Eine neue feministische Gruppe will auf Gewalt gegen Frauen aufmerksam machen – auch in Israel stieg während des Lockdowns die Zahl häuslicher Gewaltakte.
Seit Israel vor zwei Monaten den Corona-Lockdown beendet hat und die Menschen wieder auf die Straßen dürfen, hat sich in Tel Aviv eine neue Gruppe von Feministinnen gebildet, die auf die Gewalt an Frauen aufmerksam machen will. Die Aktivistinnen kleben Slogans, Statistiken und persönlichen Berichte über Gewalterfahrungen an die Wände in den Straßen der Stadt. So wollen sie ansprechen, was oft hinter verschlossenen Türen versteckt bleibt. Die Sticker sind einfach selbst herzustellen und werden, je nachdem in welcher Gegend von Tel Aviv sie angebracht werden, mit großen Buchstaben auf Hebräisch, Arabisch, Englisch oder Französisch bedruckt. Die Gruppe will eine Debatte über Gewalt an Frauen entfachen und das Problem ins öffentliche Bewusstsein rücken.
Die Idee zu HaStickeriot stammt ursprünglich aus Frankreich, von der Gruppierung Les Colleuses und wurde von den französisch-israelischen Feministinnen Illana Weizmann und Morgan Koresh nach Tel Aviv gebracht. Auch in anderen Ländern ließen sich feministische Gruppen von dem vor rund einem Jahr in Frankreich entstandenen Vorbild inspirieren, ähnliche Gruppen gibt es bereits in Italien, Deutschland, England, Belgien, Polen, Spanien, Portugal, Syrien und der Türkei.
Vermehrt Gewalt im Lockdown
Auch in Israel stieg die Zahl an Fällen von häuslicher Gewalt während des Lockdowns stark an. Die Polizei meldete im April, dass seit dem Beginn der Ausgangsbeschränkungen um 16 Prozent mehr Notfälle bei ihr eingegangen sind, doch dürfte damit laut Experten das wahre Ausmaß des Problems nicht wirklich abgebildet werden. „Frauen in bereits angespannten Beziehungen, die rund um die Uhr zu Hause mit Kindern festsitzen, mit wirtschaftlichem Druck und möglichen Arbeitsplatzverlusten sowie mit Unsicherheiten über das Virus selbst konfrontiert sind, habe es sehr schwer, den Telefonhörer abzuheben und sich bei der Polizei oder bei einem Sozialdienst zu melden, während ihre Ehemänner in der Nähe sind“, schrieb die Times of Israel über die Lage der Betroffenen. Bei einer Hilfsstelle für Opfer sexueller Gewalt verdoppelte sich Umfang der online geführten Kommunikation mit betroffenen Frauen.
Zusätzlich erschwert wurde deren Lage von Gewaltopfern dadurch, dass die 14 Frauenhäuser Israels auch während des Lockdowns Schutz boten, die dort arbeitenden Sozialarbeiterinnen vom Sozialministerium anfangs nicht als essentielle Arbeitskräfte eingestuft und unbezahlt nach Hause geschickt wurden, eine Entscheidung, die erst nach einigen Wochen revidiert wurde.
Zwei Problemgruppen
Auskünften der Hilfsorganisation Bet Melech zufolge werden in Israel jedes Jahr rund 200.000 Frauen und 600.000 Kinder zu Opfern häuslicher Gewalt. Die Organisation betreibt die einzigen beiden Frauenhäuser in Israel speziell für Opfer aus dem religiösen Sektor der Gesellschaft, wo es besondere Probleme gibt. Unter den Religiösen geschehen zwar verhältnismäßig nicht mehr Gewaltakte als in der übrigen Gesellschaft, aber die betroffenen Frauen wissen aufgrund mangelnder Information oftmals nicht, an wen sie sich wenden können, um Hilfe zu bekommen, und viele haben keine Handys und keinen Zugang zum Internet und zu sozialen Medien. Dazu kommt der große soziale Druck, nach außen das Bild einer funktionierenden Ehe aufrecht zu erhalten und nur ja nicht als „schlechtes Beispiel“ für andere zu fungieren.
Bat Melech hat 2017 eine Kampagne begonnen, mit der in Haredi-Gemeinden Bewusstsein für das Problem der Gewalt gegen Frauen geschaffen werden soll. Und auch HaStickeriot will vermehrt auf Frauengewalt in diesen Gemeinden hinweisen. Über eine Kollaboration mit der Haredi-NGO Kolech versucht Illana Weizmann Anschluss an ultraorthodoxe Frauen zu finden.
In den Gewaltstatistiken deutlich überrepräsentiert sind Opfer aus Israels arabischen Gemeinden: Obwohl der arabische Sektor nur rund 20 Prozent des Landes ausmacht, wird in ihm rund die Hälfte aller Frauenmorde begangen. Kritik gibt es deshalb sowohl am Staat als auch an den Gemeinden, beiden wird vorgeworfen, zu wenig zu unternehmen, um Frauen im arabischen Teil der Gesellschaft besser zu schützen.
Gewalt in allen Teilen der Gesellschaft
HaStickeriot gibt sich unpolitisch. Die Aktivistinnen wollen alle Frauen ansprechen und dazu motivieren sich zu beteiligen. Gewalt an Frauen hat für sie nichts mit einer politischen Ausrichtung zu tun. Sie geschieht überall, egal ob im rechten oder linken Lager, ob religiös oder säkular, ob jüdisch oder arabisch. „Leider gibt es Gewalt an Frauen in jeder Gemeinschaft“, so Weizmann. HaStickeriot arbeitet daran, ihre Methode in ganz Israel zu verbreiten und Frauen aus unterschiedlichen Gemeinden anzusprechen. Interessierte soll es bereits in Beer Sheva, Rishon Le Zion, in der christlich-arabischen Gesellschaft von Jaffa und auch bei muslimisch-arabischen Frauen im Norden des Landes geben.
Die Gruppe will die Geschichten und Erlebnisse von betroffen Frauen bekannt machen. Dabei geht es ihr um jede Art von sexueller Belästigung oder Misshandlung, von ungewollten Bemerkungen auf der Straße bis zum Mord an Frauen. Die gemeinsamen Aktionen auf der Straße begreift Ilana Weizmann als eine Form von Empowerment von Frauen. „Wenn Frauen unter Frauen auf die Straße gehen, wird Empowerment erzeugt. Männer können in der Zwischenzeit auf die Kinder aufpassen, wenn sie mithelfen möchten“, so Illana.