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Innenpolitischer Tumult in Israel

Protestkundgebung auf dem Rabin-Platz in Tel Aviv
Protestkundgebung auf dem Rabin-Platz in Tel Aviv (Quelle: Twitter)

Israel hat es derzeit nicht leicht. Das Corona-Virus wütet, die Wirtschaft wackelt, die Einheitsregierung schwankt, und in der Bevölkerung setzen sich Wut und Widerstandslust fest.

Vor kurzem noch galt Israel als Musterbeispiel im Kampf gegen das COVID-19 Virus. Neuerkrankungen im zweistelligen Zahlenbereich, eine zwar angeschlagene, aber immer noch stabile Wirtschaftslage, und ein Volk, das stolz war auf die eigene Disziplin und die Fähigkeit ihrer Politiker.

Dann hätte es noch besser werden sollen. Ein triumphierender Netanyahu rief seinem Volk nach der ersten Welle zu, jetzt erst Mal Spaß zu haben, einen Kaffee trinken zu gehen und auch ein Bier. Diesem Aufruf leisteten die lebenslustigen Israelis denn auch nur allzu gerne Folge. Zudem schien sich auch die ewig-lange Patt-Situation in Sachen Regierung endlich in Wohlgefallen aufzulösen. Netanyahu und Gantz, die beiden politischen Hauptkontrahenten, einigten sich auf eine breite Koalition und gelobten, dem Virus gemeinsam komplett den Garaus zu machen.

Segen und Fluch im Corona-Kabinett

Als einen ihrer ersten Schritte, gründete die Regierung einen eigenen Parlamentsausschuss zum Kampf gegen das Virus. Das „Corona-Kabinett “ sollte die erforderlichen medizinischen, sozialen und wirtschaftlichen Maßnahmen synergetisch koordinieren und absegnen, um eine wirkungsstarke Vorgehensweise zu sichern.

In Wirklichkeit geschieht nun eher das Gegenteil. Waren die Regierungsentscheidungen ehedem zügig durchgezogen worden, so werden sie jetzt einer eingehenden Prüfung im Corona Kabinett unterzogen und nicht selten auch wieder verworfen. Das schafft zeitliche Verzögerungen und Widersprüche.

So verlangt das Gesundheitsministerium beispielsweise, angesichts der steigenden Anzahl der Ansteckungen, immer wieder die Einführung neuer Einschränkungen. Nach langen Diskussionen, lehnt das Corona-Kabinett die neuen Regelungen zuweilen aber nicht nur ab, sondern gibt sogar noch weitere Erleichterungen frei.

Klar, die Parlamentarier im Corona-Kabinett gehen in ihren Entscheidungen immer demokratisch und überlegt vor; der bürokratische Prozess ist aber komplex und langwierig. Zudem generieren die vielen Widersprüche zwischen Regierung und Corona-Kabinett bei der Öffentlichkeit Unsicherheit und erzeugen einen empfindlichen Vertrauensverlust in die Fähigkeit ihrer gewählten Vertreter, die komplexe Lage in den Griff zu bekommen.

Innerparteilicher Aufruhr

Besonders scharf trat dieses Problem neulich zutage, als das Gesundheitsministerium verlangte, alle Schwimmbäder und Fitnessstudios bis auf Weiteres zu schließen. Die Öffentlichkeit, die diese Einrichtungen nach langer Zeit wieder frequentieren durfte, protestierte lautstark. Deshalb forderte Yifat Shasha Biton, ihres Zeichens Vorsitzende des Corona Kabinetts, das Gesundheitsministerium auf, konkrete Ansteckungszahlen in den genannten Stätten vorzulegen, bevor eine endgültige Entscheidung getroffen werden könnte.

Es wurde diskutiert und überlegt, und Netanyahu verkündete schließlich nach Einsicht in bestehende Daten, die Schwimmbäder würden offenbleiben, nicht aber die Fitnessstudios.

Shasha Biton war nicht überzeugt. Sie drängte auf weitere Beweise vom Gesundheitsministerium, und als dieses nur Warnungen vor potentiellen Gefahren vorweisen konnte, beschloss die taffe Politikerin, auch die Fitnessstudios geöffnet zu belassen.Damit ging Shasha Biton, die ebenfalls der Likud-Partei angehört, zwar eigenständig und verantwortungsvoll vor, fiel ihrem Boss aber ordentlich in den Rücken.

Der parlamentarische Geschäftsführer, Miki Zohar, verlangte daraufhin hitzig ihre Entlassung, kam damit aber nicht durch, weil, so wird gemunkelt, der zweite Premier, Benny Gantz, es nicht zuließ, und wohl auch weil der gewiefte Regierungschef die negativen Konsequenzen einer solchen Racheaktion vorhersah und vermeiden wollte.

Die ganze Kontroverse löste sich also rasch auf, aber der Schaden war dennoch angerichtet, denn die besorgte Öffentlichkeit wurde Zeuge eines weiteren Trauerspiels im gemeinsamen Kampf gegen das Virus.

Skandal in der Opposition

Noch krasser gestaltet sich die Kontroverse zwischen Regierung und Opposition. Letztere wird angeführt von Yair Lapid aus der Yesh Atid-Fraktion, die ehedem mit Kachol Lavan fusioniert war, sich aber von der Gantz-Partei im Streit trennte, als Letztere ein Koalitionsabkommen mit der Likud einging.

Diese Opposition geht nun beherzt in die Offensive und versucht, die Regierung zu boykottieren. Dazu hat sie, ob der prekären Situation, jede Menge Gelegenheit. Neulich spitzten sich die Angriffspfeile aber bedenklich zu. Denn da twitterte Idan Roll von der Yesh Atid-Partei:

„Diese Regierung hat gegen den grundlegendsten Vertrag mit der Öffentlichkeit verstoßen, der sie verpflichtet, uns in Krisenzeiten zu schützen. Außerdem sind ihre Entscheidungen politisch und nicht datenorientiert motiviert. Sie verfügt also nicht über die erforderliche Legitimität, einen Lockdown zu verordnen, und die Öffentlichkeit muss nicht gehorchen.”

Der Eintrag wurde selbst von anderen Oppositionsmitgliedern scharf verurteilt. Kritik an der Regierung sei legitim, so etwa Naftali Bennett von der Yemina-Fraktion, aber Anarchie sei keine Option.

„Oppositions- und Koalitionsführer – bitte seid vorsichtig mit Euren Worten”, twitterte der milde Staatspräsident Reuven Rivlin. Roll entschuldigte sich daraufhin für seine Worte, sprach von einem Missverständnis und versicherte, er würde selbstverständlich die Bevölkerung aufrufen, die Gesundheitsvorgaben einzuhalten.

Unmut bei der Bevölkerung

Die Unruhen im Parlament sind zwar beträchtlich, verblassen aber im Vergleich zu den Aufständen in der Bevölkerung. In den letzten Wochen kam es immer wieder zu ausufernden Protesten.

Letzten Samstag, etwa, versammelten sich rund zehntausend Menschen in Tel-Aviv, um gegen die Wirtschaftspolitik der Regierung und die mangelnde Unterstützung der Selbständigen zu protestieren. Die Demonstration begann geordnet, uferte aber später gefährlich aus. Ähnliches geschah nur einige Tage später in Jerusalem, als sich Demonstranten vor der Residenz des Premiers versammelten und mit steigendem Zorn seinen Rücktritt forderten.

Ultra-orthodoxe Gemeinden organisierten eigene Foren, um, wie sie sich ausdrückten, gegen diskriminierende, lokale Schließungen zu protestieren; Sozialarbeiter streikten, weil sie von ihren Mindestgehältern einfach nicht auskommen können; Krankenpfleger protestierten, weil sie zu wenige Arbeitskräfte haben und den galoppierenden Anforderungen nicht mehr gerecht werden können.

Ja sogar die Pfadfinder gingen kürzlich in diversen Städten auf die Straße, um von der Regierung Zuschüsse für Jugendbewegungen einzufordern.

Geldspritze oder Tropfen auf dem heißen Stein?

Die Not im Land ist also beträchtlich, und die Regierung ist in arger Bedrängnis. Hinzu kommt, dass Letztere von vielen als „völlig abgehoben“ gebrandmarkt wird, zumal sie eine aufgeblähte Ministeranzahl hat und damit auch ein hochgeschraubtes Budget verzeichnet. Zudem kam es neulich zu einem „marie-antoinette-reifen“ Eklat, als ein Likud-Minister in einem Fernsehinterview behauptete, die Nachricht, dass manche Israelis Hunger leiden würden, sei „Quatsch“.

Netanyahu versucht nun, die Wogen zu glätten. Er und sein Finanzminister, Israel Katz, versicherten, sie würden den Menschen umgehend und ohne viel Bürokratie ein finanzielles „Sicherheitsnetz“ aufspannen. Freelancer, Selbständige und frische Arbeitslose sollen, je nach vergangenem Verdienst und aktuellem Verlust, ausgleichende Zahlungen erhalten.

Tatsächlich begann das Geld letzten Mittwoch zu fließen, aber schon wurden Stimmen laut, die Summen seien nichts weiter als lächerlich kleine Tropfen auf glühend heißen Steinen.

Auch als Netanyahu jedem israelischen Bürger einen einmaligen Zuschuss von rund 200 Euro zuteilte, erntete er nichts als wütenden Kritik. Da half es nichts, dass er versicherte, es sei eine erforderliche Maßnahme, um die lokale Wirtschaft anzukurbeln. Man warf ihm vor, die undifferenzierte Ausschüttung würde die falschen Bevölkerungsschichten erreichen und lediglich dazu dienen, ihn, Netanyahu, beim Volk wieder beliebter zu machen.

Zugegeben: Israel hat es derzeit wirklich nicht leicht. Aber kurz bevor die Situation den Israelis an die Substanz geht, erinnern sie einander daran, dass sie es ja nie wirklich leicht hatten, und dass sie schon viele andere, existentielle Krisen meistern konnten. Das zaubert dann immer wieder ein Lächeln auf ihre Lippen und einen Hauch von Optimismus in ihre Herzen.

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