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Israel und die Ukraine-Krise: Die Russen sind längst da

Flüchtlinge aus der Ukraine kommen am Ben-Gurion-Flughafen in Israel an
Flüchtlinge aus der Ukraine kommen auf dem Ben-Gurion-Flughafen in Israel an (© Imago Images / UPI Photo)

Israels Blick richtet sich vor allem auf die prekäre Situation der ukrainischen Juden. Parallel stellt man sich auf eine Masseneinwanderung aus Russland ein.

Auf dem Ben-Gurion-Flughafen geht es nicht nur wegen der aufgehobenen Pandemiebeschränkungen lebhafter zu, sondern auch wegen der nun in Israel eintreffenden Ukrainer. Bedingt durch die größere Entfernung zwischen der Ukraine und Israel ist bisher im Vergleich zu den europäischen Staaten nur eine moderate Zahl an Flüchtlingen im Land angekommen.

Diese eher geringe Anzahl ist auch darauf zurückzuführen, dass die israelische Innenministerin Ayelet Shaked jenen Ukrainern Vorrang einräumt, die eine Verbindung zum Judentum haben.

In Zeiten wie der momentanen humanitären Katastrophe schlägt ihr deshalb von vielen Seiten lautstarker Protest entgegen, der etwa folgendermaßen argumentiert: Das jüdische Volk erlebte in schrecklicher Weise während der NS-Zeit, was es bedeutet, wenn Staaten ihre Tore vor Menschen auf der Flucht verschließen, sodass es das moralische Gebot der Stunde sei, Schutzsuchende ohne Wenn und Aber aufzunehmen.

Flüchtlinge in Israel

Viele Kritiker nahmen jedoch nicht wahr, dass Innenministerin Shaked unbürokratisch die Aufenthaltsgenehmigungen von rund 26.000 ukrainischen Bürgern verlängerte, die über ein Arbeitsvisum verfügen, einschließlich der Verlängerung bereits abgelaufener Visa. Zudem verlängert sie die Visalaufzeiten für 4.000 Ukrainer mit laufenden Asylverfahren sowie für 7.200 ukrainische Touristen, die bei Kriegsausbruch in Israel weilten.

Trotz der Beschränkungen waren bis Mitte März überdies rund 15.000 ukrainische Flüchtlinge ins Land eingereist. Die Zahl wird weiter steigen, denn unter dem öffentlichen Druck revidierte Ministerin Shaked bereits einige der Konditionen.

Unter den Flüchtlingen sind Menschen mit besonderen Geschichten, wie Lasia und Alona, die nach einer Odyssee von ihrer kleinen ukrainischen Ortschaft nahe Belarus am Ben-Gurion-Flughafen eintrafen.

Sie wurden von Sharon Bass-Maor in die Arme geschlossen, denn mit der Ankunft der beiden Ukrainerinnen schloss sich der Lebenskreis von Bass-Maor: Schließlich handelte es sich um die Enkelinnen einer Ukrainerin, die ihrer Großmutter in der NS-Zeit das Leben gerettet hatte.

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Viele Geschichten haben also ein Happy End, doch leider gibt es auch endlose Berichte über die engstirnige oder absurde Bürokratie, die an das von Ephraim Kishon in seinen Büchern gezeichnete Israel-Bild erinnern.

Stockende Alijah

In Sachen Flüchtlingspolitik bekleckert sich Israel nicht mit Ruhm. Und trotzdem ist etwas dran an der Aussage, dass es für Flüchtlinge im Moment einfacher ist, nach Israel einzureisen als für Neueinwanderer.

Das reflektiert die Zahl der ukrainischen Neueinwanderer, die zwischen dem 24. Februar und Mitte März Alijah machten, und die mit lediglich 4.000 Personen deutlich unter den 15.000 Flüchtlingen im selben Zeitraum liegt.

Unter den Neueinwanderern befinden sich auch Shoa-Überlebende, die nun zum zweiten oder gar dritten Mal in ihrem Leben auf der Flucht sind. Auch wenn die Zahl markant niedriger liegt, als erst einmal angenommen, machen doch innerhalb weniger Wochen mehr Ukrainer Alijah, als üblicherweise im Verlauf eines gesamten Kalenderjahres.

Unter den in verschiedenen Ländern Europas gestrandeten drei Millionen Ukrainern sind weit mehr als 10.000 Juden – fast ein Fünftel der jüdischen Gemeinschaft des Landes – und noch mehr Personen, denen wegen jüdischer Vorfahren nach dem Rückkehrgesetz das Einwanderungsrecht zusteht.

Laut Angaben der Jewish Agency for Israel warten sie in Polen, Bulgarien, Rumänien und Moldau in mehreren Dutzend Hotels oder provisorischen Unterkünften jüdischer Gemeinden darauf, dass israelische Beamte ihre Papiere prüfen. Wer keine bei sich hatte, hat bei Israels Bürokratie sowieso keine Chance und sollte gleich weiterziehen.

Hinzu kommen potenziell Einwanderungsberechtigte, die bislang nur nach Lwiw in der Westukraine geflohen sind. Mit Vorrücken der Front ziehen einige von ihnen doch noch kurz entschlossen Richtung Westeuropa weiter, andere lassen im russischen Bombenhagel ihr Leben; darunter immer wieder auch Shoa-Überlebende.

In Lwiw – wie auch in mehreren Städten der ukrainischen Anrainerstaaten – sind einige wenige israelische Emissäre unter schwierigen Bedingungen hektisch bemüht, tagtäglich möglichst viele Alijah-Prüfungen zu bewältigen. Eine Einwanderung nach Israel ist in Normalzeiten mit einem nervenzerrenden Papierkrieg verbunden, der sich nach manchmal monatelangem Warten auf einen ersten Termin beim Konsulat nochmals über etliche Wochen hinzieht.

»Express-Alijah«

Israels Emissäre in Osteuropa schlugen vor Beginn des Krieges Alarm. Sie sahen kommen, dass wesentlich mehr Gesuche pro Tag eingehen, als Neueinwanderer den Weg nach Israel antreten werden.

Israel, das grundsätzlich immer schlecht vorbereitet ist, dafür aber in Notsituationen unglaublich schnell und flexibel zu reagieren vermag, scheint dieses Mal die Lage nicht nur verkannt zu haben, sondern nur schwerfällig in Schwung zu kommen.

Zwar war vor Kriegsausbruch die Rede von Vorbereitungen auf eine Masseneinwanderung, aber es scheint, dass die russischen Bomben die israelischen Behörden massiver lahmlegten, als sie die Ukraine in Schutt verwandelten.

Jetzt wird endlich nicht mehr an den Schubladenplänen israelischer Ministerien gebastelt, sondern vor Ort ein neues Verfahren umgesetzt. Das israelische Personal an Dutzenden Orten wurde aufgestockt und zusätzliche Büroräumlichkeiten geschaffen.

Bislang dauerte es rund eine Stunde, die Dokumente eines einzelnen Alijah-Antragstellers zu überprüfen. Nun wird eine Art »Express-Alijah« umgesetzt, d. h. in Israel nachgeforscht, ob die antragstellende Familie israelische Verwandte ersten Grades hat.

Das ist in fünfzehn Minuten gleich für mehrere Antragsteller bewerkstelligt, sodass Reisegenehmigungen im Handumdrehen ausgestellt sind. Weitere Prüfungen erfolgen erst, wenn die Personen im Land und somit nicht nur aus ihrer unmittelbaren Notlage erlöst, sondern auch in Sicherheit sind.

In Aussicht stehende Masseneinwanderung

Israel redet seit Wochen nicht nur über eine Masseneinwanderung aus der Ukraine – mehr als 50.000 Juden und 200.000 Einwanderungsberechtigte laut Rückkehrgesetz –, sondern der Blick wandert überdies auch nach Russland.

Laut Sergio Dell-Pergola, Professor für jüdische Demografie der Hebräischen Universität Jerusalem, leben in Russland rund 150.000 Juden und zusätzliche 400.000 Personen, die aufgrund jüdischer Vorfahren zur Alijah berechtigt sind.

Als mehrere israelische Minister nach Beginn der russischen Offensive und angesichts des nicht mehr völlig aus der Luft gegriffenen Szenarios eines an den Grenzen Russlands neu errichteten Eisernen Vorhangs laut über deren Schicksal nachdachten, hieß es: Low Profile wahren, um diese Menschen nicht zu gefährden.

Während die Mehrheit der Juden, die seit dem 24. Februar Alijah machten, aus der Ukraine kamen, erreichten dennoch im selben Zeitraum auch über 2.500 Neueinwanderer aus Russland und Belarus das Land.

Verglichen mit den sonst üblichen durchschnittlichen 3.500 bis 5.000 Neueinwanderern pro Jahr aus der Russischen Föderation wird deutlich: Auch hier ist das jüdische Volk in Bewegung.

Zwar wurden seit dem 24. Februar mit 1.400 Neueinwanderer-Visa auch in Russland mehr Anträge als sonst bearbeitet, dennoch nahmen die Wartezeiten schon Wochen vor dem Krieg zu. Da gegenwärtig rund zwölf Monate bis zum ersten Konsulatstermin in Moskau und St. Petersburg verstreichen, werden auch für russische Juden erste Forderungen nach einer »Express-Alijah« laut.

Russische Vorboten

Doch es gibt noch eine weitere Entwicklung, die die israelische Regierung verschlafen hat: russische Flüchtlinge. Europäische Schätzungen gehen von 200.000 Russen aus, die aus Angst vor Repressalien, aus Protest gegen Putins Politik oder wegen Verlust ihres Arbeitsplatzes das Land verlassen haben.

Mittlerweile sind bislang über 7.000 in Israel eingetroffen; fast ausschließlich Juden, nur wenige mit nichtjüdischen Partnern. Hinzu kommt eine bislang unbekannte Zahl russischer Juden mit Doppelstaatsbürgerschaft, die jedoch keinen festen Wohnsitz in Israel haben.

Doch unter den russischen Exilanten sind noch sehr viel mehr Juden, darunter auf halber Strecke nach Israel Gestrandete, denen das Geld ausging und deren Kreditkarten nur noch ein Stück Plastik sind.

Diese Flüchtlinge, die nur 10.000 Dollar aus Russland ausführen dürfen, nahmen nur das Nötigste mit, um bloß kein Aufsehen zu erregen. Dennoch wurden sie bei der Ausreise aus Russland regelrecht verhört, wobei es einigen bei der Einreise nach Israel nicht sehr viel besser erging.

Diese einstmals wohlsituierte Mittelschicht, darunter namhafte Künstler, Intellektuelle und Akademiker, versucht gegenwärtig, die letzten freien – kaum erschwinglichen – Mietwohnungen im Großraum Tel Aviv zu ergattern. Sie alle plagen Sorgen, weil sie keine Krankenversicherung haben und nicht wissen, wie es mit ihnen nach Ablauf ihrer Touristenvisa weitergehen wird.

In Israel selbst die Alijah zu beantragen ist ein bürokratischer Albtraum, die Wahrscheinlichkeit einer Abweisung eingeschlossen.

Natürlich sind unter ihnen auch Personen, die nicht aus politischen, sondern wirtschaftlichen Gründen Distanz zwischen sich und Russlands Metropolen brachten. Doch fast alle erleben gleichermaßen, dass sie in Russland geächtet werden.

Zwar genießen viele in Israel Hilfe von Freunden, doch weder empfängt die russischsprachige Gemeinschaft Israels sie durchgängig mit offenen Armen, noch zeigen sich die Behörden gnädig. Auch an dieser Front hat Israels Regierung dringenden Handlungsbedarf.

Im Nachgang

Als 1990 neben meiner Jerusalemer Zwei-Personen-WG eine Drei-Zimmer-Wohnung von zwölf russischen Neueinwanderern bewohnt wurde, zählte die israelische Bevölkerung 4,4 Mio. Bürger. Damals nahm Israel innerhalb weniger Jahre fast eine Million Juden aus der ehemaligen Sowjetunion auf.

Es dauerte eine Weile, bis sich Neuankömmlinge und Alteingesessene arrangiert hatten. Diese Alijah war eine Herausforderung, die jedem Einwohner etwas abverlangte, und doch war sie zur Bereicherung der gesamten Gesellschaft eine Erfolgsgeschichte. Inzwischen gilt Israel als Start-up-Nation, die die Corona-Pandemie besser überstanden hat als viele andere Nationen.

Zugegeben, mein Land leidet unter einer immer massiver auseinanderklaffenden sozialen Schere und gilt jetzt schon als Land mit hoher Bevölkerungsdichte. Aber zu erleben, dass in Zeiten einer humanitären Katastrophe wegen einiger zehntausend Flüchtlinge nicht nur aus Identitätsgründen gezaudert wird, sondern wirtschaftliche Erwägungen mitschwingen, stimmt doch viele Israelis nachdenklich.

Sollte eine Masseneinwanderung einsetzen, steht uns, die wir es mit mittlerweile 9,3 Mio. auf mehr als doppelt so viele Einwohner als Anfang der 1990er Jahre bringen, ein ähnliches Kontingent an Einwanderern ins Haus wie damals – vorausgesetzt, jeder, der aus der Ukraine und aus Russland einwandern könnte, würde dies tatsächlich tun.

Doch weiterhin dümpelt meine Regierung herum und scheint schon jetzt völlig aus dem Häuschen zu sein. Was ist bloß aus dem vielgepriesenen israelischen Mantra »Geht nicht gibt es nicht!« geworden?

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