Vor Vergeltungsoperation des IS in Europa?

Luftaufnahme des Hauses von IS-Führer al-Quraischi, aufgenommen vor der Operation, im Zuge derer er sich selbst in die Luft gesprengt hat. (© imago images/ZUMA Wire)
Luftaufnahme des Hauses von IS-Führer al-Quraischi, aufgenommen vor der Operation, im Zuge derer er sich selbst in die Luft gesprengt hat. (© imago images/ZUMA Wire)

Der IS mag nach dem Tod seines Chefs führerlos und gespalten sein, seine operativen Fähigkeiten sind aber kaum beeinträchtigt.

Seit der Tötung seines Anführers Abu Ibrahim al-Quraischi setzt der Islamische Staat in erster Linie auf den Einsatz von sogenannten Schläferzellen, die Anschläge im Irak, in Syrien und an der afrikanischen Küste verüben. Aber auch andere Regionen, darunter Europa, könnten ins Visier von IS-Attentätern rücken.

Die neue Strategie des IS zeichnete sich bereits vor der Tötung ihres Anführers bei einer US-Sicherheitsoperation im Nordwesten Syriens vor einigen Wochen ab. Sie dürfte sich in Zukunft noch intensivieren und geografisch ausweiten.

Führerlos

Obwohl bereits mehr als zwei Wochen vergangen sind, seit die Vereinigten Staaten am 3. Februar die Tötung des IS-Führers bekannt gegeben haben, ist der Name seines Nachfolgers immer noch unbekannt. Das deutet darauf hin, dass, wie Mena-Watch berichtete, der Prozess der Ersetzung von al-Quraischi sich schwierig gestaltet, nachdem zahlreiche Anführer der ersten und zweiten Reihe des IS getötet wurden und der Konkurrenzkampf um die Nachfolge des IS-Chefs Spaltungen innerhalb der Organisation hervorgerufen hat.

Bislang pflegte der IS den Namen eines neuen Anführers rasch bekannt zu geben – nach der Tötung von Abu Bakr Al-Baghdadi Ende Oktober 2019 dauerte es nur fünf Tage, bis die Führung der Organisation an al-Quraischi übergeben wurde. Auffällig ist darüber hinaus, dass der IS die Tötung al-Quraischis bisher weder über seine Zeitung Al-Naba noch über seine Plattformen auf Telegram oder seinen Sprecher Abu Hamza al-Hashimi al-Quraischi bestätigt oder dementiert hat. Auch das kann als Zeichen der Verwirrung innerhalb der Organisation über ihre nächsten Schritte und auf ein entstandenes Führungsvakuum verstanden werden.

… aber nicht ohne Plan

All das scheint allerdings die bereits Anfang des Jahres eingeschlagene neue Linie nicht beeinflusst zu haben, in der der IS vor allem sogenannte Schläferzellen aktiviert, um blutige Anschläge durchzuführen. Die Tötung von al-Quraischi und das Führungsvakuum, das der IS derzeit durchlebt, haben bislang nur wenige Auswirkungen gezeitigt, weil er bereits seit der Tötung seines früheren Anführers al-Baghdadi auf eine erhebliche Dezentralisierung seiner verschiedenen Zweigstellen setzt. Er ist daher bei der Umsetzung der allgemeinen Linie der Organisation nicht mehr so stark auf die zentrale Führung angewiesen, sondern kann auf das Handeln der lokalen Anführer und der Feldkommandeure vertrauen.

Die IS-Anschläge der vergangenen Woche entsprachen ganz dieser Linie. In Nordsyrien verübten IS-nahe Schläferzellen einen Angriff mit Maschinengewehren und Panzerfäusten auf einen Militärstützpunkt der kurdischen Syrischen Demokratischen Kräfte. Nur zwei Tage davor attackierte eine andere IS-Zelle ein Dorf im Gouvernement Kirkuk im Nordirak, wobei ein Zivilist getötet und sieben weitere verletzt wurden.

Die gefährlichste und schwerste Operation der jüngeren Zeit war der Angriff auf ein von den Demokratischen Kräften Syriens betriebenes Gefängnis in al-Hasaka in Nordsyrien. Die Kämpfe infolge dieser Attacke dauerten mehrere Tage lang an, nachdem IS-Kämpfer versucht hatten, mehrere ihrer im Gefängnis inhaftierten Anhänger zu befreien. Letztlich konnten die Angreifer zurückgeschlagen werden, 84 IS-Kämpfer und 45 kurdische Sicherheitskräfte kamen in den Kämpfen ums Leben.

In diesem Zusammenhang erklärte Ibrahim Al-Jassem, Mitglied des Generalkommandos der Demokratischen Kräfte Syriens, gegenüber der saudischen Zeitung Asharq Al-Awsat, dass in der letzten Zeit das Tempo und die Kühnheit der vom IS durchgeführten Operationen zugenommen habe, »bis hin zu direkten Angriffen auf militärische Stützpunkte und Anlagen, die durch Waffen und starke Wachen geschützt sind«.

Große Vergeltungsaktion in Planung?

Der ägyptische Professor für Politikwissenschaft Ali El-Din Hilal warnte davor, dass sich der IS in Reaktion auf die Tötung seines Anführers al-Quraischi nicht auf Attacken in Syrien und im Irak beschränkt, sondern auch in anderen Teilen der Welt zuschlägt. »Zweige der Organisation haben auch militärische Operationen in Nigeria, in Niger, im Kongo und in Mozambique in West- und Zentralafrika unternommen.«

Er befürchtet, dass der IS darüber hinaus »eine große Vergeltungsaktion« planen könnte. Auch diese müsse nicht in den Kerngebieten des IS im Irak und in Syrien stattfinden, sondern könnte sich ganz woanders auf der Welt ereignen – vielleicht sogar in Europa, wo es ebenfalls nach wie vor Schläferzellen des IS gebe.

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