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Iran: Die unten wollen nicht mehr, die oben können noch

Solidaritätsdemonstration in Washington mit den Protesten im Iran
Solidaritätsdemonstration in Washington mit den Protesten im Iran (© Imago Images / ZUMA Wire)

Im Iran herrscht insofern eine revolutionäre Situation, als die Mehrheit der Bevölkerung ein Ende des Regimes möchte. Das ist aber noch nicht am Ende. 

Der Iran befindet sich in einer so tiefen Krise wie seit den Protesten im Jahr 2009 nicht mehr; ja, vermutlich in der schlimmsten seit der Ausrufung der Islamischen Republik im Jahr 1979. In einer Umfrage, die jüngst von einem in Holland ansässigen Institut durchgeführt wurde, lehnten über 80 Prozent aller Iraner das Regime ab und befürworteten einen grundlegenden Wandel. 

Damit wären wir auch schon beim Kern der jüngsten Protestbewegung: Ihr geht es ausdrücklich um einen Regimewechsel, also um das Ende des Systems der Islamischen Republik. Das war früher anders, die Grüne Bewegung 2009 setzte mehrheitlich auf Reformen und war recht immun gegen Kritik, die darauf verwies, dass dieses Regime nicht reformierbar sei. 

Das war aber bislang auch die Stärke des Regimes, die es eben grundsätzlich von den monolithischen, auf einen Führer zentrierten Diktaturen in arabischen Ländern unterschied: Um Ali Khamenei gruppieren sich verschiedene Machtzentren, die durchaus auch in offener Konkurrenz stehen. Das schafft die Illusion politischer Pluralität, und so konnten immer irgendwelche Leute unter dem Label »Reformer« auftreten und den Eindruck vermitteln, dass dieses System eben veränderbar sei. 

Diese Hoffnung, die immer illusionär gewesen ist, gibt es nicht mehr. Das hängt auch mit der Demografie im Land zusammen: Wie überall in der Region ist eine neue Generation herangewachsen, die recht unideologisch ist, global vernetzt und sich nach »normalen« Verhältnissen sehnt, während an der Macht eben noch die alte Garde sitzt. 

Die Demonstranten sind im Durchschnitt unter dreißig Jahre alt, während jene an den Hebeln der Macht ihre Großeltern sein könnten. So etwas geht selten lange gut, und irgendwann wird sich eben auch für das Regime die Frage stellen: Wie weiter?

Proteste im ganzen Land

Anders als 2009, als sich Proteste hauptsächlich auf das persische Kerngebiet des Irans konzentrierten, sind sie diesmal eine Angelegenheit aller Menschen im Iran. In Kurdistan und Belutschistan, den zwei Regionen, die mehrheitlich von Sunniten bewohnt werden, fallen sie sogar besonders heftig aus. Interessant ist dabei, dass der dortige Klerus sich an die Spitze der Proteste gestellt hat und die Forderungen nach einem Ende des Hijabzwangs, nach freien Wahlen und Demokratisierung teilt. 

Das ist eine recht neue Entwicklung, denkt man nur daran, dass bis vor einem Jahrzehnt etwa in Belutschistan islamistische Gruppen recht stark waren und es um den alten Zwist zwischen Schiiten und Sunniten ging. Der Slogan »Jin, Jiyan, Azadi«, also »Frau, Leben, Freiheit« stammt ja aus der kurdischen Sprache, und der Tod einer Kurdin war der Auslöser der Proteste.

Das bedeutet, dass zum ersten Mal nicht jene ethnischen und religiösen Spannungen die Proteste dominieren, die das Regime mit einer Teile-und-Herrsche-Politik für sich ausnützen konnte. Zumindest bislang nicht, schließlich ist die Lage in Kurdistan gerade wesentlich schlimmer als in anderen Gebieten. Städte wie Javanrod sind seit Monaten in einem de-facto-Belagerungszustand, es kommt zu Massenverhaftungen, und das Regime versucht die ökonomische Grundlage der Bewohner zu zerstören. 

Außerdem behauptet es immer wieder, kurdische Oppositionsparteien steckten gemeinsam mit Zionisten und Imperialisten hinter dem Aufstand. Bislang zieht das alles nicht wirklich und der Oberste Mufti aller Sunniten im Iran, der aus Belutschistan stammt wurde sogar zu einer Art Sprecher der Opposition, auch akzeptiert von Schiiten. Ich halte diesen Aspekt für enorm wichtig, denn es sind eben nicht nur junge urbane Menschen, die jetzt das Ende des Regimes fordern, sondern auch solche, die sich als durchaus religiös definieren. Das verbreitert die Basis ungemein.

Selbst »Reformer« glauben nicht mehr an Reformen

Zusätzlich, man mag von ihnen halten, was man will, haben viele der sogenannten »Reformer« um den ehemaligen Präsidentschaftskandidaten Mir Hossein Moussavi, der seit 2009 in Hausarrest sitzt, verstanden, dass es keine wirklichen Reformen geben kann. Diese Idee war immer illusionär, aber solange Leute als Reformer aufgetreten sind, entstand der Eindruck, Reformen seien möglich. Gerade in Europa, wo man keinen Regimewechsel im Iran haben wollte oder will, dienten diese »Reformer« immer auch als gute Entschuldigung, selbst irgendwelche Reformen zu fordern. 

Das alles funktioniert jetzt nicht mehr: Erst kürzlich unterzeichneten viele dieser »Reformer« eine Petition, in der sie freie Wahlen und eine neue Verfassung forderten. Das aber wäre das Ende der Islamischen Republik, ebenso wie jedwedes Zugeständnis in Bezug auf den Zwang für Frauen, in der Öffentlichkeit den Hijab zu tragen.

Es ist enorm wichtig zu verstehen, dass dieses Regime auf zwei Säulen ruht. Sie bestehen aus der Ungleichbehandlung von Frauen und Männern (symbolisiert durch das Kopftuch) und den Staatsauftrag, Israel zu zerstören (darum geht es vor allem beim Atomprogramm). Stürzt auch nur eine dieser beiden Säulen, stürzt das System. Deshalb kann es hier keine Zugeständnisse machen.

Dass es nun so offen ums Kopftuch und die systemische Unterdrückung der Frauen geht, stellt das System vor eine unlösbare Herausforderung, denn es kann eben nicht ein paar Zugeständnisse machen. Es ist existenziell herausgefordert und infrage gestellt – und das, wie alle Umfragen zeigen, von einer überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung. (Was nicht heißt, dass es nicht auch weiter Millionen von Unterstützern des Regimes im Iran geben würde.)

Katastrophale ökonomische Lage

Hinzu kommt die katastrophale ökonomische Lage, der dauernde Verfall der Währung, eine enorme Inflation und Weiteres. In den letzten Jahren hat deshalb schon so ungefähr jede Berufsgruppe im Iran demonstriert oder gestreikt – bis hin zu Pensionären.

Auch jetzt kam es zu Streiks in den Bazaren und von verschiedenen Gruppen, aber eben noch nicht zu einem wirklichen Generalstreik, an dem sich auch die Ölarbeiter beteiligen. Damit wurde zeitweilig gedroht, ist aber bislang nicht geschehen. Vor einem solchen Schritt fürchtet sich das Regime besonders und versucht deshalb, ihn mit allen Mitteln zu verhindern, denn das war auch 1979 der letzte Nagel im Sarg des Schah-Regimes.

Vergessen wir nicht: Seinem Selbstverständnis nach ist die Islamische Republik ein revolutionäres System, das seine, nämlich die islamische Revolution, weltweit exportieren möchte. Und nun findet sozusagen eine Revolution gegen die Revolution statt, und vieles von damals scheint sich, nur unter neuen Vorzeichen, zu wiederholen. Das ist bitter für die alte Garde, die noch am Ruder sitzt und weiß, dass ihre Zeit langsam ausläuft. Und niemand tritt ihr Erbe an. Im Gegenteil: Schülerinnen zeigen die Konterfeis von Khomeini und Khamenei den Mittelfinger und skandieren »Tod dem Diktator!«

Das Regime hat Angst …

So ist, trotz aller Repression, Verhaftungen, Folter, Exekutionen, die in letzter Zeit dazu geführt haben, dass es zu weniger Demonstrationen gekommen ist, die Machtfrage gestellt. Es heißt ja, Revolutionen brechen aus, wenn die unten nicht mehr wollen und die oben nicht mehr können.

Zweiteres ist im Iran aber noch nicht der Fall. Auch wenn das Regime angeschlagen und sich durchaus der Krise bewusst ist, kann es noch. Es verfügt vor allem über einen enormen Repressionsapparat, den es bislang auch noch nicht wirklich von der Leine gelassen hat. Denkt man daran, wie viele Menschen in viel kürzerer Zeit bei den Protesten im Jahr 2019 umgebracht und verhaftet wurden, hält sich das Regime bislang, so zynisch das klingen mag, zurück. Es hat Angst, weil jeder Tote Anlass für neue Proteste sein kann – und zum Teil auch war.

… und keine Strategie

Bislang bestand die Strategie des Regimes immer aus Zuckerbrot und Peitsche, also Repressionen und gewissen Zugeständnissen. Diesmal kann es jedoch nicht wirklich Zugeständnisse machen und hat auch kein Geld fürs Zuckerbrot. Es steht im wahrsten Sinne des Wortes mit dem Rücken an der Wand, und die 2021 mit Mühe an die Macht gebrachte Regierung unter Präsident Raisi, die ohnehin über wenig Macht verfügt, ist enorm unbeliebt. Niemand traut ihr noch irgend etwas zu, heftige Kritik an ihr kommt sogar aus dem Lager der »Hardliner«, das sie damals mit ans Ruder gebracht hat. 

Dem Regime fehlt diesmal der Spielraum zu manövrieren. Dazu kommen natürlich die außenpolitischen Probleme. Die US-Regierung von Präsident Joe Biden wollte wirklich zurück zum Atomdeal, was der Iran allerdings sabotiert hat und nun feststellen muss, was es heißt, in dieser Situation weiter unter einem ziemlich rigiden Sanktionsregime wirtschaften zu müssen. 

Und dann wäre da die enge Beziehung zu Russland, vor allem die Lieferung von Drohnen, die nun den gesamten Westen, selbst die Europäer, gegen Teheran aufbringt. Und auch im Land selbst ist dieses Bündnis keineswegs beliebt – unter anderem, weil Russland ein traditioneller Gegner des Irans war. Und ökonomisch bleibt es als Rohstoffexporteur eher ein Konkurrent und kein Abnehmer von iranischem Gas und Öl. Umso kritischer sehen viele, wie eng dieses Bündnis inzwischen ist, und dass eine Niederlage Russlands in seinem Angriffskrieg gegen die Ukraine auch enorme Auswirkungen auf den Iran hätte.

Außenpolitisch unter Druck

Zugleich verschärfen die USA ihren Ton und signalisieren, dass sie notfalls auch militärischen Aktionen gegen das voranschreitende iranische Atomprogramm nicht mehr ablehnend gegenüberstehen, während in Israel mit Benjamin Netanjahu als Premier wieder eine Regierung an der Macht ist, die vermutlich lieber heute als morgen gegen dieses Programm, das zu Recht als existenzielle Bedrohung Israels wahrgenommen wird – und zwar quer durch die ansonsten heillos zerstrittenen Parteien –, vorgehen würde. 

Die Drohnenangriffe, die im Januar gegen Einrichtungen in Isfahan stattfanden, können durchaus als klare Drohung verstanden werden – Angriffe, die übrigens im Iran von großen Teilen der Bevölkerung begrüßt wurden. Das bedeutet, das Regime steht sowohl innen- wie außenpolitisch gerade ziemlich schlecht dar und ist in der Region so isoliert wie seit Langem nicht. Das zeigt sich alleine in der engen Kooperation zwischen Israel, den Vereinigten Arabischen Emiraten, Bahrain und Saudi-Arabien, die gemeinsam eine Art anti-iranischen Block bilden. Sicherlich, der Iran hat noch enormen Einfluss im Irak, in Syrien und im Jemen und dem Libanon, wobei allerdings gerade die drei Letzteren de facto Failed States sind, die den Iran viel kosten und wenig für ihn abwerfen.

Fehlende Unterstützung

Nun sollte man, gerade wenn es um den Nahen Osten geht, keine übereilten Prognosen tätigen und auch die Resilienz des iranischen Regimes nicht unterschätzen, aber man kann guten Gewissens sagen, dass es in den letzten zwanzig Jahren noch nie so schlecht stand wie heute. 

Das würde jetzt auch enorme Chancen bieten, von außen an einem Ende des Regimes mitzuwirken, nicht etwa durch militärische Aktionen, sondern durch Unterstützung des Protests und Verschärfung von Sanktionen. Leider findet das nicht oder in viel zu geringem Maß statt. Europa vermittelt einmal mehr – und signalisiert so natürlich, ob gewollt oder nicht, dem Regime, dass es lieber Stabilität möchte, also einen Weiterbestand der Islamischen Republik, auch wenn diese seit Jahrzehnten der größte Garant für Instabilität ist. Man wisse ja nicht, was danach komme, heißt es. 

Natürlich weiß das niemand, und natürlich gibt es nach 44 Jahren Diktatur keine organisierte Opposition mehr. Sicherlich würde auf einen Sturz des Regimes auch erst einmal eine Zeit des Chaos und der Unsicherheit folgen, das war und ist immer so. Nur taugt das nicht als Argument, am herrschenden Regime festzuhalten, denn unter ihm wird es nie eine organisierte Opposition geben (können).

Immerhin, und das scheint mir doch ein positives Zeichen, trafen sich Anfang Februar Vertreter ganz unterschiedlicher Exilgruppen in den USA, deren Einfluss man aber nicht überschätzen sollte, um eine gemeinsame Plattform zu bilden, die sich auf einen Katalog von Mindestforderungen einigt. Dazu kommen die kurdischen Parteien, die über Stützpunkte im Nordirak verfügen und über einen höheren Organisationsgrad verfügen.

Aber es müsste auch im Westen die Einsicht geben, dass ein Sturz des Regimes alternativlos ist und man deshalb mit allen Mitteln auf einen solchen hinarbeiten sollte. Davon profitierten die Iraner, der ganze Nahe Osten, natürlich Israel, aber eben auch Europa.

Der Text erschein zuerst bei Global Review.

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