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Israel im Ausnahmezustand

Wie hier in Tel Aviv protestierten in Israel erneut zahlreiche Menschen gegen die Justizreformpläne der Regierung. (© imago images/ZUMA Wire)
Wie hier in Tel Aviv protestierten in Israel erneut zahlreiche Menschen gegen die Justizreformpläne der Regierung. (© imago images/ZUMA Wire)

Der seit Wochen anhaltende Streit über die Justizreform hat sich dramatisch zugespitzt. Tage wie diese hat Israel noch nie zuvor erlebt.

Schon seit Wochen war klar, dass Israel auf eine extrem angespannte letzte Märzwoche zusteuert. Im Justizausschuss und im Knesset-Plenum hatte die Regierung Marathondebatten angesetzt, um noch vor Ende der winterlichen Sitzungsperiode einige bedeutsame Gesetze des Justizreform-Gesamtpaketes zu verabschieden. Für diese parlamentarisch hektische Woche hatte die Protestbewegung, die seit drei Monaten zu Demonstrationen gegen die Veränderungen im Justizwesen aufruft, eine »Woche der nationalen Lähmung« ausgerufen, um ihrer Ablehnung der Vorgänge in der Knesset noch mehr Nachdruck zu verleihen. Doch kurz vor Anbruch dieser spannungsgeladenen Woche trugen sich Ereignisse zu, die Dynamiken entwickelten, mit denen niemand gerechnet hatte, egal ob für oder gegen die neuen Gesetze.

Israels Premier übernimmt das Steuer

Die letzten Monate schwieg Israels Premier Benjamin Netanjahu zur Justizreform, denn 2020 hatte er zugestimmt, sich wegen Interessenkonflikten infolge der gegen ihn laufenden Prozesse aus parlamentarisch-juristischen Verfahren herauszuhalten. Im Gegenzug hatte ihm die Staatsanwaltschaft zugebilligt, als Politiker aktiv bleiben zu können; eine Auflage, an die er zu Jahresbeginn noch einmal ausdrücklich erinnert wurde.

Nachdem die Knesset am Donnerstag, den 23. März, ein Gesetz verabschiedete, laut dem ein Premier zukünftig nur wegen körperlicher oder geistiger Untauglichkeit für amtsunfähig erklärt werden kann, sah Netanjahu sich offenbar nicht mehr angreifbar – und frei, sich doch zur Justizreform zu äußern.

Für den Abend war eine Ansprache von Verteidigungsminister Yoav Galant (Likud) angekündigt. Dass immer mehr israelische Reservisten ankündigten, wegen der Implikationen der Justizreform dem Armeedienst fernzubleiben, und dieses Phänomen sich auf die Reihen der Wehr- und Berufssoldaten auszweiten drohte, hatte ernsthafte Fragen bezüglich der Sicherheit des Landes aufgeworfen. Doch statt Galant meldet sich Premier Netanjahu zu Wort.

Angesichts der immer umfangreicheren Proteste, der zahlreichen Warnungen vor wirtschaftlichen Folgen und sicherheitspolitischen Implikationen, der in Aussicht stehenden internationalen Isolation Israels, aber auch wegen der Äußerungen einiger Likud-Abgeordneter, vielleicht doch lieber mit der Justizreform innezuhalten, stand die Hoffnung im Raum, der Premier würde bislang ausgeschlagene Vermittlungsangebote nun annehmen.

Wie erwartet kündigte Netanjahu an, die Sache nun selbst in die Hand zu nehmen, doch von Dialogwunsch oder Kompromissbereitschaft keine Spur. Vielmehr verkündete er, dass die weiteren Schritte der Reform wie geplant in der kommenden Woche umgesetzt würden.

Die Wahrheit und ihr Preis

Als die Generalstaatanwaltschaft am nächsten Morgen bekannt gab, dass Premier Netanjahu mit seiner Rede und seinen Involvierungsabsichten gegen das Gesetz verstoße, stand das Szenario Verfassungskrise aktueller denn je im Raum. In die Proteste, die trotz zunehmender Menschenmassen in allen israelischen Städten und an beinahe jeder zentralen Verkehrskreuzung mehrheitlich friedlich verliefen, platzte dann die langerwartete Ansprache von Verteidigungsminister Galant.

Er verlieh seiner tiefen Sorge über die Stimmen aus den Reihen der Armee und Sicherheitsdienste Ausdruck. Die Kluft, die das Land spalte, so meinte er, »bringt eine klare, unmittelbare und spürbare Bedrohung für die Sicherheit des Landes.« Der Verteidigungsminister betonte, Justizreformen zu befürworten, rief aber zum Innehalten auf, um die Gefahr für Israel abzuwenden und in Sachen Justizreform »eine Balance« zu finden.

Galant erntete Zuspruch von einigen Parteikollegen. Premier Netanjahu, der an dem Wochenende in London weilte, schwieg vorerst. Zurück im Land sagte Netanjahu die sonntägliche Kabinettssitzung ebenso ab wie eine Zusammenkunft mit Leitern von Armee und Sicherheitsdiensten. Erst am Abend, 24 Stunden nach Galants Rede, kam seine Reaktion. Die fiel erneut unerwartet aus: Er entließ Verteidigungsminister Galant.

Durch die Abendnachrichten ging ein Raunen. Während führende Oppositionspolitiker und Ex-Militärs telefonisch um Stellungnahme gebeten wurden und durchgängig Entsetzen über das leichtfertige Spielen mit Israels Sicherheit in solch sensiblen Zeiten bekundeten, begannen Israels Bürgerinnen und Bürger – ohne offizielle Aufrufe und ohne jegliche Organisatoren im Hintergrund – in Massen auf die Straßen zu strömen.

Ein Land geht in Streik

In Tel Aviv blockierten Demonstranten innerhalb kürzester Zeit die Hauptverkehrsstraße Ayalon. Alle Dutzend Meter wurden kleine Feuer entzündet. In Jerusalem durchbrachen Demonstranten die Absperrungen im weiteren Umkreis des Netanjahu-Wohnsitzes. Überall im Land kamen immer mehr Menschen zusammen, die teilweise die ganze Nacht in den Straßen ausharrten. Solche Ausmaße waren in Israels Geschichte ungekannt.

Trotz Polizeieinsätzen und Räumungen leerten sich die Straßen nicht. Am gestrigen Montag war klar, das Land ist im Ausnahmezustand. Es gingen auch Bürger auf die Straße, die nicht gegen Veränderungen im Justizwesen sind, sich aber ungläubig fragten: Wie kommt Netanjahu zur Entlassung eines Mannes, der sein Leben dem Land gewidmet und zudem unzählige Male fürs Vaterland riskiert hat? Nur weil dieser Mann aus Sorge um die Sicherheit des Landes nicht an dem von der Koalition vorgegeben Reform-Konfrontationskurs festhalten will? Wer kommt eigentlich zuerst: Netanjahu und sein Wohl oder die Sicherheit des Landes?

Vor diesem Hintergrund wurde schon im Laufe der Nacht klar, dass der Protestbewegung nun mächtige Partner zur Seite springen. Zunächst gaben Dutzende Bürgermeister bekannt, in den Hungerstreik zu treten, darunter auch Likud-Parteimitglieder. Dann kam der Paukenschlag der Histadrut. Arnon Bar-David, der dieser größten Gewerkschaft Israels vorsteht, verkündete in Gegenwart der Wortführer der Hightech-Protestbewegung und namhafter lokaler Wirtschaftsprominenz: Das Land geht in den Generalstreik.

Binnen kürzester Zeit stoppte das Direktorium des Internationalen Ben-Gurion-Flughafens, ebenfalls eine Likud-Hochburg, alle ins Ausland gehenden Flüge. Aktivitäten in Häfen und an akademischen Einrichtungen kamen zum Erliegen, Krankenhäuser schalteten auf Wochenendmodus um. Dann schlossen sich die Betreiber der großen Einkaufzentren sowie die Stadt- und Regionalverwaltungen, unter deren Vorsitzenden ebenfalls viele Likud-Parteimitglieder sind, dem Generalstreik an und stellten umgehend alle Dienstleistungen ein.

Israels parallele Universen

Während diese Entwicklungen ihren Gang nahmen, schauten Israels seit dem Vorabend auf Dauersondersendung gegangene Medien in Richtung des Ministerpräsidentenbüros. Eine Mitteilung von Premier Netanjahu wurde ankündigt, dann jedoch wieder und wieder hinausgeschoben.

Über Stunden schien es, als bestünden in Israel zwei parallele Universen. Während es das Volk in Massen auf die Straßen und u.a. in Richtung Knesset zog, wurden im Parlament die Abgeordneten vom Vorsitzenden des Justizausschusses Simcha Rothman (Religiöse Zionisten) nicht nur an den Sitzungsplan erinnert, sondern sie erfuhren auch, dass Abstimmungen in Zusammenhang mit der Reform sogar noch beschleunigt werden sollten.

Führungsdilemmata

Letztlich verstrichen viele Stunden, ohne ein Wort von Netanjahu. Israels Premier war mit den Vorsitzenden seiner Koalitionsparteien in Klausur gegangen. Es galt, die Regierung zusammenzuhalten.

Dass die ultraorthodoxen Koalitionspartner nicht sein Problem sind, hatte schon früh festgestanden, da Arye Deri (Shass-Partei) darum gebeten hatte, das auf seine Person zugeschnittene Gesetz zu stoppen, das ihm ermöglicht hätte, in Ministerwürden zurückzukehren, obwohl die Staatsanwaltschaft wegen seiner wiederholten Steuervergehen angeordnet hatte, dass er einen solchen Posten nicht innehaben darf.

Netanjahu hatte längst nicht nur seinen Justizminister Yariv Levin (Likud) bei der Stange zu halten, der wiederholt angedroht hatte, seinen Posten zu quittieren und die Regierung zu Fall zu bringen, wenn die Reform nicht wie geplant umgesetzt wird. Inmitten eines Landes im Generalstreik ließ Itamar Ben-Gvir, der Parteivorsitzende der Koalitionspartei Otzmah Yehudit (Jüdische Stärke), die Macht seiner sechs Mandate sprechen, auf die Netanjahu zum Regieren angewiesen ist. Nach Stunden hatte Israels Minister für nationale Sicherheit Ben-Gvir seinen Preis eingestrichen: Netanjahu versprach ihm, seinen Traum einer ausschließlich ihm unterstehenden Nationalgarde zu erfüllen.

Parallel dazu strömten während zwölf Wochen der Anti-Justizproteste erstmals rechtsnationale Befürworter der Reform zu einer Demonstration bei der Knesset zusammen. Da schon im Vorfeld einige radikale Elemente mit gewalttätigen Ausschreitungen gedroht hatten, tickte für Netanjahu eine Zeitbombe. Solche Schlagzeilen hätten seine Position genauso geschwächt, wie wenn die Masse der Pro-Justizreform-Demonstranten überschaubar klein geblieben wäre.

Während es zu den ersten Rangeleien zwischen den Demonstrierenden beider Seiten kam, verkündete Israels Premier schließlich am Montagabend einen zeitweiligen Stopp der Justizreform. Die wolle er nun erst im Laufe der Sommersitzungsperiode der Knesset umsetzen, bis dahin sei er bereit, einen Dialog mit der parlamentarischen Opposition aufzunehmen.

Hangover

Im Laufe des Abends wurde der Generalstreik für beendet erklärt. In der Nacht kam es an mehreren Orten zu tätlichen Übergriffen Rechtsradikaler sowohl auf Justizreform-Gegner als auch auf unbeteiligte arabische Bürger. Am Morgen nahmen Israels Reservisten ihre Dienstverpflichtungen wieder auf, gelobten aber, weiterhin wegen der Reformbestrebungen in »Alarmbereitschaft« zu bleiben. Das hatte auch der harte Kern der Anti-Justizreform-Bewegung bereits in der Nacht angekündigt.

In Alarmbereitschaft verfielen auch Israels Oppositionspolitiker, als sie am Morgen nach diesem beispiellosen Tag in Israels Geschichte in der Knesset eintrafen. Auf der Tagesordnung standen immer noch die von Rothman angesetzten Abstimmungen zu Gesetzen der Justizreform.

Es geht inzwischen nicht mehr um Links oder Rechts

Der anstehende Dialog bei Staatspräsident Issac Herzog birgt die Chance, einen Konsens zu finden. Doch Oppositionsführer Yair Lapid hegt weiterhin Misstrauen am ehrlichen Kompromisswunsch der Koalitionspartner; frühere Angebote hat er als bloße Lippenbekenntnisse wahrgenommen. Allerdings dürfte es Staatspräsident Herzog auch mit Regierungschef Netanjahu schwer haben, denn an dem zerren inzwischen noch mehr Kräfte als die unnachgiebige Rechtsaußenflanke. Netanjahu bricht nämlich eine andere stützende Kraft weg: Das Kohelet Forum, dem nachgesagt wird, an der Ausarbeitung der Reform mitgewirkt zu haben, geht inzwischen zu Kernstücken der geplanten Gesetzänderungen auf Abstand.

Die vergangenen Stunden haben jedoch noch etwas ganz anderes vor Augen geführt; etwas, das die Koalition im Allgemeinen und Premier Netanjahu im Besonderen immer wieder zurückgewiesen haben. In Israels Straßen fanden sich nicht nur Gegner der Reform ein, sondern auch Bürger und Bürgerinnen, die nicht prinzipiell gegen Veränderungen im Justizwesen sind, sich aber beispielsweise nachhaltig gegen die aggressive Vorgehensweise der Regierung aussprechen. Wie groß dieser Anteil von Israelis ist, die einen Dialog und das Finden eines ausgewogenen Kompromisses befürworten, zeigt eine aktuelle Umfrage. Dabei spielt weniger eine Rolle, dass der Likud es gerade einmal auf 25 Mandate (gegenwärtig 32) bringen, sondern die Partei Nation Unity unter Ex-Generalstabschef Benny Gantz einen Sprung von gegenwärtig 12 auf satte 23 Mandate machen würde.

Bei einigen dieser wandernden Wählerstimmen würde es sich um ehemalige Wähler sowohl der Religiösen Zionisten als auch der Zukunftspartei von Lapid handeln. Doch die Mehrheit seines Stimmenzuwachses würde auf eine Abwanderung vom Likud zurückgehen. Hinzu kommt, dass 63 Prozent der Befragten Netanjahus Entlassung von Verteidigungsminister Galant nicht gutheißen und der Anteil der Likud-Wähler, die diese Entscheidung ablehnen, mit 58 Prozent ebenfalls extrem groß ausfällt.

Das reflektiert das Bild in Israels Straßen und die Stimmen in den sozialen Medien. Die große Mehrheit der Menschen wünscht sich einen Dialog, der das Land wieder zusammenbringt. Einen solchen weitaus weniger misstrauischen und deutlich versöhnlicheren Ton wählte auch Benny Gantz in seiner Reaktion auf Netanjahus Ankündigung, die Reform zeitweise auf Eis zu legen, auch wenn er klar machte, dass er am Grundsatz eines sowohl jüdischen als auch demokratischen Charakters des Staates Israel festhalten werde.

Bleibt zu wünschen, dass die Bemühungen von Staatspräsident Issac Herzog mehr Erfolg beschieden sein werden als seinen bislang verpufften Kompromissaufrufen.

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