Die beduinische Großfamilie der al-Ziyadnes erhebt nach dem Tod zweier ihrer von der Hamas verschleppten Angehörigen heftige Vorwürfe gegen die israelische Regierung.
Israels Gesellschaft hält seit über fünfzehn Monaten das Thema der beim Hamas-Massaker vom 7. Oktober 2023 in den Gazastreifen entführten 251 Geiseln in Atem. Im November 2023 war ein Austausch zustande gekommen, bei dem im Gegenzug für die Freilassung von zahlenmäßig sehr viel mehr palästinensischen Häftlingen aus israelischen Gefängnissen hundertfünf nach Gaza verschleppte Zivilisten – mehrheitlich israelische Staatsangehörige – freikamen. Acht Israelis konnten im Laufe der Monate durch Befreiungsaktionen der israelischen Verteidigungsstreitkräfte (IDF) gerettet werden. Die israelische Öffentlichkeit trägt seither unvermindert schwer an der Tatsache, dass noch immer rund hundert Entführte im Gazastreifen sind.
Seit Ende 2023 setzen sich deren Angehörigen mit allen Mitteln für die Freilassung ein. Doch seit Ende August 2024, als der beduinische Israeli Qaid Farhan al-Qadi lebend aus dem Gazastreifen gerettet werden konnte, ist es für Israelis schier unerträglich, dass lediglich zwei Entwicklungen zu verzeichnen sind: Zum einen steigt die Zahl der Geiseln, die für tot erklärt werden, wofür ein Komitee von Experten unterschiedlicher Fachgebiete zuständig ist. Zum anderen brachten IDF-Soldaten seither ausschließlich sterbliche Überreste von rund vierzig Verschleppten zurück.
Von Hoffnung zu Schock
In diesen Tagen kam wegen der unter so guten Vorzeichen wie selten zuvor wiederaufgenommenen Verhandlungen zur Geisel-Freilassung bei vielen Israelis deutlich mehr Zuversicht auf als sonst, so auch bei den fünftausend Angehörigen des beduinisch-muslimischen Stammes der al-Ziyadnes, der nahe Rahat, der größten arabischen Stadt Israels, in einem nichtanerkannten Dorf lebt.
Und das mit gutem Grund, denn auf der Liste der Namen von 34 Geiseln, welche die Hamas für eine Freilassung vorlegte, stand der Name von Youssef al-Ziyadne. Seine Listung verhieß, dass er lebt, was seine Angehörigen angesichts der Tatsache, dass Youssef Diabetiker ist, als eine Art Wunder priesen.
Doch dann kam unvermittelt die niederschmetternde Nachricht, dass Soldaten der IDF die Leiche des 53-jährigen in einem Tunnel in der Gegend von Rafa geborgen haben. Schon aus den ersten offiziellen Mitteilungen ging hervor, dass der Ehemann von zwei Frau tot aus dem Leben geschieden war.
Der Schrecken wuchs, als bekannt wurde, dass in unmittelbarer Nähe Leichen von Hamas-Terroristen gefunden worden waren, aber trotzdem keinerlei Angaben zur Todesursache dieser israelischen Geisel gemacht wurden. Daher kam schnell die Vermutung auf, dass eine IDF-Operation den Tod von Youssef und seinen Hamas-Bewachern verursacht haben könnte.
Tatsächlich führten die israelischen Streitkräfte in der Vergangenheit in dieser Gegend Einsätze durch. Zudem hatte die IDF-Einheit für Vermisste die Bergung von Youssef al-Ziyadne nicht als eine Suche nach einer lebenden Geisel, sondern einer Leiche in Auftrag gegeben, also muss schon vor der Entdeckung sterblicher Überreste klar gewesen sein, dass die durch die Hamas-Liste geschürte Hoffnung nicht gerechtfertigt war.
Blankes Entsetzen
Infolge der Hinweise am Fundort kamen »ernsthafte Bedenken bezüglich des Schicksals von Hamza«, dem 23-jährigen Sohn von Youssef, auf. Der zweifache Vater hatte zusammen mit seinem Vater in der Milchwirtschaft des Kibbuz Holit gearbeitet. Er wurde am 7. Oktober 2023 zusammen mit Youssef und zwei seiner Geschwister entführt. Ein Video belegt, dass die Hamas die vier arabisch-israelischen Bürger lebend in den Gazastreifen verschleppte. Der 18-jährige Bilal und seine siebzehn Jahre alte Schwester Aisha kehrten nach fast fünfzig Tagen Geiselhaft im Zuge des Gefangenenaustausches im November 2023 nach Israel zurück.
Die Oberhäupter des Stammes al-Ziyadne baten Israels Behörden vor wenigen Tagen um eine nochmalige Überprüfung bezüglich der Identifizierung der Leiche von Youssef al-Ziyadne durch das Forensische Institut Abu Kabir, obwohl Israels Verteidigungsminister Yisrael Katz den Tod von Youssef als unumstößliches Faktum in der Öffentlichkeit bestätigt hatte. Mehr noch: Katz posaunte die Mitteilung aus, noch bevor die Hinterbliebenen informiert worden waren und erklärte Youssefs Sohn Hamza ebenfalls für tot, obwohl die Leiche noch gar nicht identifiziert war.
Viele bezeichneten diesen Vorgang als einen weiteren Skandal, den sich die israelische Regierung in Sachen Geiseldrama leistet.
Erst der Vater, dann der Sohn
Weder der Stamm der al-Ziyadnes noch die Vereinigungen der rund 300.000 Angehörigen, welche die beduinisch-muslimische Gesellschaft allein in Israels Negev-Wüste zählt, setzten sich öffentlich für die Freilassung der Geiseln ein; die al-Ziyadnes taten dies im Stillen. Nur selten machten sie international Schlagzeilen, wie im März 2024, als sie den palästinensischen Gesandten bei den Vereinten Nationen öffentlich angriffen.
Weil sie im Gegensatz zu vielen anderen Betroffenen keine lautstarke Kritik an der Regierung geübt hatten, war für sie umso schlimmer, dass kein Vertreter der Koalition auf der Beerdigung von Youssef erschien. Als Innenminister Moshe Arbel im Trauerzelt eine Beileidsrede halten wollte, wurde er gebeten zu gehen.
Als die Überreste des jungen Mannes keine 24 Stunden später an der Seite Youssefs beigesetzt wurden – auf einem Friedhof, auf dem der ebenfalls am 7. Oktober in Zikim ermordete 29-jährige Abdul al-Ziyadne zur letzten Ruhe gebettet ist –, war die Familie untröstlich über ihre Verluste, fand aber langsam wieder Worte, um mitzuteilen, was sie von den Entwicklungen halte.
Während der im August 2024 lebend gerettete Farhan al-Qadi in seiner Nachrede auf seinen Nachbarn und Kindheitsfreund Youssef al-Ziyadne meinte, »dass er ein solches Schicksal nicht verdient hat«, ließ der Bürgermeister von Rahat, Talal al-Krenawi, die israelischen Journalisten wissen, dass die Familie al-Ziyadne Antworten auf Fragen fordert, vor allem, wie es möglich sein konnte, dass Youssef für eine Freilassung gelistet, dann aber seine Leiche entdeckt worden war.
Al-Krenawi berichtete auch, dass die traumatisierten zwei Kinder von Youssef al-Ziyadne, auch sie ehemalige Geiseln, seit den Neuigkeiten in einer katastrophalen Verfassung sind, »wie wir alle eigentlich: Wir alle erleiden gerade zusätzliche Traumata.«
Bei der trauernden beduinischen Großfamilie fanden sich viele Israelis jedweder Couleur ein, um Beileid und Solidarität zu bekunden. Dass der ehemalige israelische Staatspräsident Reuven Rivlin zu Hamzas Beerdigung erschien, wurde ebenso als warmherzige Geste wahrgenommen wie die Worte des amtierenden Staatspräsidenten Issac Herzog, der vor etlichen Monaten überdies dafür gesorgt hatte, dass auch Angehörige der al-Ziyadnes, die am 7. Oktober 2023 unter Lebensgefahr anderen Menschen das Leben retteten, vom Staat Israel für ihre Verdienste geehrt wurden.
Schwere Anschuldigungen
Schon kurz nach den Begräbnissen brachen die Emotionen der Trauernden heraus. Während Youssefs Bruder Ali schon früher ausgeführt hatte, dass der Hamas-Überfall den Geboten des Islams zuwidergelaufen und die Ungewissheit über das Schicksal seiner Angehörigen genauso unerträglich sei wie der Gedanke, dass »die Regierung die Geiseln vergessen hat«, wurde ein anderer Verwandter noch deutlicher.
Odeh al-Ziadne, der seit zwölf Jahren im Kibbuz Kfar Aza die Geflügelzucht betreut, warf der Regierung nicht nur im Namen der beduinischen Gesellschaft, sondern aller Einwohner der Gaza-Grenzregion, die Überlebende des Hamas-Massakers sind, unumwunden vor, sie hätte kein Interesse an einer Rückkehr der Entführten: »Das Problem ist, dass die Politiker der Regierung schon vor langer Zeit beschlossen haben, dass sie die Geiseln nicht lebend zurückhaben wollen. Wisst Ihr warum? Sie wollen keine Zeugen haben, die vor einer staatlichen Untersuchungskommission, falls eine solche jemals einberufen werden sollte, aussagen können.«
Das sind heftige Vorwürfe, die mittlerweile vielen Israelis durch den Kopf gehen, doch nur wenige haben sie bislang so glasklar auf den Punkt gebracht und laut ausgesprochen.