Das Aussetzen der Justizreform soll den Protesten gegen Israels Regierung den Wind aus den Segeln nehmen. Ob das aufgeht, ist mehr als fraglich.
Israels Premier Benjamin Netanjahu scheint auf bestem Weg, sich in Israel noch unbeliebter zu machen, als er es ohnehin schon war. Seit Jahren kam er in Umfragen nicht so schlecht weg, wie nach den Ereignissen der letzten Woche. Viele kreiden ihm an, dass sein Umgang mit der Krise erneut zeige, dass er zwar im Chefsessel sitze, aber seine national-religiösen Koalitionspartner die Hände am Steuer hätten.
Diese Partner Netanjahus – die 14 Sitze in die Koalition einbringenden Parteien Religiöse Zionisten und Otzmah Yehudit (Jüdische Stärke) –, denen 10% der Wähler ihre Stimme gaben, verbuchen immer mehr Teilerfolge bei ihren Bestrebungen, das Land in eine extremistische Richtung zu lenken, sei es in Sachen Todesstrafe, Wohnungsdurchsuchungen nach illegalen Waffen auch ohne richterliche Anordnung oder eine neue, parallel zur Polizei eingesetzte Nationalgarde. Das schreckt inzwischen sogar die ultraorthodoxen Koalitionspartner auf und lässt sie, obwohl sie hinsichtlich der religiösen Orientierung mit der Rechtsaußenflanke konform gehen, frustriert zurück.
Inmitten dieser Zwickmühle musste Israels Premier auch noch feststellen, dass er seinem Finanzminister Bezalel Smotrich (Religiöse Zionisten) auf den Fersen zu folgen scheint, von dem sich die US-Regierung in aller Deutlichkeit distanziert.
Die Knackpunkte: Galant-Entlassung und Nationalgarde
Der angekündigte Rausschmiss von Verteidigungsminister Yoav Galant (Likud) durch Netanjahu, weil er öffentlich vor sicherheitspolitischen Implikationen der Justizreform gewarnt hatte, wird als denkwürdiges Ereignis in Israels Geschichte eingehen.
Nicht nur die Entlassung selbst wird als ungewöhnlich in Erinnerung bleiben, weil Netanjahu sie zwar telefonisch ausgesprochen hat, es bis dato aber weder einen Entlassungsbrief gibt und der vor die Tür gesetzte Verteidigungsminister deshalb vorerst weiter im Amt bleibt, sondern auch der Umstand, dass der Premier sich seit Tagen nicht entscheiden kann, wer Galant als Verteidigungsminister nachfolgten soll. Jetzt steht sogar die Möglichkeit im Raum, dass Galant trotz seiner einer Entlassung weiter im Amt bleiben könnte, wenn er sich für sein als illoyal gewertetes Verhalten entschuldigt. Der Anschein, mit der Sicherheit des Landes zu spielen und inmitten einer ernsten Krise den Eindruck der Entscheidungsschwäche zu hinterlassen, fügt dem Image Netanjahus als Israels »Mr. Security« Schaden zu.
Das umso mehr, als der Preis, den Netanjahu seinen rechtsextremen Koalitionspartnern zahlen muss, um sie angesichts der Verschiebung der Justizreform und der Aufnahme von Verhandlungen mit der Opposition bei der Stange zu halten, von vielen Israelis als viel zu hoch bewertet wird: Damit die Partei Otzmah Yehudit trotz Justizreform-Dialog in der Koalition bleibt, wird deren Vorsitzender Itamar Ben-Gvir seine gewünschte Nationalgarde erhalten. Sie soll allein ihm unterstehen und parallel zur Polizei agieren.
Ein solches Zugeständnis im Bereich der Sicherheitspolitik an einen ideologischen Fanatiker wie Ben-Gvir lässt bei zahlreichen Bürgern die Alarmglocken läuten.
Verprellte ultraorthodoxe Führung
Ex-Innenminister Arie Deri hat zuletzt mit elf Mandaten ein besseres Wahlergebnis einfahren können, als allgemein erwartet worden war. Im Verlauf der Koalitionsverhandlungen betonte er daraufhin, dass seine Shas-Partei der zweitgrößte – und damit wichtigste – potenzielle Koalitionspartner sei. Während der Verhandlungen geriet der als gemäßigt geltende ultraorthodoxe Politiker mehrmals mit dem Vorsitzenden der Religiösen Zionisten, Bezalel Smotrich, aneinander, dessen sicherheitspolitische Aspirationen Deri äußerst kritisch sieht.
Um Smotrich davon abzuhalten, als Ressortchef ins Verteidigungsministerium einzuziehen, bot Netanjahu ihm den Posten des Finanzministers an, obwohl für dieses prestigevolle Amt längst Deri im Gespräch war. Deri war nicht nur darüber verprellt, sondern auch darüber, dass es dazu aus dem Netanjahu-Büro lediglich hieß, die beiden sollten die Sache unter sich ausmachen. Dass Netanjahu so mit einem Politiker umspringt, der viele Jahre mit ihm durch dick und dünn gegangen ist, kam bei dem Shas-Vorsitzenden nicht gut an.
Als Deri dann auf staatsanwaltschaftliche Anordnung Ende Januar 2023 seine Ministerposten niederlegen musste, brachte der Likud die Idee auf, ihn mit dem Posten des »ersatzweisen Ministerpräsidenten« zu entschädigen. Letztlich sprach ihm Netanjahu jedoch eine Beobachterrolle im Sicherheitskabinett zu, eine Position, die Deri so gar nicht gefiel. Diesen Posten legte er nun vor wenigen Tagen »verbittert, frustriert und besorgt« nieder.
Deri ist wegen des zunehmenden Einflusses von Smotrich und Ben-Gvir in sicherheitspolitischen Angelegenheiten besorgt und macht zudem keinen Hehl daraus, dass er weiterhin Galant als Verteidigungsminister sehen möchte. Zudem stoppte Deri ein auf ihn persönlich zugeschnittenes Gesetz, das die Anordnung der Generalstaatsanwaltschaft aufheben und ihm die Rückkehr in Ministerposten ermöglichen sollte. Niemand kann mehr übersehen, dass Deri zunehmend auf Abstand zu Premier Netanjahu geht.
Nicht viel anders scheint es in den Reihen der zweiten, sieben Mandate innehabenden ultraorthodoxen Partei Vereinigtes Thora-Judentum auszusehen. Zusammen mit den Religiösen Zionisten gilt diese Partei als jener Koalitionspartner, der auf ein theokratisches Israel hinarbeitet.
Doch einer der Hardliner dieser Partei, Moshe Gafni, der mit der neuen Koalition endlich die Stunde gekommen sah, um die von ihm seit Jahren eingebrachten Gesetze einer solchen Stoßrichtung in die Tat umzusetzen, geht inzwischen ebenfalls auf Abstand; nicht zu Netanjahu, aber sehr wohl zu den rechtsnationalen Koalitionspartnern. Gafni sorgte in den letzten Tage dafür, dass eine Botschaft von ihm an Benny Gantz an die Öffentlichkeit gelangt: Der Politiker der liberalen Mitte soll sich mit seiner zwölf Mandate zählenden Partei National Unity der Regierung anschließen, um die extremistische Rechte »auszubalancieren.«
Gantz nimmt wegen der Erfahrung aus der Vergangenheit Abstand davon. Doch gegenwärtig scheint viel wichtiger: Netanjahu hat noch nicht einmal mehr seine ultraorthodoxen Koalitionspartner so sicher in der Tasche, wie er am Wahlabend triumphierend verkündet hatte. Beide ultraorthodoxen Parteien gehen außerdem zunehmend auf Abstand zur Justizreform, was Netanjahu noch mehr Kopfschmerzen bereiten dürfte.
Washington macht richtig Druck
Zu alledem waren aus Übersee ungewöhnliche Töne zu vernehmen. Dass US-Präsident Joe Biden mit deutlichen Worten zu einer innerisraelischen Angelegenheit äußert, ist alles andere denn business as usual.
Frühere Stellungnahmen aus Washington fielen noch verhalten aus und betonten eher das gemeinsame Wertesysteme, das Israel und die USA als Demokratien miteinander verbinde. Doch als sich Smotrich zu den Vorgängen rund um das palästinensische Dorf Huwara äußerte, schlug die US-Administration einen alle diplomatischen Gepflogenheiten außer Kraft setzenden Tonfall an.
Einen Pressesprecher der US-Regierung zu vernehmen, wie er Smotrichs Äußerungen als »unverantwortlich, abstoßend und ekelhaft« bezeichnet, hat genauso eine neue Qualität wie ein US-Botschafter in Israel, der meint, er würde Smotrich auf dem Weg nach Washington am liebsten aus dem Flugzeug werfen. Andere US-Offizielle forderten, Smotrich das Einreisevisum zu verweigern. Deutlicher kann man kaum werden.
Die USA versuchten in weiterer Folge zwar zu beschwichtigen, doch alle wussten, was es bedeutet, dass Netanjahu mit Ablauf seiner ersten drei Monate als Alt-Neu-Premier noch nicht einmal eine Einladung ins Weiße Haus erhalten hat: die entstandene Kluft ist mehr als bemerkenswert. Vordergründig ging es um die Justizreform, doch scheint vor allem mit der Entlassung von Verteidigungsminister Galant der Punkt erreicht worden zu sein, an dem die USA den diplomatischen Tonfall ablegte. Beim Thema Sicherheit und bei der wachsenden Einflussnahme national-religiöser Elemente war Washingtons Absicht, einen klaren Strich zu ziehen, übersehbar.
Das Weiße Haus zeigte sich zunächst erfreut darüber, dass Netanjahu schließlich einlenkte und einen Justizreform-Dialog initiierte, aber das Frohlocken des Premiers, schon bald seinen heißersehnten Fototermin im Weißen Haus zu bekommen, kam zu vorschnell: Für Netanjahu stehe ein Besuchstermin nicht an, so hieß es, momentan stehe ein solcher noch nicht einmal in Aussicht. Von einem Überbrücken der entstandenen Zwistigkeiten kann noch lange nicht gesprochen werden.
Israel quo vadis?
Niemand kann derzeit sagen, ob und wie lange die Koalition halten wird. Eine politische Lösung durch eine Koalitionsumstrukturierung steht nicht in Aussicht. Sehr unwahrscheinlich scheint, dass ganze Parteien aus dem Regierungsbündnis ausscheren und ihm damit die Mandatsmehrheit nehmen werden, auch wenn vielleicht einzelne Politiker die Seiten wechseln könnten.
Zu hoffen bleibt, dass die schwere innenpolitische Krise in Israel nicht noch durch eine jederzeit mögliche Eskalation im Westjordanland, im Gazastreifen, mit der Hisbollah im Libanon oder gar mit dem Iran weiter verschärft wird. Auch in dieser Hinsicht birgt die Inklusion von Extremisten wie Ben-Gvir in die Regierung Risiken, die bei anderen Regierungskonstellationen so nicht gegeben wären.
Die Mehrheit der Israelis wünscht sich mit Sicherheit einen Premier, der in so einer Krisensituation das Wohl des Landes zur Richtschnur seines Handelns macht. Immer mehr – und auch immer mehr Parteikollegen – zweifeln daran, dass es bei Netanjahu in erster Linie noch darum geht.