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Streifzug durch Israels bewegte Jahrzehnte (Teil 2): Von 1998 bis heute

Demonstranten gegen Justizreform in Israel gedenken der gefallenen Soldaten und Terroropfer
Demonstranten gegen Justizreform in Israel gedenken der gefallenen Soldaten und Terroropfer (© Imago Images / ZUMA Wire)

Heute begeht Israel sein 75-jähriges Bestehen. Im achten Jahrzehnt seiner Existenz ist Israel zwar gespalten, aber zugleich auch zu einer lebendigen und wachen Demokratie herangewachsen.

Von 1998 bis 2008

Auch der Übergang zum sechsten Jahrzehnt bis zum Jahr 2008 war turbulent. Vor den Unabhängigkeitsfeierlichkeiten 1998 – immerhin Israels 50. Jahrestag – kam es zum Eklat, weil ultraorthodoxe Vertreter eine züchtigere Bekleidung der vor der ganzen Nation auftretenden Tanzgruppe Bat Sheva forderten. Nur wenige Tage später, nachdem im Namen der Inklusion der Strengreligiösen ingelenkt worden war, gewann die transsexuelle Künstlerin Dana International den Eurovision Song Contest. 

Das Jahr 2000 brachte den israelischen Rückzug aus der Sicherheitszone im Südlibanon und im Herbst die zweite Intifada. Diese Welle des Terrors – und vor allem der Selbstmordanschläge – forderte der Gesellschaft viel Widerstandskraft ab. Und obwohl alle zudem die wirtschaftlichen Folgen der Intifada spürten, brannten sich zwei andere Ereignisse ins kollektive Gedächtnis ein: der zweite Libanon-Krieg, der Israels Zivilisten im Jahr 2006 einen Raketenhagel der vom Iran gestützten Hisbollah brachte, und der von Ministerpräsident Ariel Sharon ein Jahr zuvor umgesetzte Rückzug aus dem Gazastreifen. 

Dass Israel nicht nur seine militärischen Kräfte abzog, sondern zudem die zivilen Siedlungen räumte, deren 8.000 Einwohner ihr Zuhause mehrheitlich nicht freiwillig aufgaben, stellte erneut Weichen. Sogar Befürwortern des Rückzugs wie Shimon Peres, der zwei Jahre später als Staatspräsident meinte, inzwischen anders über diesen Schritt zu denken, wurde klar, dass »Land gegen Frieden« nicht zwangsläufig Ruhe bringt

Schon vor dem Rückzug hatte der palästinensische Raketenbeschuss auf israelische Zivilisten in Grenznähe zum Gazastreifen eingesetzt. Nach Israels Rückzug nahm der Raketenbeschuss zu, nur um erst recht ab dem Sommer 2007 anzuschwellen, als die Hamas mit Waffengewalt die Macht im Gazastreifen an sich riss.

Von 2008 bis 2018

Während zu Beginn des siebten Jahrzehnts die Welt von einer Wirtschaftskrise erschüttert wurde, bewies Israel nicht nur seine ökonomische Belastbarkeit, sondern stieg endgültig zur Hightech-Spitzenmacht auf, auch in damals noch recht neuen Bereichen wie Cybersicherheit, Bio- und Nanotechnologie. Israel machte sich einen Namen als Ideen- und Innovationsschmiede und als eines der fortschrittlichsten Länder der Welt, das im Jahr 2010 stolz auf seine Aufnahme in den Klub der OECD-Länder blickte. 

Israel stellte in diesem Jahrzehnt zudem erneut unter Beweis, dass es der Menschheit mit vielen Innovationen Gutes bringt, führte der Welt aber zugleich vor Augen, dass das Unmögliche nicht nur möglich ist, sondern sogar zur Erfolgsgeschichte werden kann. Das Land, das sechs Jahrzehnte zuvor feindliche Streitkräfte mit selbstgebastelten Molotowcocktails ins Hintertreffen brachte, entwickelte das Iron Dome (»Eisenkuppel«) genannte Raketenabwehrsystem, das zielungenaue Kurzstreckenraketen noch während des Anflugs unschädlich macht. Auch Länder, deren Experten eine solche Innovation für utopisch hielten, klopfen seitdem an Israels Tür, um diese wie auch andere Verteidigungstechnologien zum Schutz der eigenen Bevölkerung zu erwerben. 

Israel ist ein junges, dynamisches und hochgradig gebildetes Land, dessen Lebensfreude der Bevölkerung dafür sorgt, dass es zu den glücklichsten Nationen der Welt gehört. Angesichts von großen Herausforderungen wie unaufhörlichen An- und Übergriffen mit Schusswaffen und Sprengsätzen, Messern, Beilen, Äxten und Fahrzeugen, in Anbetracht von Armut, Wohnungsnot und hohen Lebenserhaltungskosten bei mäßigen Gehältern umso erstaunlicher. Bemerkenswert ist dies erst recht, da Israelis seit zwei Jahrzehnten mit den Vernichtungsdrohungen des radikal-islamischen Ayatollah-Regimes im Iran leben und seither die massiv vorangetriebenen atomaren Bestrebungen dieses Regimes eine präzedenzlose Bedrohung darstellen. 

Doch in diesem siebten Jahrzehnt trat noch mehr Bedenkliches immer deutlicher zutage: Auf der internationalen Bühne nahm die Dämonisierung Israels neue Dimensionen an. Dazu trugen unter anderem die immer aggressiveren Kampagnen der BDS-Bewegung bei, die im 21. Jahrhundert überdies geschickt antisemitische Motive in alt-neuen Gewändern propagieren.

Von 2018 bis heute

Seit Vollendung des siebten Jahrzehnts sind fünf Jahre verstrichen. Wenn für die Jahrzehnte zuvor die Rede von ›turbulent‹ war, so ist es dennoch selten an derart vielen Fronten so turbulent wie in den vergangenen Jahren zugegangen: Obwohl es dem Land vergönnt war, im Zuge der Abraham-Abkommen mit weiteren arabischen Staaten friedliche Beziehungen aufzubauen, muss es im Namen seiner Sicherheit immer umfassender jenseits der eigenen Grenzen agieren. Dazu gehören nicht nur die zum Selbstschutz ausgeführten Luftangriffe in Syrien, welche die iranische Präsenz vor der eigenen Haustür in die Schranken zu verweisen versuchen, sondern auch Aktionen des legendären Auslandsgeheimdienstes Mossad, von denen die Welt selten so viel erfährt wie 2018 im Zuge der Entwendung des iranischen Atomarchivs.

Doch auch innerisraelisch geht es hoch her: Zwischen 2019 und 2022 ging die Bevölkerung fünf Mal zur Parlamentswahl. Erst die bislang letzte Wahl im November 2022 brachte eine deutliche parlamentarische Mehrheit gleichgesinnter Parteien hervor, was nicht heißt, dass Premier Benjamin Netanjahu es einfach hatte, eine Koalition zusammenzustellen. 

Am Vorabend des 75. Geburtstags des jüdischen Staates blickt das Land auf düstere Statistiken: Satte 60 Prozent der Bürger sehen sich nicht von der gegenwärtig regierenden Koalition repräsentiert. In diesem Jahr wollen 40 Prozent aller Israelis keine Politiker auf den Veranstaltungen zum Gedenktag für gefallene Soldaten und Terroropfer (Jom haZikaron) sehen, wenn keineswegs nur jüdische Familien auf die Militärfriedhöfe gehen, sondern auch Drusen, Muslime und Christen Angehörige betrauern. 

Genauso viele Israelis glauben, dass die zentrale Veranstaltung zu Beginn des Unabhängigkeitstags (Jom haAtzmaut) durch politisch motivierte Eingriffe in die Zeremonie Schaden nimmt, und Zehntausende Israelis wollen an diesem Tag nicht ausgelassen feiern, sondern, getrieben von Sorgen und Befürchtungen, demonstrieren gehen. 

Man kann mit Leichtigkeit erahnen: Israel steckt in einem weitaus größeren Schlamassel als nur den Fragen »Bibi ja oder nein« oder der Justizreform. Dass es um wesentlich mehr geht als um die Definition der Attribute demokratisch und jüdisch, fördert beispielsweise die von den ultraorthodoxen Parteien massiv vorangetriebene Freistellung ihrer Wählerschaft vom Armeedienst zutage; ein thematischer Dauerbrenner, der aufgrund der Koalitionskonstellationen zum aktuellen Zankapfel zu avancieren scheint.

Ausblick in die Zukunft

Nur im Jahr 2011 sah das Land ähnlich massive Bürgerproteste wie in den Wochen seit Beginn des Jahres 2023. Den damaligen Protesten für soziale Gerechtigkeit bereiteten nach einigen Wochen wenige Raketen aus dem Gazastreifen ein Ende; wieder einmal ging Israels Sicherheit vor. Dieses Jahr kam es im Monat der israelischen Unabhängigkeitsfeierlichkeiten zum Beschuss des Landes mit Raketen aus dem Gazastreifen, dem Libanon und Syrien. Ein blutiger Terroranschlag jagt den anderen.

Doch dieses Mal wollen lange Zeit an den Rand gedrängte Themen wie die ungleiche Verteilung von Bürgerpflichten unter anderem hinsichtlich des Armee- und sozialen Ersatzdienstes und des Beitrags zur Produktivität und somit zum Steueraufkommen ebenso wenig von der Tagesordnung der jüdischen Gesellschaft verschwinden wie die Proteste pro und contra der Veränderungen im Justizwesen

Israel, das seit heute auf seinen 80. Geburtstag zusteuert, den zwei andere souveräne jüdische Entitäten in antiken Zeiten, wie Staatspräsident Yitzhak Herzog in einer seiner mahnenden Reden anmerkte, nicht erlebten, weil sie zuvor vor allem wegen interner Konflikte kollabierten, stellt gerade unter Beweis, dass Extremismus auch in diesem Land salonfähig wurde, aber die Gesellschaft nicht für Totalitarismus anfällig ist. Mit anderen Worten: So sehr die Spaltung der Bevölkerung auf allen Seiten Sorgen bereitet, so sehr ist auch bewiesen, dass Israel im achten Jahrzehnt seines Bestehens auf Bürginnen und Bürger blickt, die sich aktiv einbringen, dass die Gesellschaft zu einer lebendigen und wachen Demokratie herangewachsen ist, und dass der jüdische Staat trotz aller interner Zerwürfnisse seinen Feinden weiterhin die Stirn bieten wird.

Teil 1 finden Sie hier.

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