Inflation stürzt immer mehr Türken in Armut

Lebensmittelpreise sind von der Inflation in der Türkei besonders betroffen
Lebensmittelpreise sind von der Inflation in der Türkei besonders betroffen (© Imago Images / agefotostock)

Die türkische Wirtschaft war schon vor der Coronavirus-Pandemie in Schwierigkeiten und steht nun am Rande des Abgrunds.

Burcin Gercek, Rudaw

Während die Wirtschaft in den letzten drei Monaten des Jahres 2020 offiziell um fast sechs Prozent expandierte, ging dieses Wachstum auf Kosten der staatlichen Kreditvergabe, was die Verbraucherpreise in die Höhe trieb. Die jährliche Inflationsrate war bis Februar auf 15,6 Prozent hochgeschossen, während die türkische Lira seit Anfang 2018 mehr als die Hälfte ihres Wertes gegenüber dem Dollar verloren hat. (…)

Die harte Realität ist, dass immer mehr Türken in die Armut abrutschen, die offiziell als ein Einkommen von weniger als 4,30 Dollar (3,60 Euro) pro Tag definiert ist. Die Weltbank schätzte, dass zum Zeitpunkt ihres letzten Berichts im April 2020 bereits 13,9 Prozent der Bevölkerung – oder knapp 12 Millionen Menschen – in Armut lebten.

Hacer Foggo, Gründerin der NGO Deep Poverty Network, die sich seit 20 Jahren den Ärmsten in der Türkei widmet, sagt, sie habe noch nie eine so schlimme Situation gesehen. „Der Zugang zu Lebensmitteln war noch nie ein so großes Problem wie heute“, so Foggo. „Früher hat man, wenn man nichts zu essen hatte, die Nachbarn gefragt. Aber heute haben die Nachbarn auch nichts mehr.“ (…).

„Ich habe Mütter gesehen, die ihre Babys mit Tütensuppe füttern, weil sie sich keine Babynahrung leisten können”, so Foggo. Babynahrung „ist so teuer, dass die Supermärkte sie unter Verschluss halten, als wäre sie ein Luxusprodukt.“ Foggo sagt, dass vermehrt Türken, die nie über Armut nachdenken mussten, sich nun hilfesuchend an ihre NGO wenden. (…)

Diese Probleme spitzten sich im Oktober zu, als das Video eines Händlers, der zu Präsident Recep Tayyip Erdogan sagte, er könne „kein Brot mehr nach Hause bringen“, einen Aufruhr verursachte. „Das scheint mir eine Übertreibung zu sein“, antwortete Erdogan. Seit 18 Jahren an der Macht, sind Erdogans tägliche Ansprachen voll mit Ausschmückungen vom „Wiederaufschwung“ des Landes und dem Wachstum zu „einer der größten Volkswirtschaften der Welt“.

Aber Erinc Yeldan, ein Wirtschaftswissenschaftler an der Istanbuler Kadir Has Universität, sagt, der türkische Präsident bezahle für den Fehler, Wachstum um jeden Preis zu erreichen zu wollen. Das Ergebnis war eine rasant steigende Inflation, die Zentralbank verschleuderte einen Großteil ihrer Reserven bei dem Versuch, die Lira zu stützen, und das Vertrauen ausländischer Investoren in die Türkei erodierte. Erdogan tauschte sein Wirtschaftsteam Ende letzten Jahres aus, aber Yeldan sagt, der Schaden sei bereits angerichtet worden und treffe die Ärmsten am härtesten.

Yeldan weist darauf hin, dass die offizielle Inflationsrate nur ein Durchschnittswert ist. „Sie ist viel höher, und beträgt für Lebensmittel, für die Menschen mit bescheidenen Mitteln den größten Teil ihres Geldes ausgeben, etwa 22 Prozent“. Der kumulative Preisanstieg für Lebensmittel seit 2018 liege bei rund 55 Prozent, sagte Yeldan – etwa so hoch wie die Abwertung der Lira gegenüber dem Dollar im gleichen Zeitraum.

Erdogan hat auf sich derweil auf seine Kritiker eingeschossen, und beschuldigt „Lobbys“ von Händlern und Kaufleuten, unfaire Gewinne machen zu wollen. „Sie schaffen imaginäre Feinde, um die Unzufriedenheit davon abzuhalten, sich gegen die Regierung zu wenden“, sagt Yeldan.

(Aus dem Artikel „Turks grapple with poverty as inflation bites“, der bei Rudaw erschienen ist. Übersetzung von Alexander Gruber.)

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