Die außenpolitischen Inszenierungen Erdoğans können nicht von einer Hyperinflation von 80 Prozent oder mehr ablenken.
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan gefällt sich besonders, wenn er sich als bedeutender Staatsmann präsentieren kann, der wegen seiner Wichtigkeit international umworben wird. Egal, ob es um drohende Flüchtlingskrisen, den Krieg in Syrien oder den Ukraine-Krieg und die NATO-Erweiterung geht, bei allen Brennpunkten der Weltpolitik steht er im Mittelpunkt, weil ohne ihn so gut wie nichts geht. Das ist zumindest das Bild, das er den Wählern zu Hause vermitteln will, denen er die Rolle zugedacht hat, seine Leistungen bei den Parlaments- und Präsidentenwahlen im Frühsommer 2023 mit Mehrheiten für sich bzw. die AKP zu würdigen.
Blättriger Lack
Doch der Inszenierung als begehrter Führer von Weltrang stehen die nüchtern betrachtet recht bescheidenen Erfolge entgegen, die Erdoğan tatsächlich aufzuweisen hat. Im Ukraine-Krieg gab er beispielsweise gerne den Vermittler, dem es gelungen ist, ein Abkommen zwischen den Kriegsparteien zu erwirken, das den Export von ukrainischem Getreide über das Schwarze Meer gewährleisten soll. Doch nach russischen Raketenangriffen auf den ukrainischen Schwarzmeerhafen Odessa droht die Vereinbarung nur einen Tag nach ihrer Unterzeichnung in Istanbul bereits wieder hinfällig zu sein.
Dass es zu dem Abkommen überhaupt gekommen ist, soll u. a. auf ein Treffen zwischen Erdoğan und Putin im Rahmen des türkisch-russisch-iranischen Gipfels in Teheran vergangene Woche zurückzuführen gewesen sein. Trotz aller bekundeten Freundschaft zwischen den drei Staaten, die vor allem ihre Gegnerschaft zum Westen eint, biss der türkische Präsident mit seinem Hauptanliegen allem Anschein nach auf Granit: die erhoffte Zustimmung zu einer erneuten militärischen Offensive gegen die Kurden in Nordsyrien unter dem Vorwand der Bekämpfung des »Terrorismus« war weder von Russland noch vom Iran zu erhalten. Vielmehr warnte der Oberste Geistliche Führer des Iran, Ali Khamenei: »Jeglicher Angriff der Türkei in Nordsyrien würde nur den Terroristen in Syrien helfen.«
Ungewöhnlich scharfe Kritik erntete die Türkei dieser Tage auch über ihre völkerrechtswidrigen militärischen Operationen im Nordirak, wo sie seit Jahren eine rapide steigende Zahl von Angriffen auf Stützpunkte der kurdischen PKK unternimmt. So soll es allein zwischen April und Dezember 2021 mehr als 1.100 Zusammenstöße zwischen der türkischen Armee und der PKK im Nordirak gegeben haben, meist türkische Luft- oder Drohnenangriffe, und in diesem Jahr soll die Zahl der türkischen Angriffe laut einem Bericht der Neuen Zürcher Zeitung erneut stark angestiegen sein.
Jüngster trauriger Höhepunkt des Blutvergießens im Nordirak war ein Angriff auf einen beliebten Touristenort in der Provinz Dohuk am vergangenen Mittwoch, bei dem neun Menschen getötet wurden, darunter zwei Geschwister im Alter von zwölf und 16 Jahren sowie ein einjähriges Mädchen. Die irakische Regierung macht die Türkei für die Attacke verantwortlich, die das allerdings bestreitet und ihrerseits die PKK beschuldigt, den Artillerieangriff durchgeführt zu haben.
Schrottwährung
Ob all die Auftritte Erdoğans auf dem internationalen Parkett die türkischen Wähler in der gewünschten Weise beeinflussen, ist angesichts der dramatischen wirtschaftlichen Entwicklung in der Türkei freilich fraglich, wo vor allem eine Hyperinflation den Menschen zu schaffen macht. Offiziell beläuft sich die Inflationsrate seit einem Jahr auf nicht weniger als 80 Prozent, unabhängige Einschätzungen gehen von einem noch deutlich höheren Wert aus.
Zwar haben viele Länder aktuell mit hoher Inflation zu kämpfen, doch ist die Türkei ein Sonderfall. Denn hier regiert ein Präsident, der seine eigenen Theorien über die Ursachen der Preissteigerung hat und die Zentralbank keine der Maßnahmen vornehmen lässt, die üblicherweise im Kampf gegen steigende Inflationsraten angewendet werden. Statt Zinsanhebungen fordert er vielmehr stets neue Zinssenkungen – und wer diese Ansichten nicht teilt, wird kurzerhand gefeuert und durch Erdoğan -treue Figuren ersetzt.
Alle bisher unternommenen Maßnahmen, inklusive der Aufrufe an die türkische Bevölkerung, ihr gespartes Gold zu verkaufen, um die Landeswährung zu stützen, haben nichts zur Eindämmung der Inflation beigetragen. Die türkische Lira ist, wie der Standard schreibt, mittlerweile nur mehr eine »Schrottwährung«. Wer noch Geld hat, hat dieses längst in Dollar oder Euro umgewandelt, und wer kann, geht ins Ausland.
So groß ist die wirtschaftliche Not, dass viele der zahlreichen Menschen, die in den vergangenen Jahren in die Städte gezogen sind, jetzt auf ihre familiären Beziehungen am Land zurückgreifen müssen: Auf Produkte aus Subsistenzwirtschaft zurückgeworfen, müssen sie versuchen, irgendwie über die Runden zu kommen.
In früheren Jahren haben die anfänglichen wirtschaftlichen Erfolge zweifellos zu den Wahlgewinnen der AKP und Erdoğans beigetragen. Im Jahr 2023 wird das nicht der Fall sein.