Latest News

Israel, die UNO und die »Hungerkrise« im Gazastreifen (Teil 2)

Bewaffnete und maskierte Kämpfer auf einem LKW mit Hilfsgütern in Gaza
Bewaffnete und maskierte Kämpfer auf einem LKW mit Hilfsgütern in Gaza (© Imago Images / Anadolu Agency)

Eine Reihe von Quellen diverser Herkunft sind sich einig darin, dass die Hamas für eine weit verbreitete Umleitung humanitärer Hilfe in Gaza verantwortlich war.

Eine mögliche Erklärung für die am Schluss von Teil 1 geschilderte Diskrepanz zwischen gelieferten und für die Bevölkerung zugänglichen Lebensmitteln war zugleich die Begründung der israelischen Regierung für die Blockade selbst und für viele der Einschränkungen während des Kriegs: Die Umleitung durch die Hamas.

Wenn die Hamas Lebensmittel für ihre Kämpfer stahl und hortete, könnte das erklären, warum bei der Bevölkerung nicht genug ankam. Doch selbst diese Behauptung ist umkämpft. So bestreiten sowohl die UNRWA als auch die Direktorin des Welternährungsprogramms (WFP) Cindy McCain, je Beweise für eine Umleitung von Hilfsgütern durch die Hamas gesehen zu haben.

Wo ist all die Nahrung hin?

In einem kürzlich erschienenen Kommentar räumten die ehemaligen Beamten der US-Regierung von Joe Biden Jack Lew (Botschafter in Israel) und David Satterfield (Sondergesandter für den Nahen Osten) zwar ein, dass »die Hamas Wege fand, Steuern einzuheben, Gelder zu erpressen und bis zu einem gewissen Grad Hilfe umzuleiten«, erklärten jedoch, die Israelischen Verteidigungsstreitkräfte (IDF) hätten mit ihnen niemals »Beweise geteilt – oder uns privat versichert –, dass die Hamas physisch von den USA finanzierte Güter, die vom Welternährungsprogramm oder internationalen Nichtregierungsorganisationen bereitgestellt wurden, umgeleitet habe«. Es gebe »keine Beweise für eine substanzielle Umleitung größerer Mengen an Hilfsgütern, die von den UN oder Nichtregierungsorganisationen bereitgestellt wurden«.

Die New York Times berichtete im Juli ebenfalls, die IDF hätten nie Beweise dafür gefunden, dass die Hamas »systematisch Hilfe von den Vereinten Nationen gestohlen« habe und berief sich dabei auf zwei anonyme hochrangige israelische Militärs. Man kann spekulieren, dass die einschränkenden Formulierungen in diesen Passagen beträchtliche Arbeit leisten. Die IDF haben zwar keine Beweise für einen »systematischen«, »physischen« Diebstahl speziell von UN-Hilfen öffentlich vorgelegt, allerdings wurden beschlagnahmte Hamas-Dokumente freigegeben, die darauf hindeuten, dass die Terrororganisation 15 bis 25 Prozent aller Hilfslieferungen für sich beanspruchte. Das könnte durchaus als »systematische Umleitung« bezeichnet werden, wenn auch nicht speziell von UN-Gütern, wie der Times-Artikel anmerkt.

Hinweise auf Hamas

In abgefangenen Mitteilungen verwiesen Hamas-Mitglieder auf überfüllte Lagerhäuser unter ihrer Kontrolle, was auf eine erhebliche Menge gestohlener Güter deutet, allerdings auch hier nicht spezifisch auf die UNO bezogen. In einer weiteren abgefangene Kommunikation beschweren sich niederrangige Hamas-Mitglieder über ihre Führungsebene, weil diese Waren aller Art gehortet haben soll. Derartige Indizien decken sich mit zahlreichen Berichten von Einwohnern des Gazastreifens seit Dezember 2023, darunter Vorwürfe, die Hamas kontrolliere die palästinensische UN-Flüchtlingsorganisation UNRWA im Gazastreifen.

Das Wall Street Journal berichtete im April unter Berufung auf anonyme arabische, israelische und westliche Vertreter, die Hamas habe während des Kriegs den Warenfluss genutzt, um Einnahmen zu lukrieren – durch Steuern auf Händler, das Erheben von Zöllen und die Beschlagnahme von Waren für den Weiterverkauf. Ähnliches bestätigte ein kürzlich veröffentlichter BBC-Bericht, wonach die Hamas Einnahmen durch Steuern auf Händler erzielte. Anonyme Quellen aus der Küstenenklave gaben außerdem an, die Hamas habe während des letzten Waffenstillstands »erhebliche Mengen an Hilfsgütern« beschlagnahmt.

Die Washington Post zitierte Bewohner, die bestätigten, die Hamas habe sowohl kommerzielle als auch humanitäre Lieferungen besteuert und entwendet. Ein Auftragnehmer, der an den Grenzübergängen arbeitete, schilderte, die Terrorgruppe habe regelmäßig unter Gewaltandrohung Schutzgelder erpresst. Er selbst kenne mindestens zwei Lastwagenfahrer, die von der Hamas getötet wurden, nachdem sie sich geweigerten hatten, zu zahlen. Ein Unternehmer bestätigte, dass die Hamas auf viele Waren Steuern von mindestens zwanzig Prozent erhob und Lastwagen mit Mehl und Treibstoff, die für Hilfsorganisationen bestimmt waren, umleitete.

Es gibt auch eine scheinbar endlose Fülle an Beweisen für Hamas-Diebstahl speziell von UNO-Hilfen, darunter Verhöraufnahmen eines ehemaligen UNRWA-Sicherheitsbediensteten, der von der Übernahme einer UNRWA-Einrichtung durch die Terrorgruppe, der Beschlagnahmung von Hilfslastwagen und UNRWA-Fahrzeugen berichtete, sowie zahlreiche Aussagen von Einwohnern, welche die Hamas bezichtigen, von UNO-Organisationen gestohlen zu haben.

In mehreren Fällen übten lokale Clans Rache an Hamas-Kämpfern, weil diese Familienmitglieder, die vor UNRWA-Lagerhäusern auf Lebensmittel gewartet hatten, getötet haben sollen – beispielsweise der Abu-Samra-Clan in Deir al-Balah und der Hassanein-Clan in Gaza-Stadt. Derartige Fälle deuten auf eine regelmäßige Präsenz der Hamas in UN-Verteilungszentren hin.

Häufige Bilder zeigen bewaffnete Palästinenser – laut IDF in den meisten Fällen Hamas-Terroristen – auf Hilfslastwagen oder in UNRWA-Logistikzentren. Da Hamas-Kämpfer keine Uniform tragen, ist es unmöglich, sie allein anhand der Bilder als solche zu identifizieren. Allerdings stimmt der Präsident der Palästinensischen Autonomiebehörde, Mahmud Abbas, der israelischen Einschätzung zu und macht hauptsächlich mit der Hamas affiliierte Banden für Plünderungen und Diebstähle verantwortlich.

Trotz der Konvergenz der Indizien schien die Debatte für viele entschieden, nachdem die Nachrichtenagentur Reuters über eine interne Untersuchung der United States Agency for International Development (USAID) berichtete. Die bis vor Kurzem noch größte ausländische Hilfsorganisation weltweit untersuchte 156 Vorfälle von Verlust oder Diebstahl von durch die USA finanzierten Hilfsgütern, die von lokalen Partnerorganisationen im Gazastreifen (USAID hat kein eigenes Personal vor Ort) zwischen Oktober 2023 und Mai 2025 gemeldet wurden, und fand keine Hinweise auf systematischen Diebstahl durch die Hamas. Zwar wurden 35 Vorfälle bewaffneten Akteuren zugeschrieben, doch die Untersuchung konnte keine Verbindung zu Gruppen feststellen, die von den USA als Terrororganisationen eingestuft werden.

Freilich wies niemand Geringeres als das interne Kontrollorgan von USAID selbst in einem Bericht vom Juli 2024 auf die inhärenten Probleme hin, sich auf Selbstanzeigen von Partnerorganisationen zu verlassen, die in unterschiedlichem Maße mit der Hamas verflochten oder von ihnen eingeschüchtert sein könnten. UN-Organisationen seien dem Bericht zufolge besonders zurückhaltend gewesen, Fehlverhalten zu melden. Von den damals siebzehn eingegangenen Meldungen stammten nur zwei von UN-Organisationen, obwohl diese mehr als fünfzig Prozent der USAID-Finanzierung für den Gazastreifen erhalten hatten.

Doch selbst abgesehen von der Frage der Zuverlässigkeit solcher Berichte würden die Ergebnisse der USAID-Untersuchung das angebliche Verhalten der Hamas nicht widerlegen. 85 der 156 Fälle (54 Prozent) wurden unbekannten Tätern (63), korrupten Subunternehmern (11), korruptem Hilfspersonal (5) und »anderen« (6) zugeschrieben – betrafen also Güter, die unter unbekannten Umständen gestohlen wurden.

»Die Mehrheit der Vorfälle konnte keinem bestimmten Akteur eindeutig zugeschrieben werden«, zitierte Reuters die Untersuchung. »Partner stellten oft lediglich fest, dass die Güter während des Transports gestohlen worden waren, ohne den Täter zu identifizieren.« Ein Forscher aus Gaza, der das UN-Hilfssystem untersucht hat, könnte das Rätsel gelöst haben: »Die Fahrer dieser Lastwagen informieren die Hamas, bevor sie mit der Hilfe hineinfahren. Sie geben ihr einen Teil ab und behalten auch etwas für sich und ihre Familien.«

Nicht überraschend

Zusammenfassend lässt sich sagen: Auch, wenn es streng genommen keine Beweise für einen »systematischen Diebstahl von UN-Hilfe« gibt, existieren dennoch Beweise sowohl für »systematischen Diebstahl« als auch für den »Diebstahl von UN-Hilfe«. Israelische, palästinensische, westliche und arabische Quellen sind sich alle einig, dass einzig die Hamas für eine weit verbreitete Umleitung humanitärer Hilfe verantwortlich war.

Das sollte eigentlich niemanden überraschen. Die Umleitung von Hilfsgütern und andere Formen der Korruption sind in Konfliktgebieten allgegenwärtig und zählen zu den größten Herausforderungen für Hilfsorganisationen. Überraschend jedoch ist angesichts der universellen und unmissverständlichen Verurteilung der israelischen Maßnahmen, wie diese Organisationen und ihre Geldgeber oftmals damit umgehen: nämlich mit der Aussetzung von Hilfsleistungen.

Teil 3 der Miniserie können Sie morgen hier lesen.

Bleiben Sie informiert!
Mit unserem wöchentlichen Newsletter erhalten Sie alle aktuellen Analysen und Kommentare unserer Experten und Autoren.

Zeigen Sie bitte Ihre Wertschätzung. Spenden Sie jetzt mit Bank oder Kreditkarte oder direkt über Ihren PayPal Account. 

Mehr zu den Themen

Das könnte Sie auch interessieren

Wir reden Tachles!

Abonnieren Sie unseren Newsletter und erhalten Sie alle aktuellen Analysen und Kommentare unserer Experten und Autoren!

Nur einmal wöchentlich. Versprochen!