Die Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofs hat ein tendenziöses und falsches Verständnis von israelisch-palästinensischen Abkommen.
Dennis Ross, Washington Institute for Near East Policy
Im Dezember letzten Jahres kündigte die Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofs, Fatou Bensouda, ihre Absicht an, eine strafrechtliche Untersuchung gegen Israel wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen einzuleiten, wobei sie argumentierte, dass das Gericht für den Gazastreifen und das Westjordanland, einschließlich Ost-Jerusalem, als Gebiet des „Staates Palästina“ strafrechtlich zuständig sei. Bevor sie dies tat, bat sie aber eine Vorverfahrenskammer des Gerichtshofs, ihre Position zu bestätigen, die sie in einem langen Dokument begründete, in dem sie die Komplexität des kontroversiellen Themas deutlich machte.
Die Position, die die Chefanklägerin zur Gerichtsbarkeit eingenommen hat, hängt zum Teil von ihrer Interpretation der Osloer Abkommen und des israelisch-palästinensischen Friedensprozesses im Allgemeinen ab. Von 1993 bis 2001 war ich der federführende amerikanische Unterhändler für den Frieden im Nahen Osten und als Teilnehmer oder Mediator an den Verhandlungen in Oslo sowie an anderen israelisch-palästinensischen Gesprächen beteilig. Ich bin daher mit der Geschichte und den Inhalten der Abkommen bestens vertraut. Daher sah ich mich gezwungen, der Einladung der Vorverfahrenskammer nachzukommen und als „Freund des Gerichts“ eine Stellungnahme einzureichen, in der ich erkläre, dass das Chefanklägerin die Begriffe und die Bedeutung dieser Abkommen in mehrerlei Hinsicht falsch dargestellt hat.
Meine Hoffnung war, die Chefanklägerin dazu zu bringen, ihre Fehler zu korrigieren, aber das ist nicht geschehen. Ganz im Gegenteil: In ihrer Antwort auf die ihr widersprechenden Stellungnahmen vom 30. April bekräftigte sie die am meisten irreführenden Argumente in einem Versuch, die Osloer Abkommen in einigen Bereichen neu zu definieren und in anderen einfach zu ignorieren.
Das Problem hat durch die ungewöhnliche Bitte der Vorverfahrenskammer um die Klärung von Statements des Präsidenten der Palästinensischen Autonomiebehörde, Mahmud Abbas, zusätzliche Bedeutung gewonnen. Am 19. Mai hatte er erklärt, die PA sei nicht mehr an ihre früheren Vereinbarungen mit der israelischen und der amerikanischen Regierung gebunden. Die Richter scheinen anzuerkennen, dass die Osloer Verträge für die ihnen vorliegende Rechtsfrage relevant sind; daher denke ich, dass es höchste Zeit ist, einige Dinge richtig zu stellen.
Das Chefanklägerin behauptet, das Ziel des Oslo-Friedensprozesses sei gewesen, “das Recht der Palästinenser auf Selbstbestimmung zu verwirklichen”. Ihrer Ansicht nach wiegen dieses Recht und das Verhalten Israels, das dessen volle Verwirklichung verhindere, schwerer als die Tatsache, dass die Palästinenser eines der völkerrechtlich festgelegten Kriterien für Staatlichkeit, nämlich die effektive Kontrolle über genau definierte Gebiete, nicht erfüllen. Folgt man der Argumentation der Chefanklägerin, dann sollten die Palästinenser wie ein Staat behandelt werden, der das Recht hat, dem Internationalen Strafgerichtshof die Gerichtsbarkeit über sich zu übertragen.
Dieses Argument beruht auf der Prämisse, dass das Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser, in den Worten der Chefanklägerin, Oslos „Ziel und Zweck“ war. Das ist allerdings ungenau: Die Abkommen hatten mehrere gleich wichtige Ziele, darunter die israelische Sicherheit, die friedliche Koexistenz, die Erziehung zum Frieden und die Entwicklung einer effektiven palästinensischen Regierungsführung.
Das Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser kann über die in Oslo vereinbarte vorläufige Selbstverwaltung hinaus nicht vollständig umgesetzt werden, wenn diese anderen Ziele nicht erfüllt würden. Die Chefanklägerin ignoriert diese Voraussetzungen jedoch und behandelt das Selbstbestimmungsrecht als Zweck an sich, der den Palästinensern notwendigerweise das Recht auf Staatlichkeit einräumt. (…)
Noch schlimmer ist, dass die Chefanklägerin die Rolle nicht einmal erwähnt, die der palästinensische Terrorismus und die palästinensische Verweigerungshaltung dabei gespielt haben, die Entstehung eines palästinensischen Staates zu verhindern. Sie misst nur israelischem Fehlverhalten rechtliche Bedeutung bei. Ich ein ausgesprochener Kritiker des israelischen Vorgehens, wenn es, wie insbesondere bei der Siedlungspolitik, mit dem Geist der Abkommen unvereinbar war. Doch jede Analyse, die nur dem Fehlverhalten einer Seite Gewicht verleiht, wirkt nicht juristisch glaubwürdig, sondern politisch motiviert.
Nirgendwo erwähnt die Chefanklägerin, dass die Führung der PA verschiedene Angebote, die zu einem palästinensischen Staat geführt hätten, entweder abgelehnt oder ignoriert hat – von den Clinton-Parametern vom Dezember 2000 über den Olmert-Vorschlag vom August 2008 bis hin zu den Obama-Prinzipien vom März 2014. In all diesen Fällen machten die Palästinenser nicht einmal Gegenvorschläge. (…)
Dann behauptet die Chefanklägerin: „Ungeachtet des nicht abgeschlossenen und laufenden politischen Prozesses geht aus den Vereinbarungen klar hervor, dass die PA die territoriale Kontrolle über den größten Teil des Westjordanlandes, mit Ausnahme Ost-Jerusalems, und des Gazastreifens übernehmen soll, mit Änderungen im Hinblick auf Siedlungen und Grenzen.“ Auch dies ist sowohl ungenau als auch im Einklang mit der unausgewogenen Sichtweise der Chefanklägerin, der zufolge Oslo nur eine Seite bindet, nämlich Israel.
Die in den Abkommen aufgeführten palästinensischen Verpflichtungen waren als kritische Wegmarken gedacht, um unter Beweis zu stellen, dass die PA willens und in der Lage ist, zusätzliche Rechte und Pflichten zu übernehmen. Die Abkommen machten jegliche israelische Übertragung zusätzlicher Gebiete und Befugnisse ausdrücklich von palästinensischen Fortschritten bei der Gewährleistung der Sicherheit, der Bekämpfung des Terrorismus und der Verhinderung von Hetze abhängig. Diese und zahlreiche andere Verpflichtungen wurden nie ausreichend erfüllt.
Selbst wenn ihre Annahmen über die Ziele Oslos begründet wären, gibt es über die grundlegendste Prämisse der Chefanklägerin – dass die Strafgerichtsbarkeit von den Palästinensern an den Internationalen Strafgerichtshof delegiert werden kann – in den Abkommen keinerlei Unklarheiten: Sie besagen unmissverständlich, dass die palästinensische Strafgerichtsbarkeit beschränkt ist, dass sie keine Gerichtsbarkeit über Israelis beinhaltet, und dass jede Gerichtsbarkeit, die nicht ausdrücklich den Palästinensern übertragen wird, bei Israel liegt. (…)
Am wichtigsten ist vielleicht: Wenn die Oslo-Abkommen tatsächlich aufgekündigt würden, wäre das rechtliche Ergebnis dessen keine Ausweitung der Rechte der Palästinensischen Autonomiebehörde. Vielmehr würde die Autorität wieder an Israel zurückgehen, wie in den Abkommen ausdrücklich festgelegt und von der palästinensischen Führung anerkannt. In seiner Erklärung vom 19. Mai stellte Abbas zum Beispiel fest, dass Israel als „Besatzungsmacht (…) alle Verantwortlichkeiten und Verpflichtungen“ übernehmen müsse. (…)
Die Argumente der Chefanklägerin sind in besorgniserregender Weise losgelöst von den Bestimmungen der Osloer Abkommen, vom Verständnis der Parteien davon und von der Realität vor Ort. Es ist atemberaubend zu sehen, wie die Chefanklägerin just in dem Moment die Existenz eines palästinensischen Staates behauptet, in dem Premierminister Mohammad Shtayyeh und andere palästinensische Offizielle ihre Absicht verkünden, einseitig einen Staat auszurufen, sollte Israel mit der Annexion fortfahren. Es besteht weitgehend und auch unter den Palästinensern selbst Einigkeit darüber, dass eine funktionierende und rechtlich gültige Staatlichkeit ein Bestreben für die Zukunft ist – und keine gegenwärtige Realität. Der Internationale Strafgerichtshof würde sich selbst einen großen Bärendienst erweisen, wenn er sich eine so offensichtliche juristische Fiktion zu eigen machen würde.
Es sollte alle beunruhigen, dass die Chefanklägerin eher eine politische als eine juristische Argumentation vertritt. Unabhängig von den politischen Wünschen der an dieser Angelegenheit beteiligten Personen ist es nicht Aufgabe des Chefanklägerin, politische Argumente vorzubringen. Dies diskreditiert den Internationalen Strafgerichtshof, untergräbt seine Wirksamkeit und droht den Grundsatz zunichte zu machen, dass das Völkerrecht von Rechtsnormen und -kanons und nicht von politischen Ideologien und Präferenzen bestimmt wird.