Im Brennpunkt der Proteste gegen die neue israelische Regierung steht die angekündigte Justizreform, in deren Kern es um den Obersten Gerichtshof geht.
In Israel brodelt es. An jedem Wochenende demonstrieren, auf viele Städte verteilt, viele Zehntausende von besorgten Bürgerinnen und Bürger. Von verschiedenen Fachbereichen der Gesellschaft – Juristen, Bürgermeister, frühere hohe Beamte und Militärs, Finanzexperten, Hightech-Unternehmer, Psychologen – kommen täglich zum Teil sehr scharf formulierte Warnrufe.
Verursacht ist die Besorgnis durch fast alles, was Mitglieder der im Dezember angetretenen rechtsreligiösen Regierungskoalition angedacht oder eingeleitet haben. Doch im Brennpunkt der Proteste steht jetzt eines: die vom neuen Justizminister Yariv Levin, mit dem Segen des altneuen Premiers Benjamin Netanjahu, angekündigte Reform des Justizwesens.
Im Brennpunkt dieser Reform wiederum steht der Oberste Gerichtshof (OGH). Er gilt als einzige Institution des Staates, die die gewählten Politiker, also Regierungsmitglieder, Parlamentarier und Kommunalpolitiker, bremsen oder zurückpfeifen, ja ihnen sogar etwas vorschreiben kann.
Es gibt zwar auch noch die Institution des Staatskontrolleurs, der Ministerien und anderen öffentlichen Körperschaften auf die Finger schaut, doch seine Berichte, die oft skandalöse Missstände aufzeigen, landen in der Schublade, und sein Amt ist zahnlos. Zudem gibt es die offizielle Funktion der »Rechtsberater« der Regierung und der einzelnen Ministerien, die rechtliche Einwände gegen politische Entscheidungen erheben können, aber auch hierfür sind Reformen geplant, die wir hier jedoch einmal beiseitelassen.
Ab hier werden wir Vergleiche mit den politischen Systemen anderer Länder anstellen. Solche Vergleiche werden ja auch ständig in die israelische Debatte geworfen. Weil jedes Land mit seinen jeweiligen Institutionen, die einander ausbalancieren und ergänzen, ein Fall für sich ist, sind solche Vergleiche immer problematisch, aber sie sind notwendig, um irgendeine Art von zumindest grober Einschätzung zu ermöglichen.
»Aktivismus« des OGH
Verglichen mit den Höchstgerichten anderer westlicher Demokratien ist Israels OGH sehr »präsent« und in der Praxis sehr einflussreich. Der österreichische Verfassungsgerichtshof und das deutsche Bundesverfassungsgericht wirken zurückhaltender und kommen viel seltener in den Medien vor als ihr israelisches Pendant.
Der israelische OGH kann bei den Alltagsnöten eingreifen, die kleine Bürger mit den Behörden haben. So hat er im Dezember 2014 etwa über ein Strafmandat von 100 Schekel (ca. 28 Euro) entschieden, das über einen Autofahrer wegen Falschparkens in einer Kurzparkzone in Tel Aviv verhängt worden war.
Und er greift regelmäßig in den politischen Alltag ein. Ein Beispiel: Im April 2018 ordnete der OGH an, neunzig Palästinensern aus dem Westjordanland die Genehmigung zur Einreise für die Teilnahme an einer Zeremonie in Tel Aviv zu geben – zuvor hatte der Verteidigungsminister die Genehmigung verweigert, eine politische Entscheidung, für die er zuständig war.
In den vergangenen Jahren hat sich der OGH etwa auch in die Gesundheitspolitik (Anti-Corona-Maßnahmen) oder die Energiepolitik (Umgang mit den Erdgasfunden) der Regierung eingeschaltet. Dieser „Aktivismus“ des OGH wird schon seit Jahrzehnten immer wieder kritisiert. Reformvorschläge waren etwa auch von den früheren Justizministern Daniel Friedmann und Gideon Saar gekommen.
Als Begründung für die jetzigen Reformpläne wird angeführt, dass der OGH sich nach und nach ohne rechtliche Grundlage politische Befugnisse angeeignet habe, die nur gewählten Volksvertretern zustünden, und dies sei undemokratisch. Gegner der Reformpläne argumentieren, dass der OGH der einzige Schutzschild gegen Verletzungen von Grundrechten sei – die angestrebte Schwächung des OGH würde Israels »Justizsystem zerschlagen« und die Demokratie gefährden.
Schwächung des OGH
Drei Punkte der geplanten Reform würden den OGH erheblich schwächen.
1.) Ernennung der Höchstrichter
Nach jetzigem Stand werden neue Höchstrichter durch eine neunköpfige Kommission gewählt, in der drei amtierende Höchstrichter, zwei Minister, zwei Parlamentsabgeordnete und zwei Vertreter der Rechtsanwaltskammer sitzen. Die Politiker haben in der Kommission gegenwärtig also keine Mehrheit.
Die Reform sieht nun eine Wahlkommission vor, in der die Politiker in der Mehrheit wären. Somit könnte die jeweilige Regierungskoalition ihr genehme Höchstrichter einsetzen. Mit anderen Worten: Die Parlamentsmehrheit soll jene Personen aussuchen, deren Aufgabe es ist, eben die Macht der Parlamentsmehrheit unter Kontrolle zu halten.
Wenn ab jetzt die Politik die Höchstrichter ernenne, sei die Gewaltentrennung, ein Grundprinzip der Demokratie, nicht gewährleistet, beanstanden die Gegner der Reform.
Dem kann man entgegenhalten, dass in anderen Demokratien die Höchstrichter immer schon durch die Politik eingesetzt wurden. In Deutschland werden die Mitglieder des Bundesverfassungsgerichts durch Bundestag und Bundesrat gewählt. In Österreich werden die Mitglieder des Verfassungsgerichtshofs von Bundesregierung, Nationalrat und Bundesrat vorgeschlagen und vom Bundespräsidenten ernannt. In den USA werden die Höchstrichter vom Präsidenten ausgesucht und vom Senat bestätigt.
Hier kann wiederum eingewendet werden, dass Israels Parlament ja nur eine einzige Kammer hat und daher durch ein von der Politik unabhängiges Höchstgericht »beaufsichtigt« werden sollte. In Ländern mit einem Zwei-Kammern-System ist das vielleicht nicht so wichtig, weil es eben in der Form der zweiten Kammer eine Kontrollinstanz für die Gesetzgebung gibt. Doch andererseits: Der Bundesrat in Deutschland, der Bundesrat in Österreich oder das House of Lords im Vereinigten Königreich haben geringe Bedeutung, und niemand sieht gerade in ihnen die Hüter der Demokratie.
In der hitzigen Debatte um die Änderung der Spielregeln für die Richterwahl scheint dabei auf beiden Seiten die Vorstellung zu bestehen, dass die neue Regierung nun alle fünfzehn israelischen Höchstrichter und -richterinnen mit einem Schlag austauschen wird. Das wäre ja nun wirklich eine dramatische Entwicklung, aber davon kann natürlich keine Rede sein.
Mitglieder des OGH werden ersetzt, wenn sie das Pensionsalter von siebzig Jahren erreichen. Das wird in den kommenden zweieinhalb Jahren nur für zwei Richterinnen und einen Richter der Fall sein. Elf der Höchstrichter werden erst 2027 oder später in Pension gehen. Auf jeden Fall wird also der Großteil der jetzigen Höchstrichter noch lange weitermachen, nachdem die jetzige Regierung längst Geschichte sein wird.
2.). »Hinwegsetzungsparagraph«
Nach jetzigem Stand kann der OGH ein vom Parlament beschlossenes Gesetz aufheben, was endgültig und bindend ist. In der Reform ist nun eine Bestimmung vorgesehen, die man unelegant mit »Hinwegsetzungsparagraph« übersetzen könnte (hebräisch »Piskat hahitgabrut«).
Ein vom OGH gekipptes Gesetz könnte dann im Parlament nochmals zur Abstimmung gebracht werden. Wenn 61 der 120 Abgeordneten dafür stimmen, würde das Gesetz für die Dauer von vier Jahren trotzdem in Kraft treten. Das Parlament könnte sich also relativ leicht über den OGH hinwegsetzen.
Damit bekäme die Regierungskoalition beinahe uneingeschränkte Macht, warnen Gegner der Reform. Befürworter weisen darauf hin, dass auch in einigen anderen Demokratien, etwa in den Niederlanden und im Vereinigten Königreich, das Prinzip der »parlamentarischen Souveränität« gelte, das die gesetzgebende Körperschaft über die Gerichte stellt. Insbesondere wird immer wieder Kanada angeführt, dessen »notwithstanding clause« mit dem angestrebten »Hinwegsetzungsparagraphen« vergleichbar sei.
3.) »Angemessenheitsbegründung«
Der OGH wendet regelmäßig ein über die Jahre von ihm selbst geschaffenes Prinzip der »Angemessenheit« auf Entscheidungen von Regierung, Ministerien, Kommunalverwaltungen und anderen Behörden an. Nach jetzigem Stand kann der OGH also ohne Berufung auf ein spezifisches Gesetz oder Grundgesetz, nur auf der Basis von subjektiven Werten des Richterkollegiums, eine Maßnahme wegen »extremer Unangemessenheit« verbieten.
Nach der Reform soll diese »Angemessenheitsbegründung« (wieder eine klobige Übersetzung aus dem Hebräischen) von OGH-Erkenntnissen nicht mehr möglich sein. In die Debatte hierüber spielt der Umstand hinein, dass Israel zwar dreizehn »Grundgesetze« im Verfassungsrang, aber noch immer keine »komplette« Verfassung hat.
Gegner der Reform sagen, gerade anhand der »Angemessenheitsbegründung« fülle der OGH Lücken beim Schutz von Menschen-, Freiheits- und Minderheitenrechten – eine für die Demokratie essentielle Rolle als eine Art »Verfassungs-Ersatz«. Reformbefürworter sagen hingegen, eine nicht vom Volk beauftragte und nicht absetzbare Richter-»Clique« nütze das Fehlen klarer Verfassungsvorschriften aus, um sich Autorität über demokratisch gewählte Organe anzumaßen.
Kompromiss oder Chaos?
Laut Justizminister Levin bezweckt er mit seiner Reform die »Reparatur der Demokratie«, die »Stärkung des Rechtssystems« und die »Wiederherstellung des Gleichgewichts zwischen den drei Staatsgewalten«. Gegner der Reform glauben ihm kein Wort und mobilisieren sich gegen das »Ende der Demokratie«, die »Zertrümmerung des Rechtssystems«, die »faschistische Diktatur«, den »Putsch« und den »Pogrom«.
In der Mitte stehen viele, die eine Justizreform wollen, aber einvernehmlich und behutsam, nicht einseitig diktiert und im Blitztempo durchgepeitscht. Eine Umfrage des Fernsehsenders Kanal 12 ergab, dass 62 Prozent der Bevölkerung dafür sind, die Reform zu unterlassen oder zu bremsen, während nur 28 Prozent dafür sind, sie wie angekündigt durchzuziehen.
Insbesondere Staatspräsident Jitzchak Herzog ruft beide Seiten auf, den Ton zu mäßigen, und bemüht sich, eine zwischen Koalition und Opposition abgesprochene Justizreform mit breiter Zustimmung herbeizuführen: »Bleibt kurz stehen und holt einmal tief Luft, denn eine gewaltige Mehrheit im Volk möchte einen Dialog.«
Wenn alle sich in ihren Positionen eingraben und die aggressive Rhetorik fortsetzen, könnte Israel äußerstenfalls in eine Situation schlittern, wo Parlament und OGH wechselseitig ihre Entscheidungen nicht anerkennen, also in ein gefährliches Verfassungschaos. Doch die Reformgesetze müssen durch drei Lesungen, ehe sie gültig werden, ein Weg, der Wochen und Monate dauert. Man darf hoffen, dass Levins ursprünglicher Entwurf noch deutlich abgemildert wird.