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Israels Protestbewegung kommt wieder in Schwung

Israelische Schüler protestieren vor der Knesset für die Freilassung der Geiseln (Imago Images / ZUMA Press Wire)
Israelische Schüler protestieren vor der Knesset für die Freilassung der Geiseln (Imago Images / ZUMA Press Wire)

Das Massaker vom 7. Oktober 2023 und der darauffolgende Krieg drosselten das Tempo der Justizreform. Nun treibt die Regierung ihre Maßnahmen wieder voran – und die Proteste nehmen erneut an Fahrt auf.

Im Frühjahr 2023 leitete die israelische Regierung Maßnahmen ihres Justizreform-Pakets ein, was zu teils heftigen Reaktionen und Kundgebungen führte. Die einen brachten ihre Unterstützung der Regierung zum Ausdruck, während die anderen in Sorge um die Demokratie ihre Ablehnung kundtaten. Gerade die Protestbewegung schwoll immer mehr an. Unter jenen, die es protestierend auf die Straße trieb, waren auch Wähler der Koalitionsparteien, die sich zwar nicht unbedingt per se gegen die Reform aussprachen, aber vieles zu bemängeln hatten, darunter die Vorgehensweise der Regierung.

Israels Spaltung schien allgegenwärtig und das Land zeitweise in den Ausnahmezustand versetzt. Im Sommer 2023 wuchsen die Befürchtungen, Israel könnte auf eine Verfassungskrise zusteuern. Nicht wenige Israelis hatten damals das Gefühl, dass es um das Überleben ihrer Demokratie geht und sogar ein Bürgerkrieg ausbrechen könnte, wozu jedoch andere Szenarien als Proteste gehören würden. Kurz vor Ende der Sommersitzung der Knesset verabschiedete die Regierung eines der ersten Gesetze ihrer geplanten Justizreform. Doch bevor sie weitermachen konnte, kam der 7. Oktober 2023.

Neue Prioritäten

Die Ereignisse, die wegen des Hamas-Überfalls einsetzten und Israel seither zwingen, einen Krieg an mehreren Fronten auszutragen – der sich zwar gewandelt hat, aber längst nicht zu Ende ist –, drosselten zwar das Tempo der Justizreform, doch die Koalition gab ihre Pläne zu keiner Zeit auf. Auch die Opposition zur Justizreform verschwand trotz der dramatischen Ereignisse nicht, obwohl die Menschen lange Zeit nicht mehr zum Schabbat-Ende in zahllosen Städten, an zentralen Verkehrskreuzungen oder gar in Tel Aviv zu den sogenannten »Kaplan-Protesten« gegen die Justizreform zusammenkamen.

Die israelischen Bürgerinnen und Bürger hatten auf einen Schlag andere Ziele vor Augen: Die einen zog es an die Waffe, um ihr Volk zu schützen und ihr Land zu verteidigen. Fast alle anderen – und das ist nicht übertrieben – widmeten sich zivilen Aspekten der präzedenzlosen Notlage infolge des Hamas-Überfalls.

Einen solchen Wandel durchlief die Vereinigung Achim LaNeshek (Brothers and Sisters in Arms), die unmittelbar nach Bekanntgabe der Pläne zur Justizreform von Reservisten der Israelischen Verteidigungsstreitkräfte gegründet wurde. Nach einem mehrtägigen Protestmarsch im März 2023 stieg die Mitgliederzahl sprunghaft auf über zehntausend Reservisten und im weiteren Verlauf zudem um zahllose Zivilisten an.

Diese Vereinigung zeichnete für viele Protestaktionen verantwortlich, weitaus mehr als fortwährende Blockaden der Wohnsitze von Koalitionsabgeordneten. Bereits Ende März 2023 hörte man aus ihren Reihen die Aufforderung, den Reservedienst zu verweigern, sollten Teile der geplanten Justizreform umgesetzt werden. Im Juli, als die Koalition kurz vor der parlamentarischen Pause bis zum Herbst eines der ersten Gesetze ihres Pakets auf den Weg brachte, gaben rund 10.000 Reservisten bekannt, nicht mehr zum Reservedienst zu erscheinen.

Das spaltete das zerrissene Israel weiter. Doch es war eben diese Vereinigung, die am schnellsten und auch umfangreichsten auf Israels neue Realität reagierte. Lediglich zwei Stunden nach dem Hamas-Überfall rief sie Israels Reservisten dazu auf, sich »ohne zu zögern umgehend zur Verteidigung Israels« zu den Waffen zu melden. Noch am selben Morgen begannen die Aktivisten, das Logistikzentrum auf dem Tel Aviver Expo-Gelände sowie ein weiteres in der westlichen Negev-Wüste aufzubauen und parallel dazu technologische Ressourcen zu mobilisieren, um vermisste Personen ausfindig zu machen.

Seither halfen Zehntausende Achim-LaNeshek-Ehrenamtliche, die sich in Kriegszeiten in »Brothers and Sisters for Israel« umbenannten, Reservisten auszustatten und zu unterstützen sowie deren Familien ebenso wie Überlebende, Evakuierte und Hinterbliebene von Gefallenen in jeder nur erdenklichen Weise beizustehen.

Nichts ist Schwarz-Weiß

Im Juni 2024 wurde die Vereinigung in Anerkennung ihrer zivilen Verdienste während der Kriegsmonate mit dem Preis für ehrenamtliches Engagement des israelischen Staatspräsidenten  geehrt. Das brachte Herzog viel Kritik der politischen Rechten ein, ließ aber zudem eine niemals verstummte allgemeine Kritik an der Protestbewegung wieder lauter werden: Die tätigen Organisationen würden Geld und Beziehungen einsetzen, um auf unlautere Weise ihnen ideologisch genehme Fäden in der israelischen Politik zu ziehen.

Schon vor längerer Zeit machte Achim-LaNeshek klar, ihr Engagement für Bildung, Gemeinschaft und demokratische Werte fortzusetzen; einerlei, ob Krieg herrscht oder nicht. Einige namhafte Aktivisten kokettieren längst mit dem Sprung in die Landespolitik. Daran würden sie weder zeitweilige Verhaftungen noch diverse laufende Ermittlungen gegen führende Mitglieder, die Abberufung eines Aktivisten als Ausbilder von Reservisten oder der Entzug von Waffenlizenzen hindern, was sogar die Berufstätigkeit etlicher Betroffener bedroht.

Selbst angegriffen und sich juristisch gegen verleumderische Nachrede wehrend, waren es in der Vergangenheit allerdings einige Aktivisten, die selbst auf Konfrontation setzten, provozierten und Aktionen durchzogen, die noch ein juristisches Nachspiel haben werden. Zugleich muss man aber auch den von Achim-LaNeshek initiierten Dialog mit Rabbinern des Religiösen Zionismus erwähnen. Nach dem 7. Oktober 2023 betonten sie die Botschaft der Einheit und das von der gesamten israelischen Gesellschaft hochgehaltene Motto »Gemeinsam sind wir stark«.

Umstrittene Entscheidungen

Achim LaNeshek und andere Vereinigungen, darunter die nicht weniger prominente, bereits 2020 gegründete Bonot Alternativa (Women Building an Alternative), namhafte Hightechfirmen und diverse Bürgervereinigungen haben in den letzten Wochen ihre Komitees reaktiviert, die Kundgebungen beantragen und organisieren. Und längst schon fanden die ersten Protestaktionen vor allem bei der Knesset, aber auch in der Nähe des Jerusalemer Premierwohnsitzes statt.

Fast überall kam es zu Zusammenstößen. Die Situation scheint noch aufgeheizter als zuvor. Vielen bereitet Sorge, dass die Regierung inzwischen einige Präzedenzfälle schuf. Diesbezüglich ist nicht nur der Boykott der Amtseinführung des neuen Präsidenten des Obersten Gerichtshofs zu erwähnen. Umkämpft ist beispielsweise auch die Entlassung des Chefs des Inlandsgeheimdienstes Shin Bet, Ronen Bar.

Die Generalstaatsanwältin Gali Baharav-Miara, die sich selbst nach einem Misstrauensvotum auf dem Schleudersitz befindet, stoppte zwecks Prüfung der Prozedur das Entlassungsverfahren und untersagte eine Neubesetzung der Position, bis das Ergebnis vorliegt. Premier Netanjahu kündigte an, diese Anweisungen zu ignorieren und setzte in den letzten Tagen erste Schritte in diese Richtung. Damit rückt aus der Sicht vieler Israelis ein Zusammenstoß zwischen Exekutive und Judikative in greifbare Nähe, so, wie es bereits im Sommer 2023 vor der Tür zu stehen schien.

Tatsächlich haben die Kundgebung im Israel nach dem 7. Oktober 2023 nur kurze Zeit aufgehört. Schnell taten die Bürger wieder öffentlich ihre Ansichten kund, allerdings auf dem Vorplatz des Tel Aviv Art Museums, der längst weltweit als »Platz der Geiseln« bekannt ist und sich nach den ersten Kundgebungen Ende 2023 zum praktisch unumgehbaren Anlaufpunkt in Tel Aviv entwickelt hatte.

Vergangenes Wochenende wurde klar, dass es nunmehr gleich zwei geografische Fokuspunkte gibt: den »Platz der Geiseln« und den HaBima Platz, von wo aus einerseits das Familienforum der Geiseln und andererseits die Anti-Justizreform-Protestbewegung Richtung Verteidigungsministerium strömten und letztlich miteinander verschmolzen.

Misstrauen

Damit vermischten sich auch die Schlagworte und Parolen, welche die recht unterschiedlichen Motive der Demonstranten wiedergaben. Dennoch gibt es zentrale Themen, die Menschen unterschiedlicher Hintergründe und diverser Auffassungen – darunter Wähler von Oppositions- und Koalitionsparteien – vereinen und einen gemeinsamen Nenner finden lassen.

In Zusammenhang mit dem 7. Oktober 2023 sind seit Monaten etwas über 70 Prozent aller befragten Israelis der Ansicht, Premier Netanjahu sollte zurücktreten. Seit einigen Wochen geben nicht weniger als ebenfalls 70 Prozent aller Befragten an, Netanjahu kein Vertrauen mehr zu schenken. Auch 46 Prozent der Wähler der Koalitionsparteien vertrauen dem amtierenden Premier nicht mehr. Dass ein im Ansehen so massiv angeschlagener Premier den Shin Bet-Chef Ronen Bar ausgerechnet jetzt feuert, da der Krieg im Gazastreifen fortgesetzt wird und zudem »Katar-Gate« immer mehr seiner engen Berater in die Bredouille bringt, weckt noch mehr Misstrauen. Über 60 Prozent sorgen sich allein wegen des Vorgehens gegen Ronen Bar um den Charakter der Demokratie.

Mehr noch: 69 Prozent aller Israelis und 54 Prozent der Koalitionswähler wollen, dass der Krieg beendet wird, wenn dadurch alle Geiseln nach Israel zurückkehren. Bis vor Kurzem noch lag der Prozentsatz der Israelis, die zu den Ereignissen des 7. Oktober endlich eine staatliche Untersuchungskommission eingesetzt sehen wollen, mit 67 Prozent bei einer ähnlich hohen Zustimmungsrate. Nachdem die Koalition Anfang des Jahres einen Antrag auf eine solche in Israels Geschichte eigentlich übliche Untersuchungskommission abschmetterte, stieg der Prozentsatz der Israelis, die eine solche staatliche Untersuchungskommission einfordern, auf 83 Prozent an.

Ob nun pro oder contra Justizreform, die umstrittenen Themen zeigen deutlich, dass sich in Israel die Geister nicht mehr nur an der Bibi-Ja-oder-Bibi-Nein-Frage scheiden. Vielmehr scheint sich mehr und mehr zu zeigen, dass die Regierung die Bodenhaftung verloren hat und losgelöst von der Realität regiert. Wie sich das letztlich jedoch auf das Votum der Wähler bei der nächsten Knesset-Wahlen auswirken wird, steht wiederum auf einem anderen Blatt.

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