Die Hamburger Physiotherapeutin Silke Opfer reiste Anfang Oktober, trotz des Krieges und entgegen aller Reisewarnungen, gemeinsam mit ihrer 84-jährigen Mutter für zwei Wochen nach Israel. Dort erlebten sie den Raketenangriff des Iran. Mena-Watch sprach mit ihr über ihre Eindrücke.
Stefan Frank (SF): Es ist ungewöhnlich, als nichtjüdische Deutsche in dieser Zeit nach Israel zu reisen. Was war Ihr Motiv?
Silke Opfer (SO): Ich war mit meiner Mutter dort. Seit unserer letzten gemeinsamen Reise nach Israel im Jahr 2017 wollten wir ein zweites Mal dorthin, weil wir beide Israel mögen und zu Israel stehen. Im Winter fragte meine Mutter mich, ob wir das machen wollen. Trotz der Lage – oder vielleicht gerade deshalb. Da habe ich sofort ja gesagt. Wir haben überlegt, ob es gefährlich ist. Wir haben es nicht bereut, es war eine ganz besondere und fantastische Erfahrung.
SF: Welche Eindrücke waren Ihre ersten am Flughafen Tel Aviv?
SO: Der Flughafen, wo auf Plakaten an die Geiseln erinnert wird, war sehr leer. Überall in Israel sahen wir kaum Touristen. Wir sind in einer sehr vollen Maschine von Bukarest nach Tel Aviv geflogen und haben erst bei der Ankunft festgestellt, dass fast alle Mitreisenden Hebräisch sprachen. Am Flughafen waren wir und eine religiös-jüdische Familie die Einzigen, die durch die Fremdpasskontrolle gingen. Dort, wie überall in Israel, wurden wir sehr freundlich empfangen. Man hatte das Gefühl, die Beamten hätten sich auf die einzigen Fremden, die aus dem Flugzeug stiegen, vorbereitet, sie haben uns sofort durchgewinkt. Die Freundlichkeit ist uns überall in Israel begegnet.
Persönliche Begegnungen
SF: Was haben Sie in Israel gemacht?
SO: Wir waren in der ersten Woche in Jerusalem, in der zweiten Woche in Tel Aviv und sind von dort aus einen Tag nach Haifa gefahren. Wir haben überall Menschen getroffen, mit denen wir ausgiebige Gespräche führten. Das waren Leute, die wir etwa nach dem Weg gefragt haben, oder aber die uns angesprochen haben. Wenn sie uns fragten, was wir in Israel machen und wir erzählten, wie sehr wir unseren Aufenthalt genießen, kamen wir sehr leicht ins Gespräch.
SF: Sprachen Sie dabei auch über die politische Lage?
SO: Ja. Viele haben uns etwa nach der Tötung von Hisbollah-Chef Nasrallah und den anderen Schlägen gegen die Hisbollah erzählt, dass sie erstmals seit langer Zeit wieder Hoffnung haben. Die Menschen, die wir trafen, waren alle sehr positiv zum Leben eingestellt. Wir waren an Rosh Hashanah dort und feierten mit vielen Kindern an der Klagemauer.
Gleichzeitig haben viele Israelis Angst um ihr Land. Sie wissen nicht, was passiert, wenn Israel diesen Krieg nicht vollständig gewinnt. Die Israelis haben auch ein ganz besonderes Verhältnis zu den Soldaten. Die jungen Soldatinnen und Soldaten wissen, was sie verteidigen, das Land, in das ihre Väter und Großväter nach dem Holocaust gekommen sind. Wir haben auch viele getroffen, die aus den arabischen Staaten vertrieben worden sind. Die wissen, dass sie etwas verteidigen, das schon mehrfach verteidigt werden musste. Es ist nicht Israels erster Krieg, aber der heftigste. Diese Bedrohung auf der einen Seite und die Lust am Leben auf der anderen, das spürt man in jedem Gespräch.
SF: Ist die Bevölkerung so gespalten, wie man immer wieder hört?
SO: In den Gesprächen fiel mir auf, dass sehr viele derzeit hinter der Regierung stehen. Wir haben mit sehr unterschiedlichen Leuten geredet, auch mit solchen, die sagten, dass sie ›nie Bibi-Fans‹, sondern eher Linke gewesen seien. Einige waren zum Beispiel gegen die Justizreform. Sie fanden aber doch, dass Netanjahu die Sache im Krieg gut mache. Ich habe auch Leute sagen hören, sie könnten sich im Moment nicht vorstellen, dass es ein anderer besser machen würde.
Das war natürlich nicht repräsentativ. Ich habe keine Umfrage gemacht. Wir sind aber mit etlichen Menschen lange ins Gespräch gekommen. Alle hatten die gleiche Tendenz. Einige sagten: ›Wir nehmen viel zu viel Rücksicht auf die Weltöffentlichkeit, die hasst uns sowieso.‹ Die sind über das, was in Europa und Amerika gesagt wird, bestens informiert. Viele sind dafür, im Gazastreifen noch härter vorzugehen, weil sie sagen, dann würden weniger Soldaten sterben. Es sterben zu viele Soldaten und das liegt unter anderem daran, dass man zu viel Rücksicht nimmt auf die Gegenseite und die Meinung der Weltöffentlichkeit.
SF: Wie haben Sie das Alltagsleben erlebt?
SO: Auf der einen Seite ist es ein normaler Alltag. Es wird gegessen, es wird gefeiert. Rosh Hashanah ist natürlich anders als gewöhnlich. Die Leute gehen arbeiten, leben ihr Leben weiter. Das sagen sie auch alle. Es ist natürlich auch wichtig, das Leben am Laufen zu halten. Dass der Alltag weitergeht, ist etwas Besonderes. Ich habe es aber auch so empfunden, dass die Leute besonders freundlich zueinander sind. Man will dieser Situation trotzen. Die Normalität wird als etwas Besonderes zelebriert.
Iranischer Angriff
SF: Sie waren auch in jener Nacht in Israel, als das iranische Ayatollah-Regime mit Raketen und Drohnen angriff. Wie war das?
SO: Das war ein Schock. Es war unser zweiter Tag in Israel, als wir in Jerusalem angekommen waren. Wir sind in die Altstadt gegangen, dort wollten wir in das Restaurant des Österreichischen Hospiz. Irgendwann hörte ich Sirenen. Wir schauten einander an und fragten uns: Sind das Krankenhaussirenen oder Kriegssirenen? Die Altstadt war total leer. Wir waren im arabischen Viertel. Die Leute, die noch auf der Straße waren, waren hektisch. Irgendwann haben wir die Raketen am Himmel gesehen. Wir gingen in ein arabisches Hotel, dort brachte man uns ins Treppenhaus und gab uns eine Flasche Wasser. Da haben wir ungefähr zwanzig Minuten gesessen.
SF: Wie hat sich das angefühlt?
SO: Es war sehr irreal. Wir kennen keinen Krieg. Ich überhaupt nicht und meine Mutter nur von ganz früher. Als wir etwas über den Iran sagten, sagten uns die Leute, sie wollten ›keine Politik‹. Sie hatten vorher auch vom ›Krieg in Palästina‹ gesprochen. Das waren also arabische Staatsbürger, die Israel nicht unbedingt freundlich gesonnen waren. Aber sie waren zu uns freundlich und haben uns Sicherheit geboten.
SF: Hatten Sie Angst?
SO: Um uns selbst hatten wir keine Angst. Aber Angst um das Land. Wir wussten dann schnell aus den Nachrichten, dass es iranische Raketen waren. Irgendwann sagte man uns, wir könnten gehen. Wir wollten nun zurück in unser Hotel. Da kam eine Warnung auf mein Handy. Wir rannten zu einem Taxi und ließen uns zum Hotel fahren. Der Taxifahrer war sehr ungeduldig. Warum müsse man jetzt dort sein, fragte er. Das ist uns sonst nicht passiert. Im Hotel ließen wir uns den Schutzraum in der Nähe zeigen. Wir sahen dann, dass zahlreiche Leute schon wieder im Pizza Hut gegenüber von unserem Hotel saßen und aßen. Das taten wir dann auch und haben uns erst einmal beruhigt.
SF: Wie waren die folgende Nacht und der folgende Tag?
SO: Wir sind ins Bett gegangen und haben überlegt: Kommt ein weiterer Angriff? Der kam nicht. Am nächsten Tag haben wir ein normales Programm gemacht – so normal, wie es eben unter den Umständen sein kann. Ich sagte einmal zu einem Israeli: ›Ich bin das nicht gewöhnt.‹ Der Mann sagte mir daraufhin: ›Daran, dass dein Land angegriffen wird, kann man sich nicht gewöhnen.‹ Viele machen sich auch Sorgen, was das mit ihren Kindern macht. Wir haben uns immer beschützt gefühlt.
Land und Leute
SF: Wie war Ihr Eindruck von dem Land?
SO: Uns ist aufgefallen, wie gut die Infrastruktur funktioniert. Wir sind viel Bus und Bahn gefahren. Nie gab es eine Verspätung. Alles ist sauber. Der Strand ist aufgeräumt. Der Hotelservice ist gut und freundlich.
Vieles an der Reise hat mich berührt. Besonders, als wir im Zug nach Haifa saßen. Da saßen wir mit vielen jungen Soldaten, die auf dem Weg in den Libanon waren. Da waren wir die einzigen Zivilisten. Alle waren sehr ruhig und ernst. Sie haben sich auf sich selbst konzentriert, mit der Familie telefoniert, gelesen, manche haben gebetet. Manche redeten miteinander, aber sehr leise. Wir haben allen alles Gute gewünscht. Ich hoffe, dass sie alle wieder nach Hause zurückkehren werden. Aber man weiß, dass es nicht so ist.
In Jerusalem haben wir uns lange mit einem älteren Ehepaar unterhalten. Der Mann war Architekt und erzählte, wie er in den 1980er Jahren im Westjordanland ›Siedlerhäuser‹ – den Begriff hat er selbst benutzt – gebaut habe. Täglich seien dort Juden angegriffen und bespuckt und manchmal auch ermordet worden.
Was uns aufgefallen ist, dass die sehr religiösen Juden, also die mit Hüten und Schläfenlocken, sehr in die Gesellschaft integriert sind. Wir sahen Ultraorthodoxe, die an Rosh Hashanah mit Soldaten zusammen an der Straßenecke gebetet haben. Ich habe das als etwas Besonderes empfunden. Es gibt einen großen Zusammenhalt.
Wir haben mit einer jungen Frau gesprochen, die uns beim Frühstück bedient hat. Da wir fast die einzigen Gäste im Hotel waren, hatte das Personal viel Zeit. Sie kam aus dem Norden Israels, aus einem Ort nahe der libanesischen Grenze, der Region, die gerade noch diesseits der Evakuierungslinie liegt. Sie schwärmte davon, wie schön es dort ist und dass sie hofft, dass die Menschen bald in die evakuierten Gebiete zurückkehren können. Das hat mich beeindruckt.
Dazu, mit wie viel Wissen die Menschen reden: über die Geschichte ihres Landes, den Holocaust und auch über Dinge, die hier in Deutschland kaum bekannt sind wie etwa die Vertreibung der Juden aus der arabischen Welt. Wir haben mit vielen geredet, die Sepharden sind und Vorfahren aus Marokko oder dem Jemen haben. Ein Mann sagte mir, Israel werde den Krieg gewinnen, er mache sich aber Sorgen um Europa und die Ausbreitung des Islams.
Reise empfehlenswert?
SF: Gab es Terroranschläge während Ihres Aufenthalts?
SO: Es gab, während wir dort waren, einen Terroranschlag in Jaffa, bei dem sieben Menschen getötet und acht verletzt wurden.
SF: Würden Sie eine Reise nach Israel in der derzeitigen Situation empfehlen?
SO: Ja. Man kann sehr gut nach Israel reisen, gerade jetzt. Es ist nicht gefährlicher als andere Urlaubsregionen. Ich kann empfehlen, nach Israel zu reisen, weil es wunderschön ist, weil die Menschen sympathisch, gebildet und klug sind. Aber auch, weil es schön für das Land ist, wenn dorthin Touristen kommen. Die Tourismusbranche liegt im Moment natürlich ziemlich brach. Die Leute freuen sich über jeden, der kommt und mit ein bisschen Herz und Verstand durch die Gegend läuft.
Man kommt wirklich leicht ins Gespräch. Am 7. Oktober waren wir in Tel Aviv. Da hatten wir uns nichts vorgenommen und ließen uns durch die Stadt treiben. Wir waren lange am Dizengoff-Brunnen, der seit dem Oktober im letzten Jahr ein Gedenkort ist für alle. Da sind Fotos von Geiseln, Fotos von Ermordeten, vom Nova-Festival und den Kibbuzim, auch Fotos von Soldaten. Der Brunnen ist voll davon.
Da waren viele Leute, die Kerzen angezündet haben. Wir haben uns lange mit den Leuten unterhalten. Wir empfanden es als Ehre, dabei sein zu können und an diesem Tag mit ihnen zusammen zu erinnern. Auch wenn es nicht unsere Familien und Nachbarn sind, die ermordet wurden. Und wir ziehen auch nicht in den Krieg. Aber wir haben mit ihnen dagestanden und der Opfer gedacht.
SF: Waren der Hin- und Rückflug problemlos?
SO: Das Reisen ist nicht leicht. Flüge wurden kurzfristig abgesagt. Ich würde empfehlen, in zwei Etappen zu reisen: zuerst nach Larnaka auf Zypern. Das kann man immer machen, ist auch meist nicht so teuer. Von Larnaka kann man dann einen Flug nach Tel Aviv buchen. Das ist meine praktische Empfehlung für alle, die nach Israel reisen. Ich wünsche es Israel, dass das viele machen, aber auch denen, die eine solche Reise für sich möglich machen.