Israel vor der Wahl: Arabische Wahl-Beteiligung mit dramatischen Folgen (Teil 2)

Viel wird in Israel vom Wahlverhalten der arabsichen Bevölkerung abhängen
Viel wird in Israel vom Wahlverhalten der arabsichen Bevölkerung abhängen (© Imago Images / UPI Photo)

Israel ist im Wahlkampfendspurt. Einige Gruppen der jüdischen Mehrheitsgesellschaft sind noch unentschlossen und könnten ausschlaggebend sein. Viele glauben jedoch, dass genau das erneut Israels Arabern zufallen könnte, sodass die Frage im Raum steht: Welcher der Blöcke würde davon profitieren? (Teil 1 der Artikelserie finden Sie hier.)

Israels »zionistische Parteien« gruppieren sich in zwei Blöcken: Zum einen die Rechtskonservativen unter Benjamin Netanjahu mit neugruppierter Rechtsaußenflanke im Schlepptau, mit welcher der Ex-Premier Absprachen traf, sodass ihr kometenhafter Aufstieg zur vermutlich drittstärksten Knesset-Partei den Likud dennoch nicht blockiert. Zu ihnen gesellen sich die ultraorthodoxen Parteien, die prinzipiell als mit an Bord gelten, sich aber längst durchaus andere Konstellationen vorstellen können, weshalb Netanjahu sie bereits jetzt mit Vergünstigungszusagen bei der Stange zu halten versucht.

An der Spitze des gegnerischen Blocks steht Interims-Premier Yair Lapids Zukunftspartei, zu der sich politisch mehr oder weniger nahestehende Partner gesellen. Auf der linken Flanke die Arbeitspartei wie die Bürgerrechtspartei Meretz; doch stärkste Partei nach der Zukunftspartei wird wohl Benny Gantz’ umstrukturierte Blau-Weiß-Partei werden, die inzwischen HaMahane HaMamlachti heißt und zusammen mit Gideon Sa’ars Partei Neue Hoffnung antritt, die, ebenso wie Avigdor Libermans Yisrael Beitenu, dem rechtskonservativen Spektrum zuzuordnen ist, sich aber bedingt durch ihre Abneigung gegen Netanjahu im Lapid-Block tummeln.

Statisches Blockschlamassel

Die beiden Blöcke liegen weiterhin gleich auf, mal hier, mal dort ein Mandat mehr oder weniger, sodass es kaum eine Prognose gibt, die irgendjemandem 61 Mandate und somit die Aussicht auf eine regierungsfähige Koalition verheißt. Kein Wunder, denn Israels Wähler bekunden in weiten Strecken, dass sie genauso abstimmen werden wie schon bei den Wahlgängen zuvor, die dem Land am 1. November 2022 die fünfte Wahl in kurzer Abfolge beschert haben.

Es gibt auch unentschlossene jüdische Wählerkontingente, was für keine der Seiten eine wirklich gute Neuigkeit ist. Dazu gehört vor allem das Wählerspektrum von Ayelet Shaked, die die nun »Zionistischer Geist« genannte Partei von Ex-Premier Naftali Bennett »geerbt« hat, den Sprung in die Knesset allerdings wohl nicht schaffen wird. Ihre wegen Bennetts Rolle in der letzten Koalition enttäuschte religiös-nationale Wählerschaft liebäugelt stattdessen mit zwei Alternativen: Abwanderung zur Gantz/Sa’ar-Partei, doch vor allem die Religiösen Zionisten kommen infrage, die nicht nur von Bezalel Smotrich geprägt sind, sondern vor allem unter dem Regiment des zwar salonfähig gewordenen, aber selbst in rechtskonservativen Kreisen mit dem Wort Extremismus in Verbindung gebrachten Hardliner Itamar Ben Gvir stehen.

Das war’s dann auch schon mit der nennenswerten Wanderschaft jüdischer Wähler zwischen den Blöcken. Mit anderen Worten: Der Netanjahu-Block sieht zwar eine Wählerbewegung, aber eher innerhalb des eigenen Blocks, sodass ein Kippen des Gleichstands für ihn genauso wenig angesagt sein dürfte, wie dies dem Lapid-Block in Aussicht steht, der ohnehin relativ statisch daherkommt.

Folglich spielt das Thema allgemeine Wahlbeteiligung eine herausragende Rolle. Doch da ist ein weiterer Faktor, der alle zu einer zusätzlichen, massives Potenzial beinhaltenden dritten Kraft blicken lässt. So rangeln die »zionistischen Parteien« in unterschiedlichem Modus um die Gunst der arabischen Wähler, verlieren aber zugleich auch nicht die arabischen Parteikonstellationen aus den Augen.

Begehrte arabische Wählerstimmen

Trotz geheimer Wahl ermöglichen Urnenauszählungen ausschließlich arabisch geprägter Wohnorte Einblicke in das Wahlverhalten der muslimisch wie christlich-arabischen und drusischen Gemeinschaft, die auf Landesebene übertragbar sind. In Spitzenzeiten fallen fast dreißig Prozent der Stimmen der 1,5 Millionen arabischen Wahlberechtigten an »zionistische Parteien«. Bei der letzten Wahl waren es nur knapp zwanzig Prozent, sodass noch Luft nach oben ist und für »zionistische Parteien« zwei oder sogar mehr von dieser Wählergruppe vergebene Mandate enthalten könnten – eine Chance, die Pattsituation zu ändern.

Statistiken zeigen, dass Arbeitspartei und Bürgerrechtspartei Meretz bei der Wahl 2021 4,6 Prozent der arabischen Stimmen in den eindeutig geprägten Wohnorten erhalten haben. Doch arabische Wähler entschieden sich auch für Libermans Yisrael Beitenu und Gideon Sa’ars Neue Hoffnung (4,4 Prozent), die insbesondere bei »staatsloyal« geltenden Drusen gut ankommen. Dennoch ist der Likud jene »zionistische Partei«, die mit 5,2 Prozent das größte Kontingent der arabischen Wählerstimmen auf sich vereinen konnte. Nimmt man Shas mit 1,3 Prozent hinzu, so sind das die »zionistischen Parteien«, die mit Abstand die Nase vorn haben.

Auf Stimmenfang

Der Likud hat erneut eine auf die arabische Wählerschaft ausgerichtete Kampagne gestartet, wenngleich Netanjahu weiß, dass sein akkulturierter Stimmenwerbeversuch letztes Mal das angestrebte Ziel von zwei oder gar drei zusätzlichen Mandaten kläglich verfehlte, wesewegen seine Partei bei ihrer Kampagne diesmal keine Ausgaben scheut. Alleine für entsprechende Facebook-Werbung blätterte der Likud mit 13.500 Euro in drei Monaten mehr als doppelt so viel dafür hin als Ra´am und übertrifft die Hadash-Ta’al-Werbung auf Facebook um ein Vielfaches.

Mit einer Werbung um die Gunst des arabischen Wählers tut sich gegenwärtig überdies die jüdisch-ultraorthodoxe Partei Shas hervor. Stimmen bei Drusen zu angeln, ist eine tradierte Wahlkampfstrategie der Partei, doch man hat auch nichts gegen Stimmen aus dem Pool des »muslimischen Shas-Pendants« der Ra’am-Partei von Mansour Abbas, um sie nicht nur für sich, sondern für den eigenen Block zu gewinnen.

Auch die Parteien des durch den Sturz der Regierung frühzeitig aufgelösten Veränderungsblocks setzen auf die »arabische Karte«, allerdings anders akzentuiert. Für sie ist ausschlaggebend, dass diese Bevölkerungsgruppe am Wahltag unter keinen Umständen, so wie Umfragen andeuten, zu über sechzig Prozent  zu Hause bleibt. Darauf setzt vor allem die Bürgerrechtspartei Meretz, die die Nase voll hat vom Hickhack, das ihre arabische Abgeordneten verursachten, die zudem nicht wie erhofft arabische Wähler anzogen.

Auch Interims-Premier Yair Lapid wandte sich mit einer besonderen Botschaft an diese Wählerschaft, in der er betonte, dass seine Partei federführend dabei war, erstmals eine arabische Partei zur Koalition hinzuzuziehen. Er verwies darauf, dass fünfzehn Jahre der Vernachlässigung der arabischen Gesellschaft des Landes durch den Likud nicht so schnell zu korrigieren seien, er aber fest entschlossen sei, den begonnenen Prozess fortzusetzen. Doch nicht weniger wichtig sei, dass die arabischen Wähler unbedingt dabei helfen müssten, Netanjahu und »den anti-arabischen Extremisten Ben Gvir« auszubremsen.

Die zweitstärkte Partei dieses Blocks unter Leitung von Benny Gantz fährt eine andere Linie. Um im jüdischen Wählerspektrum ihre »staatstragende« Ausrichtung zu unterstreichen, waren Repräsentanten der Partei im Zentralen Wahlkomitee federführend an der Sperre der arabisch-national gesinnten Partei Balad beteiligt. Gantz vermag Drusen anzusprechen, aber Muslime nehmen ihn in erster Linie nicht nur als Ex-Militär und Verteidigungsminister wahr, sondern er steht auch für Momente größter Enttäuschung, da er in der Vergangenheit trotz Empfehlung zur Regierungsbildung seitens arabischer Parteien mit Netanjahu eine Verbindung einging und wiederholt Bedenken gegen eine arabische Partei in den Koalitionsreihen äußerte.

Stimmungsmache

Seit Wochen stößt man in den israelischen Medien auf Schlagzeilen wie »Niedrige arabische Wahlbeteiligung förderlich für Netanjahu«, »Spaltung arabischer Parteien verschafft Netanjahu Vorteil«, »Szenario, das der Rechten 64 Mandate bringt«, »Israels arabische Wähler haben Netanjahus Schicksal in der Hand« oder »Wie Israels Araber die Macht übernehmen können«. Damit Einhergehend hat jeder Wähler in Israel folgendes Umfrageergebnis wahrgenommen: 62 Prozent der befragten jüdischen Israelis wollen künftig keine arabische Partei in der Koalition sehen, während 51 Prozent der Araber genau dies befürworten.

Auch wenn Mansour Abbas Schallmauern durchbrochen hat, Bedenken der jüdischen Mehrheitsgesellschaft bleiben, und auch die Ying-Yang-Konstellation der jüdisch-arabischen Beziehungen scheint unverändert: Man will eigentlich nicht so recht mit dem anderen, kommt aber dennoch irgendwie miteinander aus; man ergänzt sich sogar, obwohl man nicht konträrer aufgestellt sein könnte – eine äußerst komplexe, vor allem aber komplizierte konditionierte Partnerschaft.

Schlummerndes Potenzial

Was bedeutet denn nun die Spaltung der arabischen Parteien für die beiden großen Blöcke der »zionistischen Parteien«? Wem kommt eine niedrige arabische Wahlbeteiligung letztlich zugute? Nicht nur mit diesen Fragen, sondern auch den Ursachen dieser Konstellationen beschäftigen sich unzählige journalistische Berichte und Kommentare, ebenso aber auch akademische Studien.

Selbst wenn der arabischen Stimmabgabe eine Schlüsselrolle zukommen wird und die Positionierung der arabischen Parteien ausschlaggebend sein könnte, darf man nicht vergessen: Zum einen ist noch Zeit bis zur Wahl – und in Israel kann viel passieren, sogar Dramatisches, wie die Ereignisse im Westjordanland und ihr Übergreifen nach Jerusalem veranschaulichen. Zum anderen ist es eine demokratische Wahl, bei der viele Faktoren mitschwingen, von denen jeder für sich eine Konstellation zu verändern oder im Zusammenspiel eine gegebene Situation vollkommen umzukrempeln vermag.

Kalkuliert man das Potenzial der 1,15 Millionen Wählerstimmen ein, welche die arabischen Stimmberechtigten Israel einbringen, so kommen dabei, vorsichtig gerechnet und nach unten abgerundet, zwanzig Knesset-Mandate heraus; ein Kontingent, das nicht nur die Pattsituation auflösen, sondern Israels Politik, so wie man sie kennt, vollkommen auf den Kopf stellen könnte.

Teil 1 der Artikelserie finden Sie hier.

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