschaft auszugleichen, die lange vor dem Bestehen des Staates Israel begann. Zu den Maßnahmen gehörten Fördergelder, aber auch die Umstrukturierung von Behörden, um Korruption und Vetternwirtschaft einzudämmen.

Inzwischen wird nicht mehr gefördert, sondern an allen Ecken und Enden gekürzt, vor allem im Sozial- als auch im Bildungswesen, was die sozioökonomisch geschwächte arabische Gesellschaft im Allgemeinen und die zudem extrem kinderreiche beduinische Gesellschaft im Besonderen massiv trifft. Umstrukturierungen werden zwar vorgenommen, nur bewirken sie jetzt genau das Gegenteil, sodass die Bandenkriminalität ihren Einfluss noch weiter ausdehnen kann.

Zuspitzung in Kriegszeiten

Schon vor dem Krieg ging die arabische Gesellschaft wegen der zunehmenden Gewalt infolge von Kriminalität auf die Barrikaden. Tatsächlich schnellten unter der rechtsnationalen Netanjahu-Koalition im Laufe des Jahres 2023 die Zahl der Zwischenfälle mit Schusswaffen und jene der Mordopfer in die Höhe, während parallel Maßnahmen zur Eindämmung des Verbrechens zurückgenommen wurden. Im Laufe der Monate, die seit Kriegsbeginn verstrichen sind, hat sich diese Lage noch zugespitzt. Minister Ben-Gvir ist zwar zuständig, lehnt aber kategorisch jede Verantwortung für diesen Zustand ab, den die gesamte arabische Gesellschaft Israels inzwischen als existenzbedrohend empfindet.

Genauso bedrohlich wird überdies das wirtschaftliche Tief infolge des Kriegs angesehen, das die arabische Gesellschaft des Landes wegen ihrer schlechteren Ausgangslage besonders empfindlich spürt und das die am meisten verarmte Gruppe Israels, die beduinische Gemeinschaft, noch weiter in die Armut treibt.

Unter den Beduinen herrscht zudem großer Unmut wegen eines anderen Sachverhalts: Sie sind die einzigen muslimischen Bürger Israels, die in einem nennenswerten Kontingent in der Armee dienen und sogar ein eigenes Bataillon stellen – und damit auch Gefallene und Verletzte zu beklagen haben. Trotz dieses ultimativen Beitrags sind ihre Familien dennoch mehrheitlich schutzlos gegen die im Krieg besonders häufig völkerrechtswidrig gegen Zivilisten abgefeuerten Raketen.

In der Anfang der 1970er Jahre gegründeten beduinischen Stadt Rahat, die heute fast 80.000 Einwohner zählt, gibt es nur wenige öffentliche Bunker. Lediglich die Neubauten verfügen über Schutzräume. Gar keine Schutzmöglichkeiten sind in den nicht-anerkannten Dörfern vorhanden.

Nachdem am 7. Oktober infolge des Hamas-Raketenbeschusses erneut Beduinen in nicht-anerkannten Dörfern ums Leben kamen, darunter sechs Kinder, hatte der Minister für die Entwicklung von Negev und Galiläa, Yitzhak Wasserlauf von Ben-Gvirs Partei Jüdische Stärke, gelobt, dass fertig angelieferte Schutzräume zur Verfügung gestellt würden, was bis heute nur eines der vielen Lippenbekenntnisse der gegenwärtigen Regierung ist.

Hoffnung schwindet

Viele Aspekte tragen zur wachsenden Frustration der Negev-Beduinen bei. Nicht wenige von ihnen blicken auf enorme Errungenschaften, die ihnen Israel erschloss, zurück, beispielsweise der Weg innerhalb von zwei Generationen vom Leben im Zelt hin zum Medizinstudium.

Um auch den weniger Glücklichen und Erfolgreichen weiterhin Förderung und Chancen zu eröffnen, votierte die beduinische Gesellschaft des Negev bei den letzten Wahlgängen 2021 und 2022 in überwältigender Mehrheit für den Ansatz von Ra´am. Damit brachte sie zugleich den Wunsch nach Integration und Mitbestimmung zum Ausdruck. Es war ein Bekenntnis für einen Aufbruch, für Veränderungen.

Veränderungen haben tatsächlich stattgefunden, nur in völlig anderer Form als erhofft, sodass es vielen Menschen umso schwieriger fällt, die Hoffnung zu wahren, auch wenn Initiativen der israelischen Zivilgesellschaft immer wieder vor Augen führen, dass ein Miteinander, basierend auf Respekt und Toleranz, keine Utopie ist.

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