Israel blickt schon wieder auf ein Wahlunentschieden. Erneut wird davon ausgegangen, dass Israels arabische Stimmberechtigte die möglichen Szenarien der Regierungsbildung entscheidend bestimmen werden. (Teil 1 der Artikelserie finden Sie hier, Teil 2 finden Sie hier)
Bei den vergangenen Knesset-Wahlen galt der arabischen Wählerschaft und ihren Parteien viel Aufsehen. 2020 wurde ein arabisches Parteienbündnis drittstärkste Knesset-Fraktion. 2021 schrieb Ra’am Geschichte, weil sie als erste arabische Partei Israels die danach gebildete Koalition tolerierte, also die Regierung unterstützte. Israels arabische Wähler, die zur überwältigen Mehrheit für arabische Parteien stimmen, haben das Potenzial, eine zweistellige Anzahl der 120 Knesset-Sitze zu ergattern.
Die Prognosen zur Wahlbeteiligung verheißen, dass arabische Wähler ihr elektorales Potenzial verpuffen lassen und nur wenige Politiker der arabischen Parteien ins Parlament bringen werden. Trotzdem könnte es ihnen zufallen, den entscheidenden Ausschlag zu geben, was mit der sich abzeichnenden fortgesetzten Pattsituation zwischen den Blöcken in Zusammenhang steht, so dass man von zwei möglichen Szenarien ausgehen muss.
Bringen arabische Wähler zwei arabische Parteien mit minimal acht Abgeordneten ins Parlament, scheint die Chance einer Neuauflage der Veränderungskoalition zu bestehen. Sollten diese Wähler aber nur eine der antretenden arabischen Parteien über die Sperrklausel katapultieren, könnte der Kelch der Regierungsbildung dem Netanjahu-Block zufallen.
Antagonistische Szenarien
Somit werden Israels arabische Wähler höchstwahrscheinlich entscheiden, ob Israel eine Regierung bekommt, die auf die Unterstützung einer Partei der Islamischen Bewegung (Ra’am) angewiesen wäre und zudem auf die Duldung einer arabische Partei (Hadash-Ta’al) zählen müsste, die Israel für gewöhnlich als rassistisch porträtiert, oder ob das Land eine Likud-Regierung erhält, in der rechtsradikale religiöse Nationalisten aus der jüdischen Gesellschaft mitreden.
Zwei konträre Szenarien, bei denen voraussichtlich ein Faktor die entscheidende Rolle spielen wird: die arabische Wahlbeteiligung. Man sollte meinen, beide Szenarien – das Aufsteigen jüdischer Rechtsradikaler in Ministerwürden verhindern als auch eine gesteigerte Einflussnahme der eigenen Bevölkerungsgruppe fördern zu können – wären für arabische Wähler ein Ansporn. Doch weit gefehlt. Die traditionell niedrige arabische Wahlbeteiligung, so zeigen Umfragen, droht sogar unter die bislang präzedenzlose Marke von vierzig Prozent zu fallen.
Visionsenttäuschte und visionsbegeisterte Wähler
Immer mehr arabische Bürger Israels geben in Umfragen an, eine Beteiligung an Regierungsentscheidungen zu befürworten. Genau dafür machte sich bei der letzten Wahl Mansour Abbas mit seiner Partei Ra’am stark. Hört man beduinischen Ra’am-Wählern des Negev zu, die das Rückgrat der Partei repräsentierten, so bekunden viele, fest daran geglaubt zu haben, dass eine Beteiligung an der Regierung ihre Lebenssituation verbessern werde. Inzwischen hängt eine nüchterne Bilanz in der Luft: Nichts, gar nichts habe sich geändert.
Mansour Abbas erklärt unermüdlich, warum Veränderungen Zeit brauchen, umso mehr, wenn es um langjährig bestehende Zustände geht, die der Veränderung bedürfen. Er spürt, dass Wähler mit Leidensdruck keine geduldige Klientel sind. Trotzdem bleibt er positiv, und genauso ist auch sein Wahlkampf ausgerichtet. Er weiß, nicht wenige halten trotz allem beharrlich an seiner Vision fest. Dass er zweifelsfrei eine erschütterte, aber nicht weggebrochene Basis hat, dazu trägt der Segen des Shura-Rates der Islamischen Bewegung bei, der ihm Wähler sichert, die nicht für die säkulare Konkurrenz Hadash-Ta’al stimmen könnten.
Neben Enttäuschung vernimmt Mansour Abbas zugleich Zustimmungsbekundungen jüdischer Wähler, die ihn für seine Geradlinigkeit im Einsatz um Gleichstellung der arabischen Bürger schätzen gelernt haben und ihm zur Stärkung einer liberalen Demokratie dieses Mal sogar ihre Wählerstimme geben wollen. Kein nennenswertes Kontingent, aber dennoch ein Fingerzeig, wie sehr Mansour Abbas in Israel etwas in Bewegung gesetzt hat.
Denkzettelmentalität der Stammwähler
Doch auch Wähler, die seit Jahren für andere arabische Parteien stimmen, könnten diesmal zu Hause bleiben, was vor allem die beiden verbleibenden Parteien der ehemaligen, aus drei Parteien bestehenden Vereinigten Liste – Hadash und Ta’al – schmerzlich zu spüren bekommen.
Warum dem so ist, erläuterte Amal Jamal, Professor für Politikwissenschaft an der Tel Aviv Universität, bei verschiedenen Gelegenheiten: Die Uneinigkeit arabischer Parteien bedeute aus der Perspektive ihrer Wähler, dass sich die Politiker bloß parteieigenen Interessen widmen, sodass die Interessen der Wählerschaft ins Hintertreffen geraten. Querelen unter den arabischen Parteien quittierten Israels arabische Wähler deshalb bereits wiederholt mit Nichtteilnahme an Wahlen.
Erhebungen des auf die arabische Gesellschaft Israels spezialisierten Meinungsumfrageinstituts Statnet zeigen überdies, dass arabische Wähler glauben, die beiden führenden Männer von Hadash-Ta’al – Ayman Odeh und Ahmed Tibi – würden auch aus persönlichen Erwägungen an ihren Knesset-Sitzen festhalten. Das spricht ebenso wenig an, wie die auf Listenplatz drei ins Rennen gehende Abgeordnete Aida Touma-Suleiman, eine deklarierte säkulare Feministin mit pro-syrischen Ansichten. Land auf, Land ab hört man Bekundungen der Stammwähler, dass sie aus Protest zur abgesplitterten, strikt antizionistischen Partei Balad wechseln oder die Wahl demonstrativ boykottieren werden.
Arabische Wahl-Abstinenzler
Im Durchschnitt gingen bei den zehn Wahlgängen der vergangenen zwei Jahrzehnte rund sechzig Prozent der arabischen Stimmberechtigten zur Wahl, sodass man unter Israels Arabern auf ein nennenswertes Kontingent der Wahl-Abstinenzler blickt, dem man eine Art notorischer Verweigerungshaltung nachsagen könnte.
Dass vermutlich aber noch weit über diese Kontingent hinaus arabische Wähler zu Hause bleiben könnten – und dies ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, der nicht nur für die Zukunft ihrer Gesellschaft kritisch, sondern auch für die jüdische Mehrheitsgesellschaft weichenstellend sein könnte –, beschäftigt Israel schon seit Wochen. Im Raum schwebt unter anderem die Frage: Wie kann man anklagen, sich zurückgesetzt fühlen und Veränderungen einfordern, dann aber sein demokratisch verbrieftes Mitbestimmungsrecht nicht wahrnehmen?
Gerade für die notorischen Nichtwähler der arabischen Gesellschaft wie auch für die demonstrativ ein Zeichen setzen wollenden Wahlboykotteure des anstehenden Wahlgangs spielen viele Aspekte eine Rolle, die die jüdische Mehrheitsgesellschaft nur schwer nachvollziehen kann. Man kann Ansichten hören wie »Wird der Rassist Ben Gvir Minister, dann wird die Welt endlich sehen, was für ein rassistischer Staat Israel ist«. Und in Abrechnung mit der anti-arabisch wahrgenommenen Politik des zionistisch-linken Establishments der israelischen Gründerjahre erklingen trotzig klingende Postulate wie »Wir haben Ben-Gurion überstanden, dann werden wir auch Ben Gvir überleben«.
Selbstverständlich spielt ebenfalls das Thema Besatzung und palästinensische Solidarität in arabischen Wählerkreisen Israels eine bedeutsame Rolle. Dabei kommt häufig zum Tragen, dass den arabischen Parteien vorgeworfen wird, entweder auf Kosten der Interessen der arabisch-israelischen Gemeinschaft ausschließlich dieses Thema in den Vordergrund zu rücken (Vereinigte Liste/Hadash-Ta’al); oder es aber gänzlich zu vernachlässigen, um, wie Mansour Abbas (Ra’am) es vormacht, soziale Belange der eigenen Gemeinschaft zu fördern und zugleich als Partner »zionistischer Parteien« diverse Fettnäpfchen zu umgehen. Beides ist für arabische Wähler ein No-Go, doch da gibt es kaum Alternativen.
Sieht man genauer hin, so fühlen sich gerade viele junge arabische Wähler von keiner der Optionen – arabisch wie »zionistisch« – angesprochen. Viele Wähler der demografisch jungen arabischen Gesellschaft Israels haben noch nie gewählt, obwohl sie dazu in den letzten dreieinhalb Jahren reichlich Gelegenheit gehabt hätten.
Angesichts eines großen Kontingents desillusionierter Jungwähler, von denen besonders viele meinen, es werde sich ohnehin nichts ändern in Hinblick auf Blutvergießen, Armut und Wohnungsnot, Bildungsstandard und Arbeitsmarktintegration, bleibt fraglich, ob die arabischen Parteien ihr Ziel erreichen werden, fünfzig Prozent arabische Wählerbeteiligung zu mobilisieren. Sollte die jüdische Mehrheitsgesellschaft dieses Mal besonders rege an der Wahl teilnehmen, würde selbst ein solcher Prozentsatz für die arabischen Parteien nichts Gutes verheißen.
Nicht zu vernachlässigende Aspekte
Zwar mag vereinheitlichend von der »arabischen Wählerschaft« die Rede sein, doch ist dies alles andere als eine homogene Gruppe, die gleich Israels ultraorthodoxer Bevölkerung monolithisch zur Wahl streben würde.
Dass sich eine überwältigende Mehrheit der arabischen Wähler für arabische Parteien entscheidet, hat mit einer Nicht-Identifizierung mit den Charakteristika und Zielen der »zionistischen Parteien« zu tun und beinhaltet zugleich ein Statement der Distanzwahrung zum jüdischen Staat, ist aber nicht unbedingt mit einer Ablehnung der israelischen Identität oder einem Gutheißen der politischen Programme der arabischen Parteien gleichzusetzen. Es ist schlichtweg die beste aller schlechten Optionen, was längst zu der Forderung geführt hat, dass direkt von der arabischen Gemeinschaft aufgestellte Kandidaten ohne parteipolitisches Gedöns an den Start gehen sollten.
Nicht nur das offizielle Israel nimmt diese große Minderheit des Landes als klar umrissene Entität wahr, sondern auch die so Definierten sehen sich selbst in der überwältigenden Mehrheit in vielerlei Hinsicht als eine der jüdischen Mehrheitsgesellschaft gegenüberstehende Entität.
In sich könnte sie jedoch nicht heterogener sein: Zwei Millionen Bürger, darunter sunnitische und schiitische Muslime, mitsamt Beduinen, Ahmadiyya, Alawiten, Sufis, aber auch mit Drusen und Tscherkessen und ebenso mit Samaritanern und Christen verschiedener Denominationen, einschließlich Armenier, Kopten, Assyrer, aus dem Libanon geflohenen Maroniten und als eigenständige Volksgruppe anerkannte Aramäer, die eine Vielzahl von Traditionen pflegen und ein stark variierendes sozioökonomisches Spektrum abdecken. Zusammen bringen sie eine Vielfalt ein, die eine der faszinierenden Facetten der israelischen Gesellschaft ausmacht.