Latest News

Israel: Wie man’s macht, macht man’s falsch

Small Diameter Bombs, ausgestellt im israelische Air Force Museum. (© imago images/Dreamstime)
Small Diameter Bombs, ausgestellt im israelische Air Force Museum. (© imago images/Dreamstime)

Selbst wenn Israel so operiert, wie seine Freunde es raten, sind diese unzufrieden. Israelische Erfolge werden dabei ausgeblendet.

Raffael Singer

Die wohl am meisten verbreitete Form der Kriegsgegnerschaft könnte mitunter auch die seltsamste sein. Die etablierte Konsensmeinung in westlichen Staaten ist, dass Israel zwar das Recht habe, sich zu verteidigen, allerdings ein sofortiges Ende der bewaffneten Auseinandersetzung unumgänglich sei. Doch während Forderungen nach einem Waffenstillstand konkrete Maßnahmen beinhalten, bleiben die Lippenbekenntnisse zum Recht auf Selbstverteidigung eher abstrakt.

Eine Ausnahme von dieser Regel bildete der dringliche Rat der USA, die Israelischen Verteidigungsstreitkräfte (IDF) sollten sich auf gezielte Angriffe beschränken, anstatt eine vollständige Bodenoffensive (insbesondere in Rafah) zu unternehmen. Dieser Rat wurde zuletzt durch die gezielten Tötungen des Militärführers der Hisbollah, Fuad Shukr, in Beirut, zu dessen Eliminierung Israel sich bekannt hat, und des Hamas-Anführers Ismail Haniyeh in Teheran, an der Israel eine Beteiligung weder bestätigt noch dementiert hat, auf die Probe gestellt. Wenig überraschend, kommt auch diese Form der Selbstverteidigung auf internationaler Bühne nicht gut an.

Gezielte Operationen

Tatsächlich waren drei der am heftigsten kritisierten Ereignisse des Kriegs gezielte Angriffe, also genau jene Art von Militärschlägen, die von den USA empfohlen wurden:

  • Der wohl bedeutendste Schlag war der auf ein Hamas-Gelände in Al-Mawasi am 13. Juli, bei dem der Hamas-Militärführer und Drahtzieher der Anschläge vom 7. Oktober 2023, Mohammed Deif, zusammen mit dem Kommandanten der Khan-Yunis-Brigade Rafa’a Salameh und Dutzenden weiteren bewaffneten Hamas-Angehörigen getötet wurde. Die Hamas berichtete von neunzig Opfern – wie üblich, ohne zwischen Zivilisten und Kombattanten zu unterscheiden. UN-Generalsekretär António Guterres verkündete kurzerhand, er sei »schockiert und betrübt über den Verlust menschlichen Lebens«.
  • Am 26. Mai trafen die IDF zwei führende Hamas-Mitglieder mit sogenannten Small Diameter Bombs, den kleinsten präzisionsgelenkten Bomben mit geringem Explosionsradius, die von Kampfflugzeugen eingesetzt werden können, im Tel-al-Sultan-Viertel von Rafah. In einem nahen Zeltlager, in dem geflohene Palästinenser untergebracht waren, brach ein Feuer aus, bei dem fünfundvierzig Menschen ums Leben gekommen sein sollen. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell gab sofort sein Entsetzen bekannt und verurteilte die Angriffe auf das Schärfste, noch bevor eine Untersuchung der IDF ein abgehörtes Telefonat zwischen Palästinensern und Luftbilder eines nahegelegenen Raketenwerfers veröffentlichen konnten. Beides deutet darauf hin, dass der tödliche Brand keine unmittelbare Folge des IDF-Angriffs war, sondern auf eine sogenannte Sekundärexplosion eines versteckten Hamas-Waffenlagers hin ausbrach.
  • Am 10. August trafen die IDF eine aktive Kommandozentrale der Hamas und des Palästinensischen Islamischen Dschihads (PIJ) – wieder mit Small Diameter Bombs –, die in einer Moschee innerhalb eines ehemaligen Schulkomplexes im Daraj-Viertel von Gaza-Stadt eingerichtet war. Das Government Media Office in Gaza meldete über neunzig Todesopfer, was von den IDF umgehend dementiert wurde, die der Hamas-geführten Agentur vorwarf, überhöhte Opferzahlen zu vermelden. Josep Borrell war erneut »entsetzt« und twitterte: »Es gibt keine Rechtfertigung für dieses Massaker.« Seitdem wurde vom israelischen Militär die Namen von einunddreißig Hamas- und PIJ-Kämpfern veröffentlicht, die laut eigenen Angaben bei dem Luftschlag getötet worden sein sollen.

Selbst die Hamas räumte mittlerweile ein, dass bei dem Vorfall nicht neunzig, sondern vierzig Menschen ums Leben kamen. Waren einunddreißig von ihnen Terroristen, gab es unter den Getöteten in der ehemaligen Schule somit nur sehr wenige Zivilisten.

Welche Art von Selbstverteidigung?

Wie man sieht, sind offenbar auch Präzisionsschläge jener von den USA eingeforderten Art nicht nach dem Geschmack internationaler Beobachter. Andere Vorschläge zur Selbstverteidigung sind rar gesät. Aus der internen Debatte der britischen Labour-Regierung, ob der Verkauf von Offensivwaffen an Israel ausgesetzt werden soll, und ähnlichen Debatten in anderen Ländern müssen wir wohl ableiten, dass sich legitime Selbstverteidigung auf die Sicherung der Grenzen und die vollständige Vermeidung bewaffneter Auseinandersetzung außerhalb des israelischen Staatsgebiets beschränken soll.

Diese Sichtweise wurde vermutlich durch die relativ geringe Erfolgsquote terroristischer Raketenangriffe, in erster Linie dank des überaus effektiven Raketenabwehrsystems Iron Dome, in den letzten Jahren verstärkt. Allerdings demonstrierten die Anschläge vom 7. Oktober anschaulich die menschlichen Kosten jedes Fehlers, jedes Missverständnisses und jeder Fehleinschätzung bei der Umsetzung einer derart passiven Verteidigungsstrategie. Außerdem offenbart der Krieg gegen die Hisbollah im Norden die Verwundbarkeiten der israelischen Luftabwehr gegenüber Drohnen und Panzerabwehrlenkwaffen.

Doch selbst wären die israelische Grenze unüberwindbar und die Luftabwehr unfehlbar, wäre eine passive Verteidigungsstrategie wirtschaftlich nicht tragbar. Die Kosten der von der Hamas eingesetzten Qassam-Raketen werden auf zwischen drei- und achthundert Dollar geschätzt. Demgegenüber stehen rund vierzig- bis fünfzigtausend Dollar Kosten für jede Abfangrakete des Iron Dome. Aus Sicht der Terroristen entspricht das einer 100-zu-1-Anlagenrendite. Für die bescheidene Summe von dreihundert Millionen Dollar, weniger als 0,1 Prozent des iranischen BIP beziehungsweise drei Prozent seiner jährlichen Militärausgaben, können iranische Stellvertretermilizen wirtschaftliche Schäden in Höhe des gesamten dreißig Milliarden Dollar umfassenden israelischen Verteidigungsbudgets verursachen. Eine derartige Asymmetrie ist mittelfristig nicht tolerierbar.

Erfolgreiches Vorgehen

Darüber hinaus kann Israel auf militärische Erfolge verweisen, die unter Einhaltung der amerikanischen oder britischen Empfehlungen nicht möglich gewesen wären. Die bedeutendste ist die fortschreitende Zerstörung der militärischen Infrastruktur in Gaza, einschließlich der Waffenproduktionsstätten, Raketenwerfer, Schmuggelrouten nach Ägypten und rund einem Drittel des Hunderte Kilometer langen Tunnelsystems der Hamas (Stand Mai).

Die Sicherstellung einer Unmenge an Datenmaterial der Hamas hat wichtige Informationen geliefert, die gemeinsam mit den Verhören von Hamas-Mitgliedern, die während der Bodenoffensive gefangen genommen wurden, die Grundlage für eine Vielzahl weiterer IDF-Operationen bildeten, darunter beispielsweise die Tötung des Stellvertreters von Mohammed Deif, Marwan Issa, im vergangenen März.

Außerdem wären zwei Rettungsmissionen, die zur Befreiung von insgesamt sechs Geiseln führten (und ironischerweise international ebenfalls auf scharfe Kritik stießen) sowie die Bergung von mindestens siebzehn Leichen entführter Israelis (fünf in Jabaliya im Dezember, weitere sieben im Mai und fünf in Khan Yunis im Juli) ohne im Zuge der Bodenoperationen vor Ort erworbene Informationen nicht möglich gewesen.

Wir werden wohl nie erfahren, ob und wie viele Geiseln im November ohne den militärischen Druck der israelischen Bodenoffensive im Norden Gazas freigelassen worden wären. Wir wissen aber, dass US-Unterhändler am 5. Mai die Geiselverhandlungen wegen der maßlosen Forderungen der Hamas als »kurz vor dem Scheitern stehend« beschrieben. Am Tag darauf begann Israel die Bodenoffensive in Rafah, woraufhin die Hamas prompt verkündete, den Waffenstillstandsvorschlag zu »akzeptieren«. (Wie sich rasch herausstellte, handelte es freilich um einen Gegenvorschlag mit signifikanten Änderungen).

Von einem Durchbruch war Anfang Juli die Rede, als die Hamas ihre Forderung nach einer Ex-ante-Verpflichtung zu einer dauerhaften Waffenruhe fallengelassen haben soll, nachdem bedeutende Hamas-Funktionäre in Gaza unter Verweis auf die hohen militärischen Verluste die politische Führung in Katar gedrängt haben, ein Waffenstillstandsabkommen zu unterzeichnen.

Zuletzt haben sich die Schuldzuweisungen für ein Scheitern der Geiselverhandlungen wieder auf Israels Premierminister Benjamin Netanjahu verlagert. Doch obwohl es schwierig ist, seine Manöver als etwas anderes als versuchte Sabotage zum persönlichen politischen Vorteil zu interpretieren, sollte nicht unerwähnt bleiben, dass sämtliche der von ihm hinzugefügten Forderungen völlig vertretbar und zumutbar sind: den Philadelphi-Korridor an der Grenze zwischen Gaza und Ägypten zu halten, um Schmuggelrouten dauerhaft zu schließen; den Netzarim-Korridor, der den Norden des Küstenstreifens vom Süden trennt, zu halten, um die Rückkehr von Kämpfern in den Norden Gazas zu verhindern; und ein Vetorecht bei der Freilassung palästinensischer Sicherheitshäftlinge, um die Rückkehr der schlimmsten Terrorführer ins Westjordanland und das Entbrennen einer neuen Kriegsfront zu verhindern.

Einzig den militärischen Erfolgen der IDF ist es zu verdanken, dass mit der Umsetzung dieser Forderung die Fortschritte der letzten zehn Monate im Kampf gegen die Hamas sichergestellt werden können, die in erster Linie der aktiven Verteidigungsstrategie Israels zuzuschreiben sind. Diplomatie kann ein mächtiges Werkzeug sein – aber nur in Begleitung angemessener militärischer Stärke, die vollbringen kann, was irgendwelche Elfenbeinturmfantasien über einen makellosen Krieg niemals erreichen können.

Sollte es wirklich zum drohenden Krieg gegen die Hisbollah im Libanon kommen, ist zu hoffen, dass Israels Verbündete und Freunde die richtigen Lehren aus dem Konflikt der vergangenen zehn Monate ziehen und sich der überflüssigen Ratschläge enthalten, die auf ihren eigenen Fehleinschätzungen basieren.

Bleiben Sie informiert!
Mit unserem wöchentlichen Newsletter erhalten Sie alle aktuellen Analysen und Kommentare unserer Experten und Autoren.

Zeigen Sie bitte Ihre Wertschätzung. Spenden Sie jetzt mit Bank oder Kreditkarte oder direkt über Ihren PayPal Account. 

Mehr zu den Themen

Das könnte Sie auch interessieren

Wir reden Tachles!

Abonnieren Sie unseren Newsletter und erhalten Sie alle aktuellen Analysen und Kommentare unserer Experten und Autoren!

Nur einmal wöchentlich. Versprochen!