Das jahrelange Ignorieren der Hisbollah könnte ein strategischer Fehler gewesen sein, dessen Kosten sogar jene des Überfalls der Hamas auf Israel in den Schatten stellen könnten.
Israel Kasnett
Die Kriegstrommeln an Israels Grenze zum Libanon werden mit jedem Tag lauter geschlagen, und laut Experten ist es nur noch eine Frage der Zeit, wann Israel in den Krieg mit der Hisbollah ziehen muss.
Der israelische Verteidigungsminister Yoav Gallant sagte während seines Aufenthalts in Washington letzte Woche, Israel könne den Libanon zwar »zurück in die Steinzeit« schicken, werde dies aber nicht tun, sondern ziehe die Diplomatie vor, um die Spannungen mit der vom Iran unterstützten Terrorarmee, die Israels Nordgrenze seit Monaten bedroht, zu reduzieren. Angesichts der Tatsache, dass Zehntausende Israelis seit fast neun Monaten aus dem Norden evakuiert wurden und die Hisbollah Israel weiterhin täglich mit Raketen und Drohnen beschießt, ist klar, dass Israel bald eine Entscheidung treffen muss.
Der Geschäftsführer des in Washington ansässigen Jewish Institute for National Security of America (JINSA), Michael Makovsky, erklärte gegenüber Jewish News Syndicate, Israel habe zunächst zu entscheiden, ob und wann es genug von der Situation habe. Um den Südlibanon bis zum Litani-Fluss etwa fünfzehn Kilometer nördlich der Grenze zu räumen, müsste Israel Bodentruppen einsetzen.
Ein anderes Szenario könnte laut Makovsky in der Einstellung der Angriffe seitens der Hisbollah liegen, wenn die Kämpfe im Gazastreifen abflauen, was derzeit jedoch unwahrscheinlich ist. In der Zwischenzeit, so Makovsky, setze Israel die Hisbollah weiterhin stark unter Druck und zerstöre einen Großteil der Infrastruktur der Terrorgruppe in Grenznähe.
In einem kürzlich erschienenen Artikel des amerikanischen Magazins Tablet analysierte Makovsky, Israel habe in den vergangenen Jahren den Fehler begangen, »sich hauptsächlich darauf zu konzentrieren, das Wachstum der Fähigkeiten der Hisbollah durch eine jahrelange Kampagne in Syrien zu begrenzen«. Der Hisbollah in den beiden letzten Jahrzehnten gestattet zu haben, ihre Bedrohung immer mehr auszuweiten, »scheint ein kolossaler strategischer Fehler gewesen zu sein, dessen Kosten sogar die des 7. Oktobers 2023 in den Schatten stellen könnten«.
Darüber hinaus erklärte er kürzlich auf der US-Nachrichtenplattform The Hill, es gebe zwei Gründe, warum Israel jetzt entschlossen handeln muss: Der erste sei »die Sicherstellung der Rückkehr der Bürger in ihre Häuser im Norden, sowohl aus Pflichtgefühl als auch, weil ihre Vertreibung das Gründungsversprechen des jüdischen Staates untergräbt, nämlich dass Juden überall innerhalb seiner Grenzen sicher leben können«. Der zweite Grund liege »im zügigen Ausbau des iranischen Atomprogramms« und, »dass Israel nicht in der Lage sein wird, die Hisbollah zu besiegen, sobald sie sich unter einem iranischen Nuklearschirm befindet«.
Gleichzeitig habe Israel »auch gute Gründe, mit einer Eskalation gegen die Hisbollah zu warten; nicht zuletzt durch die Dringlichkeit, den Kampf im Gazastreifen zu beenden und die verbleibenden 116 israelischen Geiseln zu befreien«, sagte Makovsky und bezog sich dabei auf die beim Hamas-Terrorüberfall Verschleppten. Insgesamt hält die Terrorgruppe derzeit 120 Geiseln im Gazastreifen fest, von denen vier allerdings schon vor dem 7. Oktober gefangen genommen wurden.
Problem UN-Resolution 1701
Der Zweite Libanonkrieg von 2006 endete mit der Resolution 1701 des UN-Sicherheitsrats, die das Mandat der Interimstruppe der Vereinten Nationen im Libanon (UNIFIL) erweiterte und die Hisbollah zum Rückzug nördlich des Litani-Flusses verpflichtete.
Laut dem wissenschaftlichen Mitarbeiter der parteiunabhängigen Foundation for Defense of Democracies mit Sitz in Washington Hussain Abdul-Hussain habe die Resolution 1701 »zwar eine Zeitlang für Entspannung gesorgt und Israel fünfzehn Jahre Ruhe an der Grenze zum Libanon verschafft, ist aber spätestens seit 2020 irrelevant geworden, da sie in der Praxis nicht überprüfbar ist. Hisbollah-Kämpfer bewegen sich in Zivilkleidung und mischen sich unter die Nichtkombattanten, was die Überprüfung ihres Rückzugs nördlich des Litani unmöglich macht.«
Im besten Fall, so Abdul-Hussain, »könnte Israel darauf hoffen, dass die Waffendepots, vor allem solche mit Raketen und Panzerabwehrraketen, nördlich des Litani bleiben, und dazu müsste Israel die Depots südlich des Litani zerstören und der UNIFIL genügend Durchsetzungskraft verleihen, um die neue Realität durchzusetzen«.
Bei der UNIFIL liege das Problem in ihrem Mandat, beanstandet der Experte: Als die UNO-Truppe 2006 im Rahmen der Resolution 1701 erweitert wurde, »war die Idee, dass diese Truppe in der Größe einer Armee in der Lage sein würde, die Hisbollah zu zügeln und die Entwaffnung des libanesischen Territoriums südlich des Litani sicherzustellen, wobei das libanesische Militär die einzige andere legitime bewaffnete Kraft in der Region wäre«.
Das Problem, so Abdul-Hussain, »war, dass Resolution 1701 unter Kapitel VI der UN-Charta gebilligt wurde [im Gegensatz zum obligatorischen Kapitel VII, das die Souveränität der lokalen Regierung außer Kraft setzt], was bedeutet, dass 1701 die libanesische Souveränität nicht außer Kraft setzt, sondern mit der Zustimmung und der Zusammenarbeit der libanesischen Regierung umgesetzt wird«.
Laut Abdul-Hussain musste die UNIFIL-Operation daher von den libanesischen Streitkräften (LAF) genehmigt werden, die von der Hisbollah infiltriert und beherrscht werden. Er wies darauf hin, dass Israel der UNIFIL zwar Informationen über die Waffendepots der Hisbollah südlich des Litani zur Verfügung gestellt habe, die UNIFIL aber nicht handeln konnte, ohne zuvor die Streitkräfte zu informieren, aus deren Reihen die Informationen an die Hisbollah weitergeleitet wurden, die wiederum die Waffen vor Eintreffen der UNIFIL in anderen Verstecken unterbrachten.
Konnte die Hisbollah die Waffen nicht rechtzeitig wegschaffen, wurden »Einheimische« geschickt, um die UNIFIL am Erreichen ihrer Zielorte zu hindern. »Die UNO-Truppe war machtlos. Israel hat versucht, das UNIFIL-Mandat zu ändern und es gab auch Anpassungen, aber dank der Franzosen, die fast immer auf der Seite der Hisbollah stehen, wurden bei der jährlichen Erneuerung der UNIFIL-Mission keine ernsthaften Änderungen beschlossen«, sagte er.
Libanesen als Verlierer
Michael Makovsky stimmt diesem Befund zu und ergänzt, dass die UNIFIL für Israel seit Jahren problematisch sei und sich daran auch nichts ändern werde. Ihm zufolge wurde die Resolution 1701 und die damit einhergehende US-Politik zur Stärkung der libanesischen staatlichen Institutionen zu einem Feigenblatt für den Iran, um die Raketen- und Flugkörperkapazitäten der Hisbollah an Israels Grenze zu stärken. Damit fehlen Israel nach wie vor die Möglichkeiten, die Hisbollah zu entwaffnen und den Bewohnern im Norden Israels die Rückkehr in ihre Heimatorte zu ermöglichen.
Abdul-Hussain glaubt, Amerika würde idealerweise »eine umfassende Lösung zwischen dem Libanon und Israel anstreben«. Ist der Streit um die dreizehn Landgrenzpunkte beigelegt, »kann Amerika versuchen, die Libanesen davon zu überzeugen, ihnen bei ihren tiefgreifenden wirtschaftlichen Problemen zu helfen und die LAF besser zu bewaffnen im Gegenzug dafür, dass die Hisbollah ihre Waffen abgibt«, was »weiterhin im Mittelpunkt der Debatte und der Lösung stehen sollte«.
Die Seegrenze zwischen Israel und dem Libanon wurde in einem Abkommen festgelegt, das der Gesandte der US-Regierung Amos Hochstein im Jahr 2022 vermittelt hatte. »Leider«, so Abdul-Hussain weiter, »sieht Amerika den Libanon nicht als ein vom Iran unabhängiges Problem, und weil die Biden-Administration sich mit Teheran gut stellen will, schleicht sie um das Hauptproblem herum: die illegale Hisbollah-Miliz.«
Die Politik Washingtons gegenüber dem Libanon sei seit 2008 eine des Krisenmanagements, was bedeute, dass Israel »nicht auf eine umfassende Lösung mit dem Libanon hoffen kann, sich durchwursteln und die Hisbollah jedes Jahrzehnt in einen verheerenden Krieg verwickeln muss, um sich ein weiteres Jahrzehnt der Ruhe zu erkaufen«.
Ein weiterer Aspekt des Problems mit dem Libanon ist, dass die Vereinigten Staaten und Frankreich nicht genügend unternehmen, um den Libanon, den Iran oder sogar die Hisbollah zum Einlenken zu bewegen. Abdul-Hussain zufolge managen die Vereinigten Staaten bloß die Krise, und Frankreich hat Interessen im Iran, die sich im Libanon auswirken.
Als die USA unter dem ehemaligen Präsidenten Barack Obama die Sanktionen gegen den Iran aufhoben, »bekam Frankreich zwei Mega-Deals: Ein 25-Milliarden-Dollar-Geschäft zwischen dem Iran und Airbus und ein Fünf-Milliarden-Dollar-Geschäft für die französische Total zur Erschließung des Pars-11-Energiefelds im Süden des Landes«, sagte er. Aus diesem Grund hofft Frankreich, sich beim Iran beliebt zu machen, indem es sich mit der Hisbollah gut stellt in der Hoffnung der Reaktivierung dieser Geschäfte, wenn die Sanktionen eines Tages aufgehoben werden. Die Verlierer sind hier die Libanesen.«
Der Illusionen entledigen
Sowohl Hussain Abdul-Hussain als auch Michael Makovsky sind der Meinung, dass Israel Maßnahmen zur Entwaffnung der Hisbollah ergreifen muss. Abdul-Hussain zufolge ist die Vorstellung, »der Iran, die Hisbollah oder die Hamas würden sich mäßigen, wenn wir sie in die Weltordnung oder in die Finanz- und Geschäftswelt einbinden, ein Mythos, der für immer ad acta gelegt werden sollte«.
Es sei wichtig zu verstehen, »dass es sich hierbei um eine permanente Bedrohung für Israel, Amerika und den Westen insgesamt handelt und wir eine langfristige Strategie für umfassende Lösungen verfolgen müssen, einschließlich der Unterstützung der Iraner beim Sturz ihres Regimes und dessen Ersetzung sowie der Unterstützung der Libanesen bei ihren Bemühungen um die Entwaffnung der Hisbollah«.
Auch wenn diese Ideen »weit hergeholt« erscheinen, können »wir mit Zeit, Mühe, Geduld und Beharrlichkeit zum Ziel kommen. Wir sollten keine sofortigen Ergebnisse erwarten«, resümiert Abdul-Hussain abschließend. »Diese außenpolitischen Themen erfordern ein langfristiges, überparteiliches Denken und können nicht an unserer eigenen amerikanischen kurzen Aufmerksamkeitsspanne gemessen werden, die an Wahlen und den Nachrichtenzyklus gekoppelt ist.«
Der Text erschien auf Englisch zuerst beim Jewish News Syndicate. (Übersetzung von Alexander Gruber.)