Nach fast zwei Jahren Krieg muss Israel wegen strategischer Fehler und westlicher Einmischung zwischen schlechten Optionen wählen.
Was vermutlich am Donnerstag im israelischen Sicherheitskabinett beschlossen werden wird, wissen wir im Moment noch nicht. Angekündigt wurde lediglich, dass über die nächsten Schritte im Krieg gegen die Hamas entschieden werde. Aus dem Umfeld von Benjamin Netanjahu war aber zu hören, der Premier habe beschlossen, den gesamten Gazastreifen zu besetzen. »Die Entscheidung ist gefallen«, zitierte der israelische Journalist Amit Segal einen engen Mitarbeiter von Netanjahu. »Die Hamas wird ohne vollständige Kapitulation keine weiteren Geiseln freilassen, und wir werden nicht kapitulieren. Wenn wir jetzt nicht handeln, werden die Geiseln verhungern und der Gazastreifen unter der Kontrolle der Hamas bleiben.«
Um das einzuordnen, muss zunächst erläutert werden, was hier mit »besetzen« gemeint ist. Manch irrlichternde israelische Stimmen wie jene der rechtsextremen Politiker Itamar Ben-Gvir und Bezalel Smotrich machen keinen Hehl aus ihrer Absicht, den Gazastreifen einzunehmen, um dort wieder israelische Siedlungen zu errichten. Europäische Journalisten greifen solche Aussagen nur zu gerne auf, um Israel in schlechtes Licht zu rücken. Sie verschweigen dabei, das Ben-Gvir und Smotrich zwar aktuell Ministerposten bekleiden, aber erstens nicht für die Regierungslinie an sich stehen, zweitens nicht über die konkrete Führung des Kriegs gegen die Hamas bestimmen und drittens von einer überwältigenden Mehrheit der Israelis vehement abgelehnt werden.
Nicht um solch weitreichende Besatzungspläne geht es, sondern darum, den ganzen Gazastreifen militärisch einzunehmen, denn rund ein Viertel des Gebiets steht noch immer unter Kontrolle der Hamas. In diesem Teil, der vor allem Gaza-Stadt und einige größere Flüchtlingslager umfasst, haben sich die Reste der Hamas verschanzt und werden die fünfzig noch immer festgehaltenen Geiseln vermutet.
Die israelischen Streitkräfte haben bislang in diesem Gebiet kaum operiert, weil sie die Geiseln nicht gefährden wollten und bei einem militärischen Vorgehen aufgrund der hohen Bevölkerungsdichte mit zahlreichen Opfern gerechnet werden muss – unter palästinensischen Zivilisten, aber auch unter israelischen Soldaten, die sich hier buchstäblich Haus für Haus vorkämpfen müssten. Deswegen besteht im Grunde seit rund einem Jahr bereits eine Art Pattsituation, in der sich militärisch kaum noch etwas verändert hat.
Sackgasse
Dass die Regierung jetzt dennoch zumindest ankündigt, auch diesen letzten Rest des Gazastreifens einnehmen zu wollen, muss wohl als Versuch gesehen werden, einerseits das Heft des Handelns wieder in die Hand zu nehmen, nachdem sie in den vergangenen Wochen vor allem wie ein Getriebener zunehmenden internationalen Drucks agiert hat, und damit andererseits aus der Sackgasse herauszukommen, in die sie selbst Israel manövriert hat, weil alle ihre in den letzten Monaten verfolgten Pläne desaströs gescheitert sind.
Das begann nach dem Auslaufen des bislang letzten Waffenstillstands im März mit der Verhängung einer Blockade des Gazastreifens für Hilfslieferungen, mit der die Hamas geschwächt und zu einer Freilassung von Geiseln gezwungen werden sollte. In den sechs Wochen des Waffenstillstands war der Gazastreifen mit Hilfsgütern geflutet worden, die laut der Weltgesundheitsorganisation der Vereinten Nationen die Bevölkerung für ein gutes halbes Jahr mit ausreichend Nahrung versorgen hätte sollen.
Warum dann trotzdem bereits nach wenigen Wochen von einer Hungersnot die Rede war, ist umstritten, aber klar ist, dass das Vorhaben, die Hamas mittels einer Blockade unter Druck zu setzen, auf einer dramatischen Fehleinschätzung beruhte: Die Hamas hat das Leid der Zivilbevölkerung zur stärksten Waffe im Kampf gegen Israel gemacht, und das hat bestens funktioniert: Die Bilder aus dem Gazastreifen, auf denen nur zu sehen ist, was die Hamas gezeigt haben will, haben nicht etwa den Druck auf die Hamas erhöht, sondern auf Israel, das international zunehmend isoliert wurde.
Wie Haviv Rettig Gur richtig feststellte: »Israel hat den Bodenkrieg weitgehend gewonnen. Aber es hat im Krieg um die humanitäre Hilfe völlig versagt, indem es deren Rolle in der Strategie des Feindes nicht verstanden hat.«
Daran änderte auch die Wiederaufnahme von Hilfslieferungen über die Gaza Humanitarian Foundation (GHF) Ende Mai nichts. Das Ziel, Hilfe so zu organisieren, dass sie nicht auf dem Umweg über die Vereinten Nationen bei der Hamas landet und deren Herrschaft über die Menschen einzementiert, war und ist völlig richtig, deswegen haben die Islamisten – in bester Zusammenarbeit mit den Vereinten Nationen – ja auch alles in ihrer Macht Stehende unternommen, um dieses alternative System der Hilfsverteilung zu sabotieren.
Aber gut gemeint bedeutet nicht auch gut gemacht. Obwohl die GHF bis dato 100 Millionen Mahlzeiten verteilt hat, gibt es nach wie vor zu wenige Verteilstellen und die Hilfe kommt nicht bei denen an, die sie am Dringendsten brauchen, also bei Alten, Kranken und Kindern. Deshalb musste Israel zuletzt »humanitären Feuerpausen« zustimmen, in denen zusätzliche Hilfe in den Gazastreifen gelangen kann. – Ohne die Freilassung weiterer Geiseln und ohne irgendeine sonstige Gegenleistung der Hamas.
Westliche Einmischung
Denn auch der Versuch, mit der Terrorgruppe einen erneuten Waffenstillstand zu vereinbaren, ist gescheitert – und dafür tragen vor allem westliche Regierungen die Verantwortung: Einige Zeit hieß es, ein Abkommen stünde kurz bevor. Und dann traten zuerst 29 Außenminister von EU-Staaten (darunter Österreich, nicht aber Deutschland) in Aktion, um einseitig den Druck auf Israel zu erhöhen und ein sofortiges Kriegsende zu fordern.
Die Reaktionen der Hamas war so klar wie absehbar: Sie verspürte Rückenwind und stellte sofort neue Forderungen. Und als ob das nicht schon schlimm genug gewesen wäre, erklärten in kurzer Abfolge der französische Präsident sowie der britische und der kanadische Premier, »Palästina« als Staat anzuerkennen.
Der britische Premier Keir Starmer stellte Israel gar ein Ultimatum: Stimme Israel einem Waffenstillstand nicht zu, werde er »Palästina« anerkennen. Allerdings hatte Israel – im Gegensatz zur Hamas – dem letzten Vorschlag für eine Feuerpause bereits zugestimmt. Haviv Rettig Gur bringt diese perverse Logik auf den Punkt: »Wenn die Hamas standhält und einen Waffenstillstand ablehnt, wird vom Vereinigten Königreich ein palästinensischer Staat anerkannt werden. Wenn sie einem Waffenstillstand zustimmt, wird sie diese Anerkennung nicht erhalten. Mit anderen Worten: Der britische Premierminister hat die Hamas gerade dazu ermuntert, den Krieg fortzusetzen.«
Was die Macrons, Starmers und Carneys jedenfalls erreichten: Sofort ließ die Hamas die Verhandlungen über einen Waffenstillstand platzen. Warum sollte sie auch über etwas verhandeln, wenn ihnen die Umsetzung ihrer Ziele von westlichen Regierungen auf dem Silbertablett präsentiert wird, während sie selbst dafür gar nichts tun muss?
Wie der arabische Journalist Khaled Abu Toameh feststellte: »Mit ihrer Vorgangsweise haben es die europäischen Regierungsvertreter nicht nur geschafft, jegliche Verhandlungen unmöglich zu machen, sondern auch der Hamas indirekt vermittelt, dass ihr Überfall auf den Süden Israels und die Entführung seiner Bürger mit einem Staat belohnt würden.«
Nur mehr schlechte Optionen
Dank eigener strategischer Fehler und fataler westlicher Einmischung stehen Israel jetzt nur mehr graduell unterschiedlich schlechte Optionen zur Verfügung: Es kann die gegenwärtige Pattsituation aufrechterhalten, womit nicht nur die erklärten Kriegsziele (Befreiung der Geiseln und Ausschaltung der Hamas) verfehlt würden, da nicht zu erwarten ist, dass bei einer Verlängerung des Status quo erreicht werden könnte, was in den fast zwei Jahren Krieg nicht schon erreicht werden konnte.
Es kann einseitig kapitulieren und den Krieg beenden, womit ebenfalls die Kriegsziele verfehlt werden: Die Geiseln werden nicht freikommen, weil die Hamas dazu überhaupt keine Veranlassung hat, und die islamistische Terrorgruppe wird in all jenen Teilen des Gazastreifens an der Macht bleiben, aus denen Israel abzieht.
Oder es kann militärisch sozusagen All-In gehen und eben die rund 25 Prozent erobern, in welche die Streitkräfte bislang kaum vorgedrungen sind. Das trifft freilich nicht nur auf heftigen Widerstand einer Mehrheit der Israelis, die darin eine Gefährdung der noch lebenden Geiseln sehen, sondern auch der IDF, die aus guten Gründen diesen Schritt bislang unterlassen haben.
Vor Ort weist bis jetzt nichts darauf hin, dass eine solch dramatische Ausweitung der Militäroperationen, für die etliche zusätzliche Reservesoldaten (erneut) einberufen werden müssten, unmittelbar bevorsteht. Die Armee hat ganz im Gegenteil gerade den Abzug einer größeren Zahl Soldaten aus dem Gazastreifen angeordnet, da der Einsatz schon in seiner jetzigen Form und Dauer zu einer Überlastung der Streitkräfte mit zum Teil schwerwiegenden Folgen geführt hat.
Die Ankündigung, auch noch den letzten von der Hamas kontrollierten Rest des Gazastreifens einzunehmen, könnte zu guter Letzt den Versuch darstellen, wieder Druck auf die Hamas aufzubauen, der durch die westliche Einmischung völlig verloren gegangen ist. Ziel wären dann neue Verhandlungen und der Abschluss eines Waffenstillstands. Ob das funktionieren kann, ist fraglich, denn bislang haben derartige Bluffs die Hamas nicht sonderlich beeindruckt.
Für jede Option, abgesehen von einem kompletten Rückzug, stellt sich die Frage, was mit jenen Teilen des Gazastreifens geschehen soll, die vorerst unter israelischer militärischer Kontrolle bleiben würden. Auch darauf ist die Regierung bisher jede auch nur halbwegs ernst zu nehmende Antwort schuldig geblieben.
Nach fast zwei Jahren Krieg hat Israel zwar militärisch weitgehend gewonnen, im Zuge dessen politisch aber enorm viel verloren. Eine große Mehrheit der Israelis fühlt sich von einer Regierung nicht mehr vertreten, in der Personen sitzen, die nie ein Regierungsamt hätten bekleiden dürfen. Wie vieles andere auch ist das die Verantwortung von niemand anderem als von Premier Benjamin Netanjahu, der eine Koalition gebildet hat, mit der ein Staat zerstört, aber keiner gemacht werden kann. Es ist seine Verantwortung, den Karren dermaßen an die Wand gefahren zu haben.






