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Israel vor Neuwahl Nummer fünf

In einer Woche wird in Israel erneut gewählt
In einer Woche wird in Israel erneut gewählt (© Imago Images / Xinhua)

Bei der Wahl in genau einer Woche gibt es wie bei den vorangegangenen Wahlen ein bescheidenes Traumziel, das eines von lauter schlechten Optionen ist.

Man ist doch ohnehin schon so bescheiden geworden. Im israelischen Parlament gibt es 120 Sitze. In früheren Jahren galt als Richtwert, dass eine Koalition mindestens 66 Mandate braucht, um stabil zu sein, sonst sollte man es gar nicht erst versuchen. 1999 etwa hatte sich Ehud Barak als Premier auf 75 Mandate stützen können, 2003 bei Ariel Scharon waren es 68. Aber jetzt wird nur noch darauf geschaut, ob und wie ein Block bei den Wahlen am 1. November vielleicht auf 61 Mandate kommen könnte – die knappste aller möglichen Parlamentsmehrheiten würde schon als großer Sieg gefeiert, obwohl man damit ja auch nicht weit käme.

Dieses Traumziel von 61 ist schon seit Wochen, ja, schon seit dem Kollaps der letzten Koalition im Juni genau das – nämlich wie eine Fantasie aus jenen Träumen, in denen man irgendwohin läuft und etwas beinahe greifen kann, aber nicht vom Fleck kommt. Immer wieder und wieder ergeben nämlich die Umfragen aller Institute in beinahe schon langweiliger Einmütigkeit, dass der Block um Benjamin Netanjahu, den konservativen Ex-Premier, der wieder an die Macht will, bei 59 oder 60 Mandaten liegt – eben gerade um einen Hauch zu wenig für eine Koalition. Der Block derjenigen Parteien, die Netanjahu verhindern wollen, kommt entsprechend auf 57 oder 56 Mandate. Die restlichen vier Mandate gehen an eine arabische Partei, die für eine Regierung nicht zur Verfügung steht.

Ganz und gar nicht langweilig ist aber den Innenpolitik-Kommentatoren und den Kampagnemanagern. Je näher der Wahltermin rückt, desto leidenschaftlicher beschäftigen sie sich mit der Frage, wie sich vielleicht doch noch ein, zwei Mandate von einem Block zum anderen bewegen könnten. Doch all die Analysen enden unweigerlich mit großen Fragezeichen. Die Wahrheit ist natürlich: Die Verhältnisse sind so komplex und die Abstände so gering, dass man nichts voraussagen kann und nicht einmal klar ist, welche Werbetaktik für welche Partei in der letzten Woche vor der Wahl die richtige wäre.

Die Ungewissheit beginnt schon damit, dass ja die Prognosen selbst mit Fehlergrenzen von plus oder minus drei Prozent behaftet sind. Die gemessenen 59 Mandate für den Pro-Netanjahu-Block könnten also eigentlich auch 61 sein – und zwischen diesen beiden so nahen Zahlen liegen politische Welten.

Es ist aber noch viel schlimmer. Im israelischen Wahlsystem gilt eine Sperrklausel von 3,25 Prozent. Das bedeutet, dass eine Partei mindestens vier Mandate ergattern muss, um ins Parlament zu kommen. Und in den Umfragen liegen nicht weniger als vier Parteien – zwei linke und zwei arabische – nur knapp über dieser Untergrenze. Wenn nur eine einzige dieser vier Parteien ein wenig abrutscht und durchfällt, verschiebt sich die Sitzverteilung um eine Spur nach rechts, sodass Netanjahu bei 61 anschlägt und wieder Premierminister ist.

Arabische Schmetterlingsflügel

Hier ist schon angeklungen, dass die arabischen Parteien bei diesen Wahlen eine entscheidende Rolle spielen. Dabei täuscht der saloppe Ausdruck »die arabischen Parteien« darüber hinweg, dass Israels zwei Millionen arabische Bürger natürlich keine uniforme Masse sind, sondern in einem politischen Mikrokosmos mit unterschiedlichen, ja, konträren Ausrichtungen leben. Im Angebot findet man gemäßigte Nationalisten (Taal), radikale Nationalisten (Balad), Kommunisten (Chadasch), Islamisten (Raam). Bei den verschiedenen Wahlen der letzten 25 Jahre haben sich diese Parteien immer wieder in fast allen möglichen Kombinationen kurzfristig verbündet.

Der Sinn ist klar: Jede der arabischen Parteien ist so klein, dass sie immer in Gefahr ist, allein die Sperrklausel nicht zu bewältigen. 2006 etwa bildeten Raam und Taal eine gemeinsame Liste, während die beiden anderen Parteien getrennt antraten. Bei den Wahlen im April 2019 gab es zwei Zweiergruppen (Chadasch-Taal und Raam-Balad). Vor den Wahlen 2020 schlossen sich gar alle vier arabischen Parteien zu einer gemeinsamen Liste zusammen, die sich genau so nannte (Gemeinsame Liste) – sie kam mit 15 Mandaten auf ein Rekordergebnis und wurde drittstärkste Parlamentsfraktion. Vor den Wahlen 2021 ging dann Raam unter ihrem pragmatischen Chef Mansour Abbas eigene Wege und trat schließlich sogar in die Koalition unter Naftali Bennett ein – die erste Regierungsbeteiligung einer arabischen Partei in der Geschichte des Landes.

Und nun vor den Wahlen 2022 ist auch Balad nach internen Streitereien aus der Gemeinsamen Liste ausgestiegen – ein Schmetterlingsflügelschlag, der einen Tornado auslösen kann. Denn allein ist Balad bloß ein Brösel von 1,5 Prozent und schafft es nicht ins Parlament, wodurch von vornherein arabische Stimmen »verschwendet« werden. Und der kümmerliche Rest der Gemeinsamen Liste in der Form von Chadasch-Taal krebst in den Umfragen eben gefährlich nahe bei jenen vier Mandaten herum, die das Existenzminimum darstellen. Sprich: Ausgerechnet der arabische Sektor kann durch seine Aufsplitterung Netanjahus Comeback »verschulden«.

Für die Partei oder den Block?

Und auch auf der anderen Seite des Spektrums blickt jemand besorgt auf die 3,25-Prozent-Hürde, aber von weit unten. Ayelet Shaked, die Noch-Innenministerin, war Bennetts treue Weggefährtin. Im Zweigespann führten die beiden gut zehn Jahre lang nationalreligiöse Parteien mit wechselnden Namen an und standen fest im rechten Lager, bis sie im Juni 2021 plötzlich in eine Mitte-Links-Koalition einschwenkten. Dadurch wurde Bennett zwar für ein Jahr Premierminister. Doch die ohnehin nicht sehr zahlreichen nationalreligiösen Stammwähler fühlten sich von Bennett und Schaked betrogen, die Partei hatte erbärmliche Umfragewerte, und Bennett, der  keine Chance auf eine Wiederwahl sah, tritt gar nicht mehr an.

Schaked hingegen ist mit einer Partei namens Habajit Hajehudi (Das jüdische Heim) noch immer oder schon wieder dabei, hat sich für ihre »Fehler« entschuldigt und verspricht jetzt hoch und heilig, nur noch mit Netanjahu zu gehen. Sie hält bei rund zwei Prozent der Stimmen, will aber nicht aufgeben.

Hier kommt das interessante Dilemma ins Spiel, vor dem in jedem der beiden Blöcke die jeweils größte Partei steht: Soll man in der letzten Wahlkampfoffensive für die eigene Partei oder für den Block kämpfen? Ein heikler Balanceakt. Netanjahu etwa kann ziemlich sicher eine Regierung bilden, wenn die Shaked-Partei es doch ins Parlament schafft und seinen Block verstärkt. Soll er ihr also helfen, über die Hürde zu kommen, und so das Risiko eingehen, dass viele Stimmen für den Rechtsblock verlorengehen, wenn sie am Ende doch knapp scheitert? Oder soll Netanjahu Shaked frontal angreifen, um ihre Partei auszuradieren und ihre potenziellen Wähler für seinen Likud zu gewinnen?

Spiegelverkehrt sieht es aus der Sicht von Yair Lapid aus. Die Zentrumspartei Yesch Atid (Es gibt eine Zukunft) des jetzigen Premiers liegt mit rund 25 Mandaten sicher auf Platz zwei. Sie könnte versuchen, durch verstärkte Werbung in arabischen Gemeinden, wo ja nicht unbedingt alle eine arabische Partei wählen, noch das eine oder andere Mandat zu erobern und dem Likud näherzukommen. Damit riskiert Lapid aber, zumindest eine der beiden arabischen Parteien, die laut Umfragen gerade noch haarscharf über die Hürde kommen, ganz aus dem Parlament zu drängen – und dann wäre Netanjahu der Sieger.

Was ist mit Sachthemen?

Geht es also nur noch um geschickte Wahlkampfmanöver, oder können Sachthemen im letzten Moment den Ausgang bestimmen? In den letzten Wochen haben sich das nördliche Westjordanland und Ost-Jerusalem erhitzt, mit beinahe täglichen Anschlägen gegen Soldaten und Zivilisten, was wiederum Abriegelungen und Konfrontationen bei der Fahndung nach den Tätern nach sich zieht. Sicherheitskrisen stärken gewöhnlich die Rechte, aber Lapid und Verteidigungsminister Benny Gantz (der jetzt eine Zentrumsunion mit dem klobigen Namen Das Staatsmännische Lager anführt) können argumentieren, dass sie mit einer Mischung aus Härte und Zurückhaltung die Lage unter Kontrolle halten.

Das andere aktuelle Thema, das Schlagzeilen macht, ist das Abkommen über eine Seegrenze mit dem Libanon, aber auch hier ist nicht zu erkennen, ob eine der Seiten daraus Stimmen lukrieren kann. Lapid jubelt über einen Durchbruch, der Israel Sicherheit und Milliarden aus Erdgaserträgen einbringe, Netanjahu warf dem »amateurhaften Premierminister« eine »historische Kapitulation« vor.

Keine gute Option

Welche sind also die Optionen bei Israels fünfter Wahl in dreieinhalb Jahren? Letztlich sind es die gleichen wie bei den Wahlen Nummer eins bis vier, und keine von ihnen ist gut. Wenn die Wahl exakt das gleiche Ergebnis bringt wie die Umfragen, dann wird niemand eine Regierung bilden können.

Der einzige, der eine realistische Chance hat, eine Regierung zu bilden, ist Netanjahu – im Fall, dass ein oder zwei Mandate noch in seinen Block wandern. Doch diese Regierung wäre abhängig von radikalen Unruhestiftern wie Itamar Ben-Gvir und Bezalel Smotritsch mit ihrer rechtsextremen Partei Religiöser Zionismus, die schon Anspruch auf gewichtige Ressorts wie Verteidigung, Finanzen oder Innere Sicherheit angemeldet hat – eine innen- und außenpolitische Albtraumvision.

Eine sehr fernliegende dritte Option hat Benny Gantz ins Spiel gebracht: Als Mann der Mitte glaubt er sich als Einziger dazu berufen und befähigt, eine Koalition aus Rechten, Linken, Religiösen und Arabern ohne Netanjahu zu führen. Doch Gantz selbst wird mit seiner Partei nur auf Platz vier kommen, und eine heterogene Koalition unter der Führung des Chefs einer Kleinpartei ist ja soeben erst gescheitert.

Trösten kann sich Israel damit, dass man sich ja auch in manchen anderen Demokratien mit dem Regieren schwer tut. Bulgarien hat vor Kurzem zum vierten Mal in eineinhalb Jahren gewählt, was die israelische Frequenz noch übertrifft. Und Israel hat seit Juni mit Yair Lapid zwar nur einen provisorischen Premier, aber der bekommt jetzt schon den dritten britischen Amtskollegen.

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