Die Hamas hat bewusst ein Dilemma geschaffen, in dem Israel gezwungen ist, zwischen seiner eigenen Sicherheit und dem Wohlergehen palästinensischer Zivilisten zu wählen.
Wie am Ende von Teil 2 dargestellt, sind die Umleitung von Hilfsgütern und andere Formen der Korruption in Konfliktgebieten allgegenwärtig und zählen zu den größten Herausforderungen für Hilfsorganisationen. Überraschend jedoch ist, wie sie und ihre Geldgeber, die aktuell Israel so massiv kritisieren, oft selbst damit umgehen: nämlich mit der Aussetzung von Hilfsleistungen.
Fallstudie Jemen
Im Jahr 2019 bezeichnete die UNO den Notstand im Jemen als die »schlimmste humanitäre Krise der Welt«. Ihr Ausmaß stellt selbst die schlimmsten Befürchtungen über den Gazastreifen in den Schatten.
Geschätzte 24 Millionen Menschen, darunter mehr als zwölf Millionen Kinder, benötigten humanitäre Hilfe. 7,4 Millionen waren auf medizinische Behandlung oder Vorbeugung von Unterernährung angewiesen, darunter zwei Millionen Kinder unter fünf Jahren mit akuter Unterernährung, also so viele wie die gesamte Bevölkerung des Gazastreifens. Über 360.000 Kinder unter fünf Jahren litten an schwerer akuter Unterernährung – etwa so viele, wie es insgesamt Kinder desselben Alters gibt. Die Prävalenz akuter Unterernährung bei Kindern unter fünf Jahren wurde landesweit auf zwölf Prozent geschätzt – im Gazastreifen lag der Schätzwert im Juli bei neun Prozent.
Nichtsdestotrotz setzte das World Food Programme (WFP) im Juni 2019 alle Nahrungsmittelhilfen für 850.000 Menschen in der Region Sanaa aus, nachdem Verhandlungen mit den Huthi über Maßnahmen zum Schutz vor Hilfsgüterdiebstahl gescheitert waren. Das WFP schätzte, dass in Huthi-Gebieten monatlich mindestens 17,5 Millionen Dollar (zehn Prozent) der Nahrungsmittelhilfe zur Finanzierung des Konflikts umgeleitet worden waren.
Der damalige Direktor des WFP, David Beasley, erklärte dazu: »Zu diesem Zeitpunkt kann man klar sagen, dass das humanitäre System militärische und politische Operationen finanziert. Wir sind unabhängig, neutral, unparteiisch, und wenn wir das nicht garantieren können, sollten wir nicht hier sein.«
Im Gazastreifen wird der Betrag, den die Hamas durch die Umleitung von UN-Hilfe generierte, auf Hunderte Millionen Dollar geschätzt, möglicherweise bis zu einer Milliarde Dollar. Doch da im Gazastreifen jedes moralische Prinzip auf den Kopf gestellt wird, beruft sich die UNO dort auf eben die humanitären Prinzipien von Unabhängigkeit, Neutralität und Unparteilichkeit, um die (unabhängige) Gaza Humanitarian Foundation (GHF) zu dämonisieren und stattdessen eine Rückkehr zum Status quo ante zu fordern – mit der Hamas als Herrscher über die humanitäre Hilfe.
Beasley fuhr fort: »Das ist eine der, wenn nicht die schwerste Entscheidung, die ich je in meinem Leben treffen musste. Der Jemen ist heute die schlimmste humanitäre Katastrophe der Erde, und sie wird durch die Umleitung von Nahrungsmittelhilfe verschärft.«
Das WFP nahm die Hilfsverteilung schließlich im August wieder auf, nachdem es Zusagen der Huthi erhalten hatte. Doch bald darauf, im März 2020, kündigte USAID an, alle Hilfsleistungen in den von den Huthi kontrollierten Gebieten im nördlichen Jemen einzustellen, da die Rebellen keinen »ausreichenden Fortschritt bei der Beendigung unzulässiger Eingriffe« in die Hilfseinsätze gezeigt hätten.
Dies zwang das WFP dazu, seine Nahrungsmittelrationen für die betroffenen Gebiete zu halbieren, was die ohnehin katastrophalen humanitären Bedingungen weiter verschärfte. Hilfsorganisationen warnten, die Kürzungen der US-Hilfe könnten den Zugang zu Notfallgesundheitsdiensten für mehr als fünf Millionen Menschen versperren – gerade zu einem Zeitpunkt, als Befürchtung vor einer Ausbreitung der COVID-Pandemie am Höhepunkt standen –, und könnten Millionen weiteren den Zugang zu Nahrung verwehren.
Ein US-Vertreter erklärte: »Alle sind darüber aufgebracht. Es widerspricht zutiefst den Gefühlen der Menschen. […] Auch wenn die Lage sehr ernst ist und wir lebensrettende Hilfe auf keinen Fall unterbrechen wollen, muss der Druck weiterhin aufrechterhalten werden, bis [die Huthi] sich fügen.«
Fallstudie Äthiopien
Im Frühjahr 2023 befand sich Äthiopien im dritten Jahr einer regionalen Dürre und hatte gerade begonnen, sich von einem zweijährigen Bürgerkrieg in Tigray zu erholen, der erst wenige Monate zuvor, im November 2022, beendet worden war. Im Jahr 2022 waren 29,7 Millionen Menschen, darunter 15,8 Millionen Kinder, auf dringende humanitäre Hilfe angewiesen. Über 4,7 Millionen Kinder unter fünf Jahren waren mangelernährt, 1,2 Millionen davon schwer mangelernährt. Das UNO-Kinderhilfswerk (UNICEF) schätzte die Zahl der Kinder unter fünf, die eine Behandlung aufgrund schwerer akuter Mangelernährung benötigten, auf 800.000.
Doch im Mai 2023 setzten USAID und das WFP die Nahrungsmittelhilfe für die Region Tigray aus, nachdem Teile der Hilfsgüter umgeleitet und auf lokalen Märkten verkauft worden waren. Neunzig Prozent der sechs Millionen Einwohner Tigrays waren auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen. Anfang Juni wurde die Aussetzung auf ganz Äthiopien ausgeweitet, nachdem USAID erklärt hatte, weit verbreitete Diebstähle von Nahrungsmittelhilfe entdeckt zu haben, einschließlich Umleitungen an äthiopische Militäreinheiten im Rahmen eines koordinierten Plans von Bundes- und Regionalbehörden.
US-Vertreter rechtfertigten die Aussetzung unter anderem damit, dass Äthiopien einen der größten Umleitungsskandalevon Nahrungsmittelhilfe darstellte, die je dokumentiert wurden. Eine Untersuchung schätzte, dass mehr als 7.000 Tonnen Weizen gestohlen worden waren. Der israelische Inlandsgeheimdienst Schin Bet vermutete im vergangenen Jahr, die Hamas habe rund sechzig Prozent der Hilfe für eigene Zwecke umgeleitet. Doch selbst bei einer Umleitungsrate von nur einem Prozent ergäbe sich angesichts der zwei Millionen Tonnen an Hilfsgütern, die seit Beginn des Kriegs in den Gazastreifen geliefert wurden, ein Ausmaß an Diebstahl, das Äthiopien um ein Vielfaches übertreffen würde.
WFP-Direktorin McCain erklärte damals: »Das WFP hat null Toleranz gegenüber Diebstahl oder Umleitungen, die verhindern, dass lebenswichtige Nahrung die Hungernden erreicht«, und fügte später hinzu: »Wir tun jetzt alles, was wir können, um sicherzustellen, dass das nie wieder passiert.« Doch die Details kommen einem nur allzu bekannt vor.
Eine Reuters-Untersuchung im vergangenen Jahr enthüllte, dass das WFP bereits im Jahr 2021 vor den Diebstählen in Äthiopien gewarnt worden war, sich jedoch entschied, wegzusehen. In mehreren Fällen stand das World Food Programme selbst unter Verdacht, direkt an Umleitungen beteiligt gewesen zu sein, als WFP-Vertreter einige Lastwagenkonvois anwiesen, Lieferungen in Gebieten abzuladen, in denen es gar keine Hilfsempfänger gab.
Im Widerspruch zur USAID-Untersuchung entlastete das WFP in seinem internen Untersuchungsbericht weitgehend sowohl sich selbst als auch die äthiopische und die Tigray-Regierung von Fehlverhalten und erklärte, es habe »keine Hinweise« gefunden, dass WFP-Mitarbeiter »in betrügerische Aktivitäten, Korruption, Kollusion oder Diebstahl verwickelt« gewesen seien. Stattdessen verwies es auf Hilfsempfänger als Hauptverantwortliche, die sich betrügerisch zusätzliche Lebensmittel beschafft und einen Teil ihrer Rationen weiterverkauft hätten – eine Vorgehensweise, die Hilfsorganisationen im Gazastreifen kunstvoll als »Selbstverteilung« bezeichnet haben.
Die Folgen der Hilfsgütereinstellung waren vorhersehbar. Bis Ende Juni hatten lokale Forscher und Regierungsbeamte 728 hungertote Menschen aus drei der sieben Teilregionen Tigrays dokumentiert. Bis August hatte sich die Zahl auf 1.411 beinahe verdoppelt. Eine Analyse des Nutrition Cluster für die Region Tigray vom August 2023 ergab, dass die Prävalenz akuter Mangelernährung gemessen anhand des mittleren Oberarmumfangs (MUAC) bei Kindern unter fünf Jahren 25,2 Prozent erreicht hatte (in einigen Teilregionen sogar 33,6 Prozent).
Zum Vergleich: Im Gazastreifen lag derselbe Wert im Juli laut UN bei neun Prozent, in Gaza-Stadt bei etwas über fünfzehn Prozent, wo er einen von zwei Indikatoren darstellte, die vom IPC verwendet wurden, um eine »Hungersnot mit hinreichenden Belegen« für das Gouvernement auszurufen. Als Israel die Hilfsgüterblockade verhängte, lag die akute Mangelernährung in der Küstenenklave bei 2,5 Prozent (4,1 Prozent in Gaza-Stadt), und es entschied, die Maßnahme aufzuheben, als die Mangelernährung auf 4,9 Prozent (5,8 Prozent in Gaza-Stadt) angestiegen war.

USAID und WFP hingegen setzten das Embargo in Äthiopien weitere drei Monate fort und nahmen die Nahrungsmittelhilfe erst wieder auf, nachdem eine umfassende Überarbeitung des Verteilungsmodells, einschließlich Implementierung digitaler Registrierungs- und Identifikationsverfahren für Hilfsempfänger, umgesetzt wurde.
Die Parallelen zwischen dem Gazastreifen und dem Jemen beziehungsweise Äthiopien sind zu offensichtlich, um ignoriert werden zu können.
Erstens: Wo bösartige Akteure humanitäre Hilfe missbrauchen, bleiben den Entscheidungsträgern nur schlechte Optionen. Zweitens: Die Einstellung von Nahrungsmittelhilfe selbst in den schlimmsten Notlagen kann unter Umständen gerechtfertigt sein – sei es, um nicht durch Korruption die Gewalt weiter zu befeuern, oder um einem Mindestmaß an Compliance zu forcieren. Drittens: Jeder versteht, wer letztlich für die negativen Folgen extrem schwieriger Entscheidungen verantwortlich ist: der Verursacher für diese Entscheidung; und niemand versteht das besser als die Hilfsorganisationen selbst – nur nicht im Gazastreifen.
Schlusswort
Durch die Umleitung von Hilfsgütern und den Einsatz menschlicher Schutzschilde hat die Hamas bewusst ein Dilemma geschaffen, in dem Israel gezwungen ist, zwischen seiner eigenen Sicherheit und dem Wohlergehen palästinensischer Zivilisten zu wählen.
Obwohl die Israelischen Verteidigungsstreitkräfte (IDF) in vielerlei Hinsicht mehr getan haben als jede andere moderne Armee, um zivilen Schaden zu mindern, lässt sich das Argument, wonach die einzigartigen, außergewöhnlichen Herausforderungen – das kleine Stück Land, das dicht besiedelte urbane Schlachtfeld, die Zivilbevölkerung, der von Ägypten verwehrt wird, aus dem Kriegsgebiet zu fliehen, die lokale Regierung, die das Leid der eigenen Bevölkerung instrumentalisiert – ebenso einzigartige, außergewöhnliche Vorsichtsmaßnahmen erfordern, nicht so leicht abtun. Die Ansicht, dass unter solch schwierigen Bedingungen das Viele, das von den IDF unternommen wird, womöglich trotzdem zu wenig sei, ist vertretbar. Doch die feindselige moralische Überlegenheit, mit der Israel von vermeintlichen Verbündeten begegnet wird, ist an Scheinheiligkeit kaum zu übertreffen.
Die größte Herausforderung für humanitäre Hilfsorganisationen heutzutage ist die Finanzierung. Das WFP prognostiziert, dass die Beiträge im heurigen Jahr auf 6,4 Milliarden Dollar fallen werden, ein Rückgang um 34 Prozent im Vergleich zu 2024, und damit das niedrigste Budget seit 2017. Bis zu 16,7 Millionen bedürftiger Menschen könnten davon negativ betroffen sein. Die Schließung von USAID durch die Trump-Administration könnte bis zum Jahr 2030 bis zu vierzehn Millionen Menschenleben kosten. Auch EU-Länder kürzen ihre Auslandshilfebudgets um Milliarden mit entsprechenden erwartbaren Folgen für die Hilfsempfänger.
Im Spannungsfeld zwischen Ausgaben für die eigene Wirtschaft und die Lieferung von Hilfe an hungernde Menschen haben sich die westlichen Länder für sich selbst entschieden. Humanitäre Hilfe ist sicherlich moralisch, wird aber nur selten als bedingungslose ethische Verpflichtung betrachtet. Es ist menschlich, das eigene Wohlbefinden zu priorisieren.
Gleiches gilt für Israel. Palästinensisches Wohlbefinden so gut es geht zu gewährleisten, ist sicherlich moralisch, doch gerade dort, wo es in Konflikt mit der eigenen Sicherheit gerät, ist es keine bedingungslose ethische Verpflichtung. Sicherheit ist kein weniger legitimer Grund, im Eigeninteresse zu handeln, als Wohlstand. Die ethische Verpflichtung beginnt erst dort, wo der Eigensinn übermäßig wird.
Ob Letzteres bei der Hilfsgüterblockade der Fall war, ist keine einfach zu beantwortende Frage. Die Antwort hängt einerseits vom erwartbaren militärischen Vorteil ab. Die bereits zitierten Artikel von BBC und WSJ legen nahe, dass die seit März ergriffenen Maßnahmen weitgehend erfolgreich waren, die Finanzen der Hamas zum Einsturz zu bringen; allerdings ist der militärische Vorteil dieses Zusammenbruchs schwer quantifizierbar.
Andererseits hängt eine Einschätzung auch vom erwartbaren zivilen Schaden ab. Mit einer gewissen Verschlechterung der Ernährungslage hätte vermutlich gerechnet werden müssen, aber angesichts der Menge an Lebensmitteln, die im März verfügbar war, und des bedeutenden Beitrags sowohl der Hamas als auch der UNO zur späteren Krise im Juli, war das volle Ausmaß dieser Entwicklung für Israel bei Einführung der Blockade wohl nicht absehbar.
Selbst bei Beantwortung dieser Fragen könnten vernünftige Menschen darüber uneins sein, was »übermäßiges Eigeninteresse« darstellt. Ist es übermäßig eigensinnig, Milliarden an Auslandshilfe zu streichen und damit möglicherweise Hunderttausende Menschen verhungern zu lassen, um Kürzungen bei Pensionen, im Gesundheitswesen oder bei Bildungsausgaben zu vermeiden? Ist es übermäßig eigensinnig, ein größeres Haus, ein neues Auto, ein besseres Mobiltelefon zu kaufen, wenn das Leben eines nigerianischen Kindes für den vergleichsweise geringen Preis von 3.000 Dollar gerettet werden könnte?
Nachdem es keine klaren Vorgaben gibt, laufen Verhältnismäßigkeitsüberlegungen Gefahr, zu einem Popularitätswettbewerb zu verkommen, den der jüdische Staat garantiert verlieren würde. Für den Großteil der Welt galt Israels Krieg in seiner Gesamtheit bereits im Oktober 2023 als exzessiv.
Aber unabhängig davon, wie man zur Blockade steht, ist der Krieg weitaus weniger zweideutig. Wer Israels Beharren auf der Zerstörung der Hamas angesichts der durch die Gruppe verkörperten Bedrohung als übertrieben darstellen will, sollte sich an die Reaktion des Westens auf die Bedrohung durch den Islamischen Staat erinnern. Die USA beriefen sich im September 2014 auf Artikel 51 der UN-Charta (Selbstverteidigung), zu einem Zeitpunkt, als die Gesamtheit der Todesopfer durch IS-Terroranschläge außerhalb des Iraks bei vier Menschen lag, die im Jüdischen Museum in Brüsselerschossen worden waren, darunter zwei Israelis.
Die Anti-IS-Koalition wurde damals von der halben Welt unterstützt, unter anderem auch militärisch von Ländern wie den Niederlanden, die nie einen IS-Terroranschlag auf eigenem Boden erleiden mussten. Über zehn Jahre und Tausende durch Luftangriffe der Koalition getötete Zivilisten später liegt die Gesamtzahl der Opfer in Europa und Nordamerika mit weniger als 500 Toten und 2.000 Verletzten bei nur einem Bruchteil dessen, was die Hamas allein am 7. Oktober 2023 angerichtet hat.
Wie die Europäer und Amerikaner werden auch die Israelis eines Tages mit den Folgen der Maßnahmen ringen müssen, die im Namen ihrer Sicherheit ergriffen wurden. Nicht alles ist zu entschuldigen, sicherlich nicht zu loben – einschließlich womöglich der Hilfsgüterblockade. Aber welche moralischen Fehltritte auch immer sichtbar werden, sie sind Ausdruck von Israels Menschlichkeit, nicht seiner Unmenschlichkeit.






