Die neue Regelung für die Bestellung der Höchstrichter in Israel gilt nicht sofort, sondern erst nach den nächsten Wahlen.
Das Jahr 2023 war für Israel unselig und desaströs. Bevor der barbarische Angriff der Hamas am 7. Oktober schlagartig andere Prioritäten setzte, hatten die Israelis neun Monate lang erbittert über »die Justizreform« gestritten, die von ihren Gegnern als »der Justizputsch« bezeichnet wurde. Das Land war durch eine innenpolitische Dauerkrise gelähmt, mit gefährlichen Auswirkungen auf die Wirtschaft und die Verteidigungsbereitschaft.
Jetzt hat das Parlament ein Gesetz beschlossen, das die Prozedur für die Ernennung von Richtern neu regelt und als Element jener geplanten Justizreform betrachtet werden kann. Bei vielen Menschen in Israel löst das die Befürchtung aus, dass die Rechtsregierung unter Benjamin Netanjahu einen neuen Anlauf gestartet hat, um in ihrer verbleibenden Amtszeit noch möglichst viele ihrer Träume zu verwirklichen – nämlich den Justizapparat zu schwächen und so der Regierung mehr Handlungsfreiheit, also mehr Macht zu verschaffen.
Auch in diesem Zusammenhang hört man wieder die Schreckensparole vom »Ende der Demokratie«. Schon allein deswegen war das Timing für dieses Gesetz denkbar schlecht. Israel steht noch im Krieg und hat dringendere Probleme, zum Beispiel die im Gazastreifen festgehaltenen Geiseln. Es war klar, dass das Gesetz die Risse in der Gesellschaft wieder vertiefen und Massenproteste auslösen würde. Nichts, das auch nur im Entferntesten mit der Justizreform zu tun hat, hätte jetzt angefasst werden dürfen.
Erst nach den Wahlen
Trotzdem ist es notwendig, genau zu verstehen, was da eigentlich beschlossen wurde, und es einzuordnen. Das Wichtigste zuerst: Die neue Regelung für die Ernennung der Richter, ob sie nun gut oder schlecht ist, gilt nicht sofort, sondern erst nach den nächsten Wahlen. Der Vorwurf, die neue Regelung habe den Zweck, die Macht der Rechten auszuweiten und einzuzementieren, steht also auf wackeligen Beinen. Wenn die neue Regelung wirklich die Regierung auf Kosten der Justiz begünstigt, kommt sie erst der nächsten Regierung zugute – und diese wird, zumindest laut aktuellen Umfragen, keine Rechtsregierung sein.
In der Substanz geht es um das Komitee, das die Richter wählt. Nach der alten (noch geltenden) Regelung hat dieses Komitee neun Mitglieder: vier Politiker (einer davon von der Opposition), zwei Vertreter der Rechtsanwaltskammer und drei amtierende Höchstrichter. Um gewählt zu werden, benötigt ein neuer Höchstrichter sieben Ja-Stimmen, also die Stimme zumindest eines der amtierenden Höchstrichter.
Auch nach der neuen Regelung hat das Komitee neun Mitglieder. Die zwei Vertreter der Rechtsanwaltskammer werden dann durch zwei »Vertreter der Öffentlichkeit« ersetzt, wobei einer durch die Regierung und der andere durch die Opposition nominiert wird. Um gewählt zu werden, braucht ein neuer Höchstrichter nur noch fünf Ja-Stimmen, er kann also auch ohne die Stimmen der amtierenden Höchstrichter gewählt werden, braucht aber zumindest je eine Stimme eines Regierungs- und eines Oppositionsvertreters.
Falsches Argument
Immer wieder hört man nun das Argument, durch die neue Regelung werde das Komitee »politisiert«, was eine »Gefahr für die Demokratie« sei, denn in einer Demokratie sei es undenkbar, dass die Höchstrichter von Politikern ernannt würden. Doch dieses Argument ist schlicht falsch. So werden in Österreich die Mitglieder des Verfassungsgerichtshofs von Bundesregierung, Nationalrat und Bundesrat vorgeschlagen und vom Bundespräsidenten ernannt. In Deutschland werden die Mitglieder des Bundesverfassungsgerichts durch Bundestag und Bundesrat gewählt. In der Schweiz, in Schweden, in Frankreich ist es ähnlich. In den USA werden die Mitglieder des Supreme Court vom Präsidenten ausgesucht und vom Senat bestätigt.
Natürlich hinken alle Vergleiche, weil jedes Land ein Fall für sich ist und jeweils spezifische Kontrollmechanismen hat, etwa in Form einer zweiten Kammer. Aber grundsätzlich werden in vielen vorbildlichen Demokratien die Höchstrichter seit jeher und mit größter Selbstverständlichkeit durch die Politik eingesetzt.
Wie sieht nun die Zwischenbilanz der »Justizreform« aus? Am 4. Januar 2023 hatte Yariv Levin, Justizminister der damals neuen rechts-religiösen Koalition, ein umfangreiches Paket von Gesetzen vorgelegt, die den Justizapparat in vielen Bereichen verändern sollten. Kein einziges dieser Gesetze ist bisher rechtskräftig geworden; Levin ist mit seinen Plänen also vorläufig gescheitert.
Die nun beschlossene neue Methode der Richterbestellung ist weit von dem entfernt, was Levin ursprünglich angestrebt hat – ein vertretbarer Kompromiss, zumal die Opposition ein Vetorecht erhält und die Änderung, wie schon betont, ohnehin erst nach den nächsten Wahlen eintritt. Kein Zweifel besteht daran, dass Levin seine Justizreform wieder vorantreiben will. Eine offene Frage ist, ob er das auch kann.