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In Syrien droht die Vertreibung von einer Million Kurden

Im Interview warnt Syrien-Experte Jonathan Spyer vor den Truppen, die in Nordsyrien einfallen werden: Die seien nicht Teil der türkischen Armee, sondern eine Ansammlung von sunnitisch-islamistischen Milizionären.

„Es kommt darauf an, wie weit die Türken gehen wollen. Im Moment wird der ganze Streifen entlang der Grenze beschossen, vom Tall Abyad im Westen bis hin zu einem Ort namens Derik, der sich direkt an der syrisch-irakischen Grenze befindet.

Wenn die Absicht der Türken, wie Präsident Erdogan es auf der UN-Generalversammlung erklärte, darin besteht, wirklich vorzudringen und eine 20 Meilen tiefe Pufferzone von der Grenze weg zu schaffen, dann ist die Wahrscheinlichkeit für eine Vertreibung der Bevölkerung zumindest extrem hoch. Denn das würde im Grunde bedeuten, dass die Türken mehr oder weniger die Gesamtheit der wichtigsten kurdischen Bevölkerungsgebiete in Nordsyrien erobern.

Das heißt, Tall Abyad und Derik, und auch Kobane und die Stadt Qamischli. Bis zu eine Million Menschen droht vertrieben zu werden. Und die Gefahr, dass das Ergebnis noch schlechter ausfällt, ist sehr groß, wenn man sich die Leute ansieht, mit denen die Türken in dieser Kampagne zusammenarbeiten.

Aber wir kennen die Absichten der Türken noch nicht, und vielleicht wissen sie es selbst noch nicht. Es scheint, dass Erdogan sich nach Trumps Ankündigung [des Abzugs amerikanischer Soldaten] entschieden hat, sehr schnell zu handeln, vermutlich mit der Absicht, die amerikanische und internationale Entschlossenheit zu testen.

Wenn es jetzt eine sehr starke internationale Reaktion gegen die Türken gibt, müssen sie sich vielleicht mit begrenzteren Zielen zufriedengeben. Sie könnten sich zum Beispiel damit abfinden, dass sie nur die Kontrolle über das Gebiet zwischen Tall Abyad und Raʾs al-ʿAin übernehmen. Und wenn das der Fall ist, dann sprechen wir natürlich von einer viel geringeren Bedrohung für die kurdische Bevölkerung. (…)

Die türkische Armee selbst, die regulären Streitkräfte von Erdogan, wird meiner Meinung nach ziemlich klare Befehle haben, keine Massaker durchzuführen. Aber sie führen im Moment wahllose Bombardierungen besiedelter Gebiete durch. In Raʾs al-ʿAin n wurde ein Krankenhaus getroffen.

Die syrisch-türkischen Verbündeten allerdings, mit denen die Türken zusammenarbeiten und die viele der Bodenkämpfer für diese Mission zur Verfügung stellen wollen, nennen sich die Syrische Nationalarmee (die auch als Freie Syrische Armee bekannt ist).

Worum handelt es sich dabei? Um einen Zusammenschluss einer ganzen Reihe von Überresten der syrisch-arabischen Rebellion aus Nordsyrien, einschließlich sehr extremer sunnitisch-jihadischer Elemente, die in ihrer eigenen Propaganda regelmäßig auf die PKK [Kurdische Arbeiterpartei] und die Kurden als Apostaten, Atheisten, Kommunisten und all diese Dinge verweisen. Dies ist keine besonders disziplinierte Truppe. Es ist eine zutiefst sektiererische und sunnitisch-islamistische Truppe mit einer ausgeprägten und vielfach belegten Feindseligkeit gegenüber der kurdischen Bevölkerung.

Wenn diese Jungs also mit der kurdischen Bevölkerung in Kontakt kommen, dann könnten die Ergebnisse äußerst beunruhigend sein. Wir wissen das, weil wir so etwas wie einen Präzedenzfall haben, nämlich die Operation Olivenzweig [die die Türkei und die von Ankara unterstützte syrische Nationalarmee Anfang 2018 durchgeführt haben], als die Türken den kurdischen Kanton Afrin zerstörten.

Dies führte zur Vertreibung von 200.000 Menschen. Es gab kein großes Massaker, weil die Bevölkerung rechtzeitig geflohen ist. Aber es gab zahlreiche Plünderungen und Fälle, in denen Zivilisten ermordet wurden.

Man spricht von der Türkei als NATO-Mitglied. Wir sollten uns das nicht als eine disziplinierte NATO-Armee vorstellen, die diese Orte betreten wird. Das ist sie nicht. Sie [Erdogans Truppen] werden die Artillerie und die Luftmacht stellen, aber die Leute am Boden werden syrische sunnitisch-islamistische Milizionäre sein, mit all dem, was das bedeuten kann.“ (Aus einem Interview mit Jonathan Spyer in The Times of Israel: „Turkey’s Syria offensive could displace over a million Kurds, top analyst warns“)

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