Die Wochenendproteste gingen in die siebte Woche, und während der Ton auf beiden Seiten immer schärfer wird, werden auch die Warnungen vor einer Eskalation immer eindringlicher.
Vor einer Woche hatte Israels Staatspräsident Jitzhak Herzog Regierung und Opposition aufgerufen, sich bezüglich der Justizreform zu einem Dialog zusammenfinden. Eine der Konditionen, die er zur Aufnahme eines solchen kompromissermittelnden Dialogs stellte, war das Aussetzen der angelaufenen parlamentarischen Verfahren zur Umsetzung der Justizreform, worüber sich die Regierung unter Premier Benjamin Netanjahu am Monatg allerdings hinweggsetzte.
So trat zunächst der Justizausschuss für eine weitere Sitzung in Sachen Justizreform zusammen, und am späten Abend wurden die ersten Gesetzesänderungen in erster Lesung von der Knesset angenommen.
Abgestimmt wurde unter anderem über die zukünftige Beschränkung der Zuständigkeit des Obersten Gerichtshofes bezüglich Gesetze, die in Israel als Basic Law (Grundrechte) bezeichnet werden. Es sind keine Verfassungsrechte, da Israel keine Verfassung besitzt, aber doch Gesetze, die bislang nur mit größerer Parlamentsmehrheit antastbar sind. Dazu gehört das Gesetz zu menschlicher Würde und Freiheit, auf dessen Grundlage Zivilrechte wie das Recht auf Gleichstellung und freie Meinungsäußerung ausgelegt werden.
Vor der montäglichen Annahme in erster Lesung brachte der juristische Berater des Justizausschusses der Knesset, Gur Bligh, seine Experteneinschätzung zu diesem Aspekt ein: Die Änderung der Zuständigkeit des Obersten Gerichtshofes bezüglich solcher und anderer Zivilrechte bedeutet, dass sie nicht mehr im israelischen Recht verankert und somit geschützt wären.
Israels Regierung feierte den Montag als »Sieg der Demokratie«, wohingegen die Opposition ihn als Tag bezeichnete, an dem der »Untergang der israelischen Demokratie« begonnen habe. Das zeigt, wie sehr die Haltungen der Politiker bezüglich der Justizreform auseinanderdriften.
Da so verhärtete Fronten ein denkbar schlechter Ausgangspunkt für einen fruchtbaren Dialog sind, kam der Vorschlag auf, Experten relevanter Fachgebiete über Kompromissmöglichkeiten beraten zu lassen. Angesichts der Reaktionen auf Blighs juristische Einschätzung – von der einen Seite wurden seine Einlassungen als Attacke, von der anderen als Rückendeckung verstanden –, stünde jedoch selbst ein hochqualifizierter Expertenrat vor einer Mammutherausforderung beim Versuch, in Sachen Justizreform einen gemeinsamen Nenner zu finden.
Überstunden beim Inlandsgeheimdienst
Der israelische Inlandsgeheimdienst Shabak war in den vergangenen Tagen gleich an mehreren Fronten mit Überstunden konfrontiert. Nicht nur die letzten Terrorakte, sondern auch die immer häufigeren gewaltsamen Proteste in Jerusalems arabischen Wohnvierteln geben Anlass zur Sorge.
In solchen Angelegenheiten hat der Shabak die Erfahrung gemacht, dass sich durch umsichtige und diplomatische Maßnahmen brenzlige Situationen in der Hauptstadt entschärfen lassen und Terrorwellen zum Abebben gebracht werden können. Nicht ohne Grund rief daher Shabak-Leiter Ronen Bar den Minister für nationale Sicherheit, Itamar Ben-Gvir, (Otzmah Yehudit, Jüdische Stärke) schon letzte Woche zu Mäßigung und wohlüberlegten Maßnahmen auf. In Einklang mit Polizeichef Kobi Shabtai wies er zudem daraufhin, dass auch Minister an gesetzlich vorgeschriebene Befehlsketten und Zuständigkeitsbereiche gebunden sind. Bislang verhallten diese Aufrufe jedoch, sodass man nur hoffen kann, die befürchteten Folgen mögen nicht eintreten.
Das gilt auch für ein weiteres Thema, das den Shabak zusätzlich auf Trab hielt: der hitzige Diskurs, der nach Ansicht der Sicherheitsexperten darauf verweist, dass »das Gewaltpotenzial zunimmt und es zu einer Eskalation« kommen könnte. Diese Einschätzung veranlasste den Shabak-Leiter zu Unterredungen mit dem Staatspräsidenten als auch mit Politikern der Regierung und Opposition. An Justizminister Yariv Levin erging die dringende Bitte, »alles zu tun, um die Atmosphäre zu beruhigen«.
Diese Bitte blieb bislang jedoch genauso ungehört wie ein erneuter Appell von Staatspräsident Herzog, der, kaum, dass er veröffentlicht war, auch schon ausgeschlagen wurde. Der Vorsitzende des Justizausschusses Simcha Rothman von den Religiöse Zionisten bekräftigte, es gebe keine verhandelbare Angelegenheit und folglich auch keine Kompromisse. Einstweilen leitete der Shabak die Aufstockung des Personenschutzes für namhafte Politiker ein, für Oppositionsführer Yair Lapid sogar in verstärktem Maße.
Zwischenfälle, aber gewaltfrei
Bedenkt man, wie viele Menschen am samstäglichen Shabbat-Ende als auch am Montag an den unterschiedlichen Orten des Landes demonstrierten und Verkehrswege lahmlegten, so grenzt es an ein Wunder, dass es zu keinen nennenswerten und vor allem zu keinen gewalttätigen Zwischenfällen kam.
Nur auf der Ayalon-Schnellstraße in Tel Aviv gerieten Demonstranten und Polizei kurzzeitig brüllend aneinander. Im Verlauf des Montags schafften es einige Demonstranten, in die Knesset zu gelangen. Sie hatten ihre Stimmen kaum erhoben, als das Sicherheitspersonal schon zur Stelle war. Die Blockaden der Privatwohnsitze von Abgeordneten der Koalition sorgten hingegen für mehr Aufsehen und führten teilweise zu Aktionen, die allseits als »unangemessen« beurteilt wurden.
Doch auch hier kam es zu keinen Übergriffigkeiten, wie sie in Israel in den letzten zwei Jahren häufig vorgekommen sind. Davon können noch heute nicht nur Ex-Premier Naftali Bennett und Yamina-Abgeordnete Idit Silman berichten, sondern vor allem ihre Partner und Kinder, die immer wieder Zielscheiben von verbalen und sogar physischen Übergriffen wurden. Bezüglich eines Zwischenfalls, der sich am Montag vor der Knesset-Abstimmungen zugetragen hatte, sprach Oppositionsführer Yair Lapid eine formelle Entschuldigung aus, was die betroffene Likud-Abgeordnete Tally Gotliv jedoch nicht ihre Bezeichnung der Teilnehmer an der Sitzblockade zurücknehmen ließ: »Das sind Tier! Raubtiere!«
Ansonsten hörte man überall, egal auf welcher Demonstration, unendliche Male die Parole »De-mo-kra-tia« – und sah überdies erneut Meere von blau-weißen Fahnen mit Davidstern. Der Protest vor der Knesset endete wieder einmal mit dem Absingen der israelischen Nationalhymne.
Neue Gesichter
Unter den protestierenden israelischen Bürgern und Bürgerinnen konnte man in den letzten Tagen neue Gesichter erkennen: Prominenz des Landes und gleichzeitig Persönlichkeiten, die ansonsten eher im Hintergrund bleiben.
Dazu gehört Tamir Pardo, der eine schillernde Karriere im Dienst des Staates hinter sich hat. Als Soldat stand er an der Seite von Yoni Netanjahu, dem Bruder des Premierministers, als dieser bei der Geiselbefreiung in Entebbeerschossen wurde. Später wurde er von Benjamin Netanjahu zum Mossad-Chef ernannt. In Israel ist allgemein bekannt, dass die beiden fünf Jahre lang bestens zusammen gearbeitet haben. Jetzt gehört der 70-Jährige dem Komitee an, das die mehrere Dutzend NGOs koordiniert, die sich an den Protesten beteiligen.
Pardo kennt wiederum Yoram Cohen bestens, denn die Dienstzeit dieses ebenfalls von Netanjahu ernannten ehemaligen Shabak-Chefs überschneidet sich mit seiner eigenen Zeit als Leiter des legendären Mossad. Cohen, der sich nach seinem Ausscheiten aus dem aktiven Dienst im Jahr 2016 vollkommen ins Privatleben zurückgezogen hatte, sprach am Samstag am Shabbat-Ausgang auf einer Demonstration, die der rechtskonservative Ex-Minister Yoaz Hendel in Jerusalem angemeldet hatte. Auf der auf Wunsch der Veranstalter etwas abseits organisierten Demonstration fanden sich nicht wenige Vertreter der Rechtskonservativen und strengreligiöse Bürger und Bürgerinnen ein, die Cohens Bedenken teilen, die er mit folgende Worten umriss:
»Ich bin nicht säkular, ich bin kein Linker und ich bin auch kein Politiker. Ich gehöre nicht dem Justizwesen an, und gewöhnlich äußere ich mich nicht zu politischen Angelegenheiten. Trotzdem, oder vielleicht gerade deshalb, habe ich mich angesichts des Risikos, das die Justizreform für die Einheit der Nation und den demokratischen Charakter des Landes birgt, dieses Mal dazu entschieden, hier zu reden. (…)
Die geplante Reform wird die Regierungsstruktur in Israel verändern, da dann die Exekutive, an deren Spitze der Premierminister steht, über unbegrenzte Macht verfügen wird. Die für eine demokratische Gesellschaft erforderliche Gewaltenteilung wird verschwinden.«
Cohen steht mit seiner Warnung nicht allein. Nicht weniger als 460 Ex-Mitarbeiter des Shabak, darunter drei weitere ehemalige Leiter des israelischen Inlandsgeheimdienstes, haben den Knesset-Abgeordneten Avi Dichter (Likud), der zwischen 2000 und 2005 selbst als Shabak-Chef amtierte, in einem offenen Brief dazu aufgefordert, sich aus jenen Gründen, die Cohen ausführte, gegen die Justizreform zu stellen.
Das führte am Tag der Abstimmung in der Knesset zu einem landesweit wahrgenommenen Twitter-Kommentar: Israels Inlandsgeheimdienst sei in einen Coup gegen seinen Vater involviert, postete Yair Netanjahu, nur um die getippten Zeilen recht schnell wieder zu löschen, schließlich hat er schon die eine oder andere Erfahrungen mit Strafverfolgung infolge von Falschbehauptungen gemacht.