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Silicon Wadi: Was Intel, Google und den USB-Stick mit Israel verbindet

Silicon Wadi: Viele Hochtechnologieprodukte haben ihren Ursrung in Israel
Silicon Wadi: Viele Hochtechnologieprodukte haben ihren Ursrung in Israel (© Imago Images / YAY Images)

Wegen der Fülle an wissenschaftlichen Entdeckungen und technologischen Innovationen wird Israel auch das Silicon Valley des Nahen Ostens – auch: Silicon Wadi – genannt.

Trotzdem tun die meisten Menschen in Europa sich schwer, Israel mit konkreten Produkten oder Unternehmen in Verbindung zu bringen. Manche haben womöglich sogar noch ein Bild aus dem tiefsten 20. Jahrhundert im Kopf und glauben, Israel sei ein Agrarstaat, der nur Orangen, Avocados und Datteln produziere.

Das Missverhältnis zwischen Bedeutung und Wahrnehmung fällt auf, wenn man Israel mit anderen kleinen Staaten vergleicht, deren Unternehmen eine große Rolle auf dem Weltmarkt spielen und dem Konsumenten ein Begriff sind – wie den Niederlanden (Philips, Royal Dutch-Shell, Unilever), Schweden (Volvo, IKEA, Ericsson) oder der Schweiz (Nestlé, Roche, Novartis). Was läuft in Israel anders – anders als etwa in der Schweiz mit ihren vielen bekannten Unternehmen?

Wie die Israelis waren auch die Schweizer anderen Nationen voraus, was die Entwicklung neuer Produkte betraf. Man denke etwa an Henry Nestlé, der in den 1860er Jahren ein großes Milchpulver- und Säuglingsnahrungsgeschäft aufbaute. Oder an Julius Maggi, der in den 1880er Jahren die ersten Fertigsuppen auf den Markt brachte und rund 20 Jahre später den Brühwürfel erfand.

Beide vermarkteten ihre Erfindungen stolz unter ihren eigenen Namen, die bald auf der ganzen Welt mit der Schweiz assoziiert wurden. Auch bei Schweizer Armbanduhren wird kaum ein Käufer in Unkenntnis über ihre Herkunft sein. In Israel ist das anders. Viele erfolgreiche israelische Erfinder werden nie zu Unternehmern; sie wollen lieber an weiteren Erfindungen tüfteln, als ihre Erfindungen zu Geld zu machen.

Israelische Exportschlager

Und selbst in den Fällen, wo sie ein Unternehmen gründen, das auf dem Weltmarkt erfolgreich ist, erfahren meist nur wenige Konsumenten, woher das Produkt stammt: Der Epilady etwa ist geradezu ein Synonym für Haarentferner, doch die beiden israelischen Ingenieure, die ihn 1985 erfunden haben – Yair Dar und Shimon Yahav – blieben ebenso unbekannt wie der Kibbuz Hagoshrim nahe der libanesischen Grenze, wo der Epilady hergestellt wird.

Bei israelischen Erfindungen wie dem USB-Stick oder der Cherry-Tomate, die zum Eigentum der ganzen Menschheit geworden sind, ist die Chance, dass irgendjemand sie mit Israel in Verbindung bringt, noch geringer.

Ein scheinbares Paradox: Obwohl Güter und Dienstleistungen aus dem Bereich der Mikroelektronik und Software etwa die Hälfte der israelischen Exporte von rund 100 Milliarden Euro (2019) ausmachen, finden sich im 35 Unternehmen umfassenden Leitindex der israelischen Börse nur drei Namen aus dem Technologiesektor. Dominiert wird der Index von Teva Pharmaceuticals, einem Hersteller von Nachahmermedikamenten (Generika). Hinzu kommen zahlreiche Banken, die nur in Israel bekannt sind, und einige im internationalen Vergleich winzige Öl- und Gaskonzerne, die kaum nennenswerte Umsätze haben.

Wie kommt das? Zwar gibt es einige israelische Softwareunternehmen, die in den Nischen, in denen sie operieren, internationalen Rang haben. Die aber sind gar nicht an der Börse Tel Aviv notiert, sondern an der amerikanischen Nasdaq. Und auch sie leisten keinen großen Beitrag zum Bruttoinlandsprodukt.

Das, was in Israel wirklich groß ist, ist die Forschung und Entwicklung für ausländische Konzerne, insbesondere für solche von der amerikanischen Westküste. Hinzu kommen Tausende von Start-ups, deren Ziel es ist, groß genug zu werden, um für solche Konzerne ein interessantes Übernahmeziel zu sein, wie etwa die Firma MobilEye, die seit kurzem im überwachten Probebetrieb selbstfahrende Fahrzeuge auf Deutschlands Straßen testet. Intel hatte das Unternehmen mit Sitz in der israelischen Hauptstadt Jerusalem im Jahr 2015 für 15 Milliarden US-Dollar (13,5 Milliarden Euro) erworben.

Der Chiphersteller aus Santa Clara hat in Israel eine lange Geschichte – Intel startete 1974 mit fünf Angestellten in Haifa. Heute beschäftigt der Konzern rund 10.000 Mitarbeiter in Israel: in Haifa, Yakum, Petach Tikva, in seiner Chip-Fabrik in Ramat Gan (Israel ist eines von nur einer Handvoll Ländern, in denen Mikrochips produziert werden) und in Jerusalem, dem Sitz von MobilEye.

Rund 60 Prozent der Intel-Mitarbeiter sind laut Unternehmensangaben in der Forschung und Entwicklung (R&D) tätig. Auch Intels wichtigste Konkurrenten AMD und Samsung unterhalten R&D-Einrichtungen in Israel.

„Sie erschaffen Dinge, sie sind kreativ“

Don Dodge, der Start-up-Pate von Google (Alphabet), erklärte einmal, was Israel aus Sicht seines Unternehmens so besonders macht:

„Meine Aufgabe bei Google ist es, um die ganze Welt zu reisen und mit Entwicklern, Startups und Investoren zu sprechen. Ich war in allen Teilen der Welt. China, Japan, Australien, ganz Europa, die nordischen Länder, überall.

Es gibt kein anderes Land auf der Erde, das so sehr wie wir [Google] denkt wie Israel. Israel ist wirklich die ‚Startup Nation‘. Sie denken wie wir. Sie reißen Dinge ein, sie erschaffen Dinge, sie sind kreativ. Es ist etwas Besonderes.“

Google eröffnete bereits 2006, nur fünf Jahre nach seiner Gründung, ein Büro in Israel. Heute gibt es zwei: eines in Haifa und eines in Tel Aviv. Ein großer Teil der derzeit 800 israelischen Google-Mitarbeiter kommt von der Universität Tel Aviv. Die größte Google-Investition in Israel war der Erwerb von Waze, einem Spezialisten für Smartphone-Navigationssysteme. Sie hat sich für Google ausgezahlt.

Eine andere Google-Innovation, die in Israel entwickelt wurde, wurde im März der Öffentlichkeit vorgestellt: Google Read It soll auch lange Texte aus dem Internet mit einer wirklich menschlich klingenden Stimme vorlesen. Googles Vizepräsident und Leiter der Forschungs- und Entwicklungsabteilung in Israel, Yossi Matias, sagte, er sei während des morgendlichen Joggens auf die Idee für Read It gekommen, als er sich die Biografien von Albert Einstein und Steve Jobs auf dem Smartphone angehört habe:

„Ich wollte einen Weg finden, mir auf dem Smartphone auch über einen längeren Zeitraum Materialien vorlesen zu lassen. Die vorhandenen Lese-Apps mit ihrer Roboterstimme reichen dazu nicht aus.“

Wie in Israel Menschen aus ganz verschiedenen Bereichen zusammenkommen, um neue Problemlösungen zu schaffen, zeigt die Kooperation von Microsoft mit dem Ben-Gurion Research Institute an der Ben-Gurion-Universität des Negev.

Zusammen entwickelten beide eine Software, die die Handschriften des ersten israelischen Ministerpräsidenten David Ben-Gurion nach bestimmten Wörtern durchsuchen kann und selbständig Textbezüge erkennt. Das Projekt sei auf ein Treffen mit einem Freund zurückgegangen, der bei Microsoft arbeitet, erklärte Adi Portughies, der IT-Leiter Infrastruktur am Ben-Gurion Research Institute, gegenüber Mena-Watch.

„Wir haben uns im Archiv getroffen, um über eine Zusammenarbeit nachzudenken. Wir gingen die Treppe zum Archiv hinunter, um uns die Dokumentation anzusehen. Ich dachte vom Blickwinkel des Historikers: Wir lesen gemeinsam ein Dokument, ich zeige ihm, was Ben-Gurion am Vorabend der Erklärung der Unabhängigkeit dachte, und dann sehen wir uns die anderen Briefe an, die mit dem zu tun haben, was wir gerade gelesen haben.“

Sein Freund habe eine Idee gehabt: Er schlug vor, alle Dokumente, die bereits digitalisiert worden waren, computerlesbar zu machen und in einem nächsten Schritt eine auf Künstlicher Intelligenz (KI) basierende Software zu entwickeln, die eigenständig verschiedene Aspekte David Ben-Gurions erforscht, so Portughies:

„Es fing also an mit dem Besuch eines Freundes im Archiv. Die Welt der Geschichtswissenschaft und der Archive kamen mit der Welt der Informatik zusammen, aus allen dreien entwickelte sich diese Idee.“

Israelisches Medikament für Corona-Patienten

In Theodor Herzls utopischem Roman Altneuland von 1902 bauen die Juden in Palästina nicht nur moderne Kliniken, in die Patienten aus aller Welt kommen, sondern es gibt auch ein Institut zur medizinisch-biologischen Forschung: das „Institut Steineck“, das, wie es in dem Roman heißt, „dem Pariser Institut Pasteur nachgebildet“ ist. In ihm erforscht eine Romanfigur namens Professor Steineck Krankheitserreger und stellt Heilmittel her. Er hoffe, „das Mittel gegen die Malaria herauszubringen“, sagt Steineck im Roman.

Die Gesellschaftsutopie ist inzwischen Wirklichkeit: Einige von Israels Krankenhäusern zählen zu den besten der Welt, und in Israel befinden sich einige der renommiertesten medizinischen Forschungseinrichtungen. An ihnen werden revolutionäre medizinische Therapien entwickelt, die das Leiden von Menschen in aller Welt lindern.

Zu den ausländischen Unternehmen, die in Israels medizinischem Forschungssektor aktiv sind, zählt der Darmstädter Wissenschafts- und Technologiekonzern Merck. Merck beschäftigt in Israel an seinen Standorten in Yavne, Herziliya, Rehovot und Jerusalem über 300 Mitarbeiter, zumeist Wissenschaftler. Alle drei Unternehmensbereiche von Merck – Healthcare, Life Science und Performance Materials – haben in Israel Einrichtungen zur Forschung und Entwicklung.

Mercks Engagement in Israel, erklärt mir Gangolf Schrimpf, der Unternehmenssprecher für den Bereich Healthcare, Science & Technology, begann mit der Übernahme zweier Unternehmen, die beide bereits seit Jahrzehnten in Israel geforscht hatten: 2007 übernahm Merck den Schweizer Biotech-Konzern Serono, der seit 1978 in Israel aktiv ist; 2015 folgte der Erwerb von Sigma Aldrich, einem führenden Hersteller und Händler von chemischen, biochemischen und pharmazeutischen Forschungsmaterialien.

„Die Geschichte der Vorläufer von Sigma Aldrich in Israel begann 1970, wir führen sie weiter“, erklärt Schrimpf. An einer Reihe von wichtigen Arzneien, die Merck entwickelt hat, waren israelische Forscher beteiligt:

  • Rebif, ein Medikament gegen Multiple Sklerose (MS), dessen Erforschung am Weizmann Institute in Rehovot, Israel, begann.
  • Erbitux, ein Medikament gegen Darmkrebs und Kopf-Halskrebs, ebenfalls mitentwickelt am Weizmann Institute.
  • Gonal-f, ein Fertilitäts- (Fruchtbarkeits-) Medikament, an dem das Sheba Medical Center in Tel Hashomer bei Tel Aviv maßgeblichen Anteil hatte.

Schrimpf erläutert, dass medizinische Wirkstoffe „nicht immer auf eine einzige Person oder ein Institut“ zurückgingen, sondern meist in „globalen Kooperationen“ entwickelt werden. Und so könne man sagen, dass die oben genannten Medikamente „ihre intellektuellen Wurzeln, ihren geistigen Ursprung, auch in Israel“ haben.

Entdecker und Entwickler von Rebif ist der heute 82 Jahre alte Michel Revel vom Weizmann Institute, der sein ganzes Forscherleben der Suche nach MS-Therapien gewidmet hat. Rebif könnte möglicherweise auch schwerkranken Covid-19-Patienten helfen, die an einer Überreaktion des Immunsystems leiden, die zu Organversagen führen kann. Dieser sogenannte Zytokinsturm stellt auch für junge Menschen ohne Vorerkrankungen ein Risiko für einen schweren oder tödlichen Verlauf einer Covid-19-Infektion dar. Seit März wird Rebif für diesen Einsatzzweck in klinischen Studien getestet.

Die Initiative ging nicht von der Firma Merck aus, sondern es waren die Weltgesundheitsorganisation WHO und medizinische Institute in Frankreich und den USA, die auf Merck zukamen und darum baten, Rebif in Studien an Covid-Patienten einsetzen zu dürfen, weil sie hoffen, dass es ihnen helfen kann. Im Juli bat die Europäische Kommission den Merck-Konzern, sich darauf einzustellen, Rebif auf Anfrage an EU-Länder zu liefern, sobald über den Einsatz des Mittels bei Covid-19 entschieden ist.

Israel: ein Netz innovativer Ideen

In Israel ist Merck gut vernetzt, kooperiert mit zahlreichen Forschungseinrichtungen. Schmripf nennt als Beispiele neben dem Weizmann Institute die Hebrew University, die Tel Aviv University, das Technion in Haifa, die Ben Gurion University und die Sourasky & Sheba Research Centers. „Diese Liste ist nicht vollständig – wir kooperieren mit vielen Einrichtungen vor Ort“, sagt er.

Zudem betreibt Merck in Israel an seinem Standort in Yavne südlich von Tel Aviv das Innovationslabor PMatX, dessen Fokus auf Elektronik der nächsten Generation liegt, und einen Bioinkubator, der auf Pharma bzw. Biotech ausgerichtet ist.  PMatX hat bereits ein eigenes Start-up-Unternehmen hervorgebracht – Feelit mit Sitz in Haifa.

Kürzlich gab Feelit die Markteinführung seines ersten kommerziellen Produkts mit dem Namen RetroFeel bekannt: Ein Aufklebesensor mit gedruckter Nanotechnologie erkennt strukturelle Veränderungen in mechanischen Teilen und Systemen und kann so bevorstehende Störungen vorhersagen. Das macht eine Wartung in starren Intervallen überflüssig und spart Kosten. Anwendung findet die Technologie in verarbeitenden Industrien wie der Pharma-, Lebensmittel-, Öl- und Gasindustrie sowie in der Halbleiterfertigung.

Eine andere Erfindung aus dem israelischen Merck-Labor hat die Haut des Endverbrauchers zum Ziel: Eine neuartige Sonnenmilch, die organische UV-Filter mit einem Silikongel kombiniert, verspricht, auf der Haut zu bleiben, nicht zu fetten und ein geringeres Allergiepotanzial zu haben als herkömmliche Sonnenschutzprodukte. Schrimpf sagt:

„Wir waren das erste deutsche und das erste pharmazeutische und chemische Unternehmen, das 2007 das israelische Global Enterprise R&D Collaboration Program unterzeichnet hat.“

Was verbirgt sich dahinter? Im israelischen Ministerium für Industrie und Handel gibt es eine Abteilung für den Bereich Wissenschaft. Die betreibt das genannte Programm, um israelische Innovationen in Kontakt mit international agierenden Unternehmen wie Merck zu bringen. „Dieses Programm unterstützt uns kontinuierlich bei der Identifizierung und Schaffung neuer Partnerschaften“, sagte Stefan Oschmann, der Vorsitzende der Geschäftsleitung von Merck, vor einigen Jahren in einem Interview.

„In Israel haben wir nicht nur eine Vergangenheit, die zu einigen der wichtigsten Produkte von Merck wie Rebif und Erbitux geführt hat, sondern auch eine vielversprechende Zukunft, da wir hier in Israel sehr interessante und hochmoderne Wissenschaft vorfinden und die Unterstützung dafür, diese Wissenschaft in Produkte zu übertragen.“

Israel habe im Vergleich zu anderen Ländern „die weltweit höchste Konzentration an Wissenschaftlern und Ingenieuren“, so Oschmann weiter.

„Darüber hinaus wissen die Kooperationspartner zu schätzen, dass israelische Wissenschaftler häufig auf weniger konventionelle Art arbeiten und ihre Ergebnisse schneller umsetzen können.“

Merck folgend hätten weitere deutsche Unternehmen an dem Programm des israelischen Handelsministeriums teilgenommen, erzählt Schrimpf, Firmen wie die Deutsche Telekom, Braun und SAP. Was alles für das Land spricht, darüber habe ich nun schon einiges gehört. Trotzdem stelle ich auch meinem Gesprächspartner Gangolf Schrimpf die Frage: Warum Israel?

„Israel ist ein Hotspot der Innovation. In Innovationsökosystemen, die wirklich sehr gut funktionieren, arbeiten eigene Plattformtechnologien eng zusammen.“

Darüber hinaus gebe es eine enge Verzahnung und Kooperation mit dem Militär, der Wissenschaft und mit privaten Unternehmen.

„Das findet man alles in Israel. Die Dichte und die Qualität der Forschung sind hier unglaublich gut. Israel ist äußerst dynamisch bei der Erschließung neuer Felder, immer aktiv an und in neuen Technologien. Es gibt ein ständiges Bestreben, immer einen Schritt voraus zu sein.“

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