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Israel: Militärischer Mehrfrontenkrieg und innere Konflikte

Aktuell gehen in Israel unterschiedlich Gruppen mit diversen Agenden zu Demonstrationen auf die Straße
Aktuell gehen in Israel unterschiedlich Gruppen mit diversen Agenden zu Demonstrationen auf die Straße (Imago Images / ZUMA Press Wire)

In solidarischer Einigkeit begann Israel seinen Kampf gegen die Hamas, mittlerweile ist diese nationale Geschlossenheit jedoch ins Wanken geraten.

Unter dem Motto »Gemeinsam werden wir siegen« zog Israel dereinst in den Krieg. Heute wirkt der Slogan für viele hohl, wie ein Echo aus einer anderen Zeit. Schließlich ist die nationale Geschlossenheit arg ins Wanken geraten.

Die Proteste gegen die Regierung, die das Land bereits vor dem 7. Oktober 2023 tief gespalten hatten, erleben jetzt, nach rund achtzehnmonatiger Pause, ein Comeback. Allerdings gibt es einen markanten Unterschied: Handelte es sich damals um ein weitgehend homogenes Lager, das sich geschlossen gegen ein Thema, nämlich die angestrebte Justizreform, stellte, versammeln sich heute unter dem Banner der Proteste unterschiedliche Gruppen mit diversen Agenden.

Unterschiedliche Gruppen

Zum einen demonstrieren Angehörige der Geiseln und viele Israelis, die sich mit ihnen solidarisieren. Das, so ihre Forderung, sollte oberste Priorität der Regierung sein. Innerhalb dieser Gruppe gibt es aber unterschiedliche Stimmen. Einige verlangen, aus Sorge, weitere Militäroperationen könnten die Geiseln gefährden, einen sofortigen Waffenstillstand; andere das genaue Gegenteil, also eine härtere Gangart, weil sie meinen, nur Druck auf die Hamas würde Erfolge bringen. Dritte plädieren für eine Rückkehr an den Verhandlungstisch und weisen darauf hin, dass die meisten Geiseln nur durch Gespräche freigekommen sind.

Zum anderen gehen auch jene auf die Straße, die über die Regierung und besonders über das Verhalten von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu empört sind. Auch hier ist das Publikum vielschichtig; einige protestieren auch gegen die geplante Entlassung von Ronen Bar, dem Chef des Inlandsgeheimdienstes Shin Bet.

Zwar bestreitet kaum jemand, dass er nach dem Desaster vom 7. Oktober 2023 Mitverantwortung trägt und der Regierungschef das Recht hat, ihn seines Amts zu entheben. Doch der Zeitpunkt erscheint verdächtig, da Bar und sein Team gerade erst mit den Ermittlungen zur sogenannten Katargate-Affäre begonnen haben. Dabei geht es um Zahlungen aus Katar an Mitarbeiter im Büro des Premierministers. Letztere sollen beauftragt worden sein, das Image des Golfstaates in Israel aufzupolieren. Für Netanjahu könnten die Ermittlungen also unangenehm werden.

Das weiß auch Generalstaatsanwältin Gali Baharav-Miara, die unter Verweis auf einen Interessenskonflikt Einspruch gegen die Entlassung von Bar erhoben hat. Daraufhin begann die Regierung ihrerseits mit einem Verfahren zur Entlassung der standhaften Generalstaatsanwältin. Diese Entwicklung veranlasst nun wiederum viele Israelis, auf die Barrikaden zu gehen, weil sie in Baharav-Miara eine Bastion des Rechtstaats sehen und ihren Verbleib im Amt fordern.

Das Oberste Gericht, das nun über die Causa entscheiden soll, hat zwischenzeitlich eine einstweilige Verfügung gegen Bars Entlassung verhängt. Netanjahu ließ aber bereits durchblicken, einem endgültigen Richterurteil nicht unbedingt Folge zu leisten. Zahlreiche Israelis gehen also jetzt auch auf die Straße, um die potenzielle Justizkrise schon im Vorfeld zu unterbinden. Manche Politiker und Organisationen drohen gar mit einem landesweiten Streik.

Und dann sind da noch die Proteste rund um die Wehrpflicht streng orthodoxer Männer. Die einen gehen auf die Straße, weil sie eine Einberufung der sogenannten Haredim strikt ablehnen. Andere wiederum demonstrieren genau für das Gegenteil: Sie fordern, dass auch Ultraorthodoxe, genau wie andere junge Israelis, ihren obligatorischen Militärdienst leisten.

Widerstandsfähige Demokratie

Neben dem militärischen Mehrfrontenkrieg toben in Israel also auch mannigfache innere Konflikte. Und als wäre all das nicht genug, rufen die Demonstrationen in Teilen der Bevölkerung großen Unmut hervor. Bei Anhängern der Regierung sowieso. Aber viele Kritiker, welche die Proteste an sich als berechtigt erachten, meinen, diese würden Israel gerade zu diesem Zeitpunkt empfindlichen Schaden zufügen. Schließlich, so ihr Argument, hätten die inneren Spannungen vor dem 7. Oktober 2023 der Hamas und ihren Verbündeten Schwäche und Verwundbarkeit signalisiert und dergestalt den grausamen Überfall begünstigt.

Seth Frantzman, politischer Chefkorrespondent der Jerusalem Post, kann das Argument nachvollziehen, sieht die Sache aber anders. In einem Interview mit Dan Senor im Podcast Call Me Back erläutert Frantzman, wie sehr sich die aktuelle Situation von der Zeit vor dem Hamas-Massaker unterscheidet. Damals, als sich Israel in relativer Sicherheit wähnte, drohten Reservisten im Rahmen der Justizreform-Proteste mit Dienstverweigerung. Heute ist das anders: »Jetzt, da wir wissen, welcher Gefahr Israel ausgesetzt ist, stellen alle die Verteidigung des Landes an erste Stelle.«

Die Protestierenden würden sich nicht im Widerspruch zum nationalen Zusammenhalt sehen, sondern vielmehr als Teil davon: »Alle, die heute demonstrieren, kämpfen für den Erhalt des Landes und der Demokratie, und sie sind es ja auch, die Israel militärisch verteidigen.« Die Proteste auf der Straße und der Einsatz an der Front seien für viele keine Gegensätze, sondern zwei Seiten derselben Verantwortungsmedaille.

»Eine starke Demokratie ist widerstandsfähig – sie kann Kriege und Krisen überstehen und daraus neue Stärke schöpfen«, so der Journalist. Als Beispiel nennt er die USA, die selbst während des Bürgerkriegs Wahlen abhielten und gefestigt aus der Krise hervorgingen. Autoritäre Regime hingegen seien auf lange Sicht instabil, während Demokratien gewinnen. Frantzman setzt in erster Linie auf die israelische Gesellschaft, die trotz der teils tiefen Spaltungen in einem Punkt vereint bleit, nämlich in ihrem Willen, ihr Land und seine demokratischen Strukturen zu erhalten. Ob in diesem Sinn der Slogan »Gemeinsam werden wir siegen» doch noch aktuell ist, bleibt dahingestellt.

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