Seit dem Terrorüberfall der Hamas am 7. Oktober befinden sich mehr als 240 Personen als Geiseln im Gazastreifen. Die Familien der Entführten befürchten, dass der Krieg das Leben ihrer Angehörigen gefährden könnte, wissen aber auch keine bessere Lösung zur Heimholung ihrer Angehörigen.
Am Morgen des 7. Oktober stürmten Hamas-Kämpfer den Kibbuz Be’eri nahe der Grenze zu Gaza. »Es ist alles ok, wir sind im Bunker«, lautete die letzte SMS, die Dan Roman von seiner Cousine erhielt. Roman ist einer von zahlreichen Geiselangehörigen, die sich entschlossen haben, mit der Presse zu sprechen. Er will damit auf das Schicksal der Entführten hinweisen und hofft, dass die internationale Gemeinschaft den Druck auf die Hamas solange erhöht, bis alle Gefangenen befreit sind.
Seine 35-jährige Cousine Yarden war erst am Tag zuvor mit ihrem Ehemann Alon und ihrer drei Jahre alten Tochter Geffen von einer Südafrika-Reise nach Israel zurückgekommen. In Be’eri wollten sie mit Alons Eltern Sukkot feiern.
Gegen halbsieben am Morgen weckte ein Raketenalarm Yarden. Raketenbeschuss und der Knall, wenn die Projektile in der Luft von der Raketenabwehr zerstört werden, sind im Süden Israels nichts Besonderes. Doch dieses Mal war der Beschuss ungewöhnlich intensiv. Kurz darauf drangen schwer bewaffnete Hamas-Kämpfer in den Kibbuz ein.
Yarden und ihre Familie flüchteten in den Schutzraum. Der mit Stahlbeton verstärkte Raum schützt zwar gegen Raketenbeschuss, die Stahltür kann jedoch nicht von innen versperrt werden. Dadurch soll sichergestellt werden, dass im Fall eines Raketentreffers Helfer mögliche Verletzte rasch bergen können. Einigen Bewohner von Be’eri gelang es zwar, die Tür zum Schutzraum von innen zu verbarrikadieren. Aber die Terroristen setzten die Häuser in Brand und töteten die Menschen, als sie versuchten, der Hitze und dem Rauch zu entkommen. Mehr als 120 Bewohner des Kibbuz wurden ermordet, andere nach Gaza verschleppt.
Erschossen und entführt
Auch für Yarden wurde der Schutzraum zur Falle. Die Hamas-Kämpfer drückten die Tür auf und nahmen sie als Geisel. Stunden später entdeckte Roman ein Foto auf Telegram, das Yardens Schwiegermutter inmitten von Hamas-Milizionären zeigte. Er ging zunächst davon aus, dass man sie entführt hatte. Doch als gegen Abend die israelischen Verteidigungsstreitkräfte (IDF) Be’eri unter ihre Kontrolle brachten, fanden sie die Leiche der Frau.
Yarden, ihr Ehemann und ihre Tochter Geffen wurden nach der Erstürmung des Schutzraums von den Terroristen in ein gestohlenes Auto gezwungen und Richtung Gaza gekarrt. Kurz vor der Grenze stoppten die Hamas-Kämpfer, als sie einen israelischen Panzer sahen. Nachdem drei von ihnen aus dem Auto gestiegen waren, öffneten Yarden und Alon die Beifahrertüren, sprangen heraus und rannten los.
Doch die Terroristen verfolgten sie und schossen in ihre Richtung. Als Yarden merkte, dass sie zu langsam war, übergab sie ihre Tochter an Alon. Yarden versuchte, sich zu verstecken, während ihr Ehemann mit Geffen im Arm weiterlief. Nachdem sie fast vierundzwanzig Stunden ohne Wasser und Nahrung in einem Gebüsch ausgeharrt hatten, kehrten sie zum Kibbuz zurück. Von Yarden fehlte jede Spur. »Wir gehen davon aus, dass sie entführt wurde und als Geisel in Gaza ist«, so Roman.
Ich hoffe, die Regierung handelt professionell
Yarden ist eine von rund 240 Geiseln, die von der Hamas nach Gaza verschleppt wurden. Bisher sind nur fünf Entführte nach Hause zurückgekehrt. Die Freilassung einer Mutter und ihrer Tochter, beide US-Bürger, wurde von Katar ausgehandelt. Zwei ältere israelische Frauen kamen frei, nachdem Ägypten mit dem militärischen Flügel der Hamas in Gaza verhandelt hatte. Die fünfte Geisel, eine IDF-Soldatin, konnte im Zuge einer israelischen Rettungsaktion befreit werden.
Als Reaktion auf die Großoffensive der islamistischen Terrorgruppe Hamas startete die israelische Armee zunächst Luftangriffe auf Gaza, auf die wenige Tage später eine Bodenoffensive folgte. Nach Angaben des von der Hamas geführten Gesundheitsministeriums starben in Gaza bisher mehr als 13.000 Menschen, wobei ein neuer Bericht davon ausgeht, dass es deutlich weniger sein dürften.
Das israelische Kriegskabinett argumentierte, der Einmarsch in den Gazastreifen würde die Chancen auf die Freilassung der Geiseln erhöhen. »Wenn kein militärischer Druck auf die Hamas ausgeübt wird, wird es keine Fortschritte geben«, erklärte Verteidigungsminister Yoav Gallant gegenüber Familienangehörigen der Entführten. Viele von ihnen befürchten jedoch, dass die Operation das Leben der Geiseln gefährden könnte. »Natürlich machen wir uns Sorgen«, so Roman. Er wisse jedoch, dass die Lage kompliziert sei und habe selbst keine Antwort auf die Frage, was das Richtige wäre. Seit 45 Tagen ist seine Cousine nun verschwunden. Roman bleibt nichts anderes übrig, als zu warten: »Ich hoffe, dass die Regierung die richtige Antwort hat und professionell handelt.«
Wie ein Sprecher des militärischen Flügels der Hamas behauptete, würden aufgrund der israelischen Luftangriffe mehr als sechzig Geiseln vermisst, darunter dreiundzwanzig, die unter den Trümmern eingeschlossen worden seien. »Ich würde der Hamas diese Zahlen nicht glauben«, sagt Gershon Baskin, Kolumnist und Friedensaktivist. Seine Kontakte zum politischen Flügel der Hamas trugen maßgeblich dazu bei, dass ein Abkommen zwischen Israel und der Hamas zur Befreiung des Soldaten Gilad Schalit im Jahr 2011 gelang.
Laut einem Tunnelexperten befinden sich die Haupttunnel, in denen die Geiseln wahrscheinlich festgehalten werden, etwa dreißig Meter tief unter der Erde, so Baskin. »Solange die Israelis keine bunkersprengenden Waffen einsetzen, gefährden sie die Geiseln demnach nicht.« Aber man wisse es nicht mit Sicherheit. Die Entführten könnten auch in Häusern festgehalten werden oder in Tunnel, die viel flacher und nicht gut verstärkt sind und einem Bombardement nicht standhalten.
Zur Strategie Israels, durch militärischen Druck auf die Hamas die Freilassung der Geiseln zu beschleunigen, meint der Aktivist: »Es gibt keine Garantie dafür, dass dies auch wirklich der Fall ist.« Der militärische Druck könnte eine Einigung genauso verzögern. Darüber hinaus habe Israel kaum die Möglichkeit, etwas von der Hamas zu verlangen, so Baskin. Israel könne akzeptieren, was die Hamas sagt oder es ablehnen. Israel sei jedoch nicht in der Position, Forderungen an die Hamas zu stellen, weil die Hamas-Führer keine Angst vor dem Tod haben. »Aller Wahrscheinlichkeit nach haben sie akzeptiert, dass sie am Ende dieses Kriegs sterben werden.«
Geiseln oberste Priorität
Mittlerweile haben sich hunderte Freiwillige im Hostage and Missing Families Forum, dessen Hauptquartier in einem Bürogebäude nahe dem HaBima-Platz in Tel Aviv untergebracht ist, zusammengeschlossen. Neben zahlreichen Experten, unter anderem für Politik, Pressearbeit und soziale Medien, setzen sich hier auch ehemalige Diplomaten wie der 62-jährige Nadav Tamir für die sichere Rückkehr der Geiseln ein. »Natürlich fürchten die Angehörigen, dass die Militäroperation das Leben der Geiseln gefährden könnte«, sagt Tamir. Sie würden aber auch ein Szenario befürchten, bei dem kein Druck auf die Hamas ausgeübt wird und in der Geiselfrage nichts vorangeht.
Das Forum selbst bevorzugt keine bestimmte Lösung. »Wir sagen nur eines: Die Geiseln müssen oberste Priorität haben«, so Tamir. Bei der Geiselsituation gehe es nicht um die Frage, auf welcher Seite man stehe, ob man Israel oder die Palästinenser unterstütze oder beide Seiten versteht. Es handle sich um eine humanitäre Angelegenheit. Tamir: »Die Geiseln sicher zurückzubekommen, sollte Priorität jedes Staates der liberalen demokratischen Welt sein.«