Hamas plant mehrere Angriffsfronten gegen Israel 

Hamas-Führer Yahia Sinwar auf der 35-Jahr-Feier der Terrororganisation
Hamas-Führer Yahia Sinwar auf der 35-Jahr-Feier der Terrororganisation (© Imago Images / APAimages)

Neben der Beherrschung des Gazastreifens entwickelt die Terrororganisation ein umfassendes Konzept zur Zerstörung des jüdischen Staates und einer dritten Intifada.

Yaakov Lappin

Am 14. Dezember versammelten sich Zehntausende Hamas-Anhängern und -Aktivisten in den Katiba-Gärten von Gaza-Stadt, um den 35. Jahrestag der Bewegung zu feiern. Der Führer der islamistischen Gruppe in Gaza, Yahya al-Sinwar, wiederholte die altbekannten Slogans der Organisation, betonte aber deren Dringlichkeit angesichts der zwei Wochen später erfolgenden Vereidigung einer rechtsgerichteten israelischen Regierung.

Die Palästinenser befänden sich in »offener Konfrontation« mit Israel, die Al-Aqsa-Moschee auf dem Jerusalemer Tempelberg sei durch die »talmudische, faschistische, zionistische, rechtsgerichtete Regierung« in Gefahr, und die Hamas werde auf jede Bedrohung mit Gewalt reagieren, warnte er. »Wir werden mit einer endlosen Anzahl von Raketen zu euch kommen; wir werden mit einer endlosen Anzahl von Soldaten zu euch kommen«, sagte al-Sinwar und fügte hinzu, Israels künftige Regierung strebe einen »Religionskrieg« an.

Zwischen 2014, als sich die Hamas und Israel einen zweimonatigen Konflikt namens »Operation Defensive Edge« lieferten, und Mai 2021, als die Kämpfe während der »Operation Guardian of the Walls« erneut entbrannten, soll die Hamas an die 15.000 Raketen angehäuft haben. 

Von den 4.300 Raketen, die während des elftägigen Konflikts im Jahr 2021 auf Israel abgefeuert wurden, stammten die meisten von der Hamas, und seither konnte die Hamas ihr Waffenarsenal mit iranischem Knowhow weiter aufstocken. Viele ihrer Raketenproduktionsstätten werden aus dem Ausland finanziert, unter anderem aus dem Iran, der die Hamas und den Palästinensischen Islamischen Dschihad, die zweitgrößte Terrorgruppe im Gazastreifen, mit einem Jahresbudget von insgesamt 150 Mio. Dollar versorgt.

Israelische Strategie der Stärke

Seit dem gewaltsamen Putsch der Hamas im Gazastreifen im Jahr 2007, im Zuge dessen sie ihren erbitterten Rivalen, die von der Fatah geführte Palästinensische Autonomiebehörde, von der Macht verdrängte, setzt Israel auf Stärke, um gegen die islamistische Gruppe vorzugehen.

Generalleutnant Aviv Kochavi, scheidender Generalstabschef der israelischen Verteidigungskräfte (IDF), stellte in einer Rede in diesem Monat fest, »dies waren zwei der ruhigsten und stabilsten Jahre, die der Süden Israels und der Gazastreifen je erlebt haben. Das ist das Ergebnis einer Strategie [Israels], deren zentrales Element die Anwendung von Macht und Stärke ist.« Die israelischen Militäroperationen hätten zu einer Realität geführt, in der »die Hamas nicht nur nicht auf Israels Angriffe reagiert, sondern nicht einmal daran denkt, zu reagieren. Das liegt vor allem an der Aktivierung der Stärke.«

Kobi Michael, leitender Forscher am Institut für nationale Sicherheitsstudien in Tel Aviv und Chefredakteur der INSS-Zeitschrift Strategic Assessment: A Multidisciplinary Journal on National Security, erklärte, die Hamas sei zwar disziplinierter und hierarchischer als die Fatah, stelle aber keine monolithische Einheit dar. 

Michael, der auch Professor am International Centre for Policing and Security an der University of South Wales in Großbritannien und ehemaliger stellvertretender Generaldirektor und Leiter des Palästinenser-Referats im israelischen Ministerium für strategische Angelegenheiten ist, sagte, Yahya Sinwar kontrolliere den wichtigsten strategischen Aktivposten der Hamas, den Gazastreifen, wo es ihm gelungen sei, das zivile Regime und den militärischen Flügel der Bewegung zu konsolidieren. »Es ist nicht so, dass Sinwar kein Interesse am Westjordanland hat. Er hat sicherlich ein Auge darauf, auf Ost-Jerusalem, auf die arabischen Israelis, aber sein Hauptaugenmerk liegt auf dem Gazastreifen«, analysiert Michael die Vorgehensweise der Hamas-Führung in Gaza selbst.

Ismail Haniyeh, Leiter des Politbüros der Hamas in Übersee, sehe die Rolle der Gruppe als Teil der weltweiten Bewegung der Muslimbruderschaft dagegen breiter angelegt. Haniyehs Stellvertreter, Saleh al-Arouri, arbeitet von Istanbul, Damaskus und Beirut aus und »konzentriert sich in erster Linie auf das Westjordanland. Er arbeitet mit Unterstützung des Iran und der Hisbollah daran, die Hamas dort militärisch und politisch aufzubauen und ihren Einfluss auf die arabischen Israelis zu stärken«, so Michael.

Auf dritte Intifada hinarbeiten

»Al-Arouri arbeitet eng mit der Hisbollah und dem Iran zusammen und koordiniert sich mit dem Palästinensischen Islamischen Dschihad (PIJ). Seine Logik ist, dass eine Zunahme der Konflikte zwischen Palästinensern und IDF zu weitaus mehr palästinensischen Opfern führen und so die palästinensische Straße für eine Art dritte Intifada anheizen würde, die wiederum die Palästinensische Autonomiebehörde untergrübe«, schätzt Michael die Lage ein.

Boaz Ganor, Gründer und geschäftsführender Direktor des International Institute for Counter-Terrorism in Herzliya, teilt diese Einschätzung: Oberflächlich betrachtet freue sich die Hamas über ihre Kontrolle des Gazastreifens, »nachdem sie jeden möglichen Widerstand der Fatah-Bewegung oder anderer radikaler Elemente wie des Palästinensischen Islamischen Dschihad, salafistischer Elemente und anderer unterdrückt hat«.

Die fixen Zahlungen, die Katar an die Zivilbevölkerung des Gazastreifens leistet, nachdem die Hamas und Israel dieser Vereinbarung zugestimmt haben, stärken die Stabilität und das Regime der Terrororganisation im Gazastreifen, fügte Ganor hinzu: »Generell war und ist die Gruppe aber bestrebt, die gesamte palästinensische Arena zu übernehmen, einschließlich der Westbank, die Palästinensische Autonomiebehörde und die PLO.«

Unter diesem Gesichtspunkt habe es die Hamas in der Vergangenheit nicht leicht gehabt, aber sie glaube, »als etablierte, starke und organisierte Einheit das Westjordanland übernehmen zu können, so wie sie es im Gazastreifen getan hat, auch wenn dies mit viel Blutvergießen verbunden sein wird, sobald PLO-Chef Mahmud Abbas – auf natürlichem Wege oder auf andere Weise – abgetreten ist«. Nachdem Abbas bislang keinen formellen Nachfolger ernannt hat, werde sein Abgang wahrscheinlich heftige Rivalitäten zwischen denjenigen auslösen, die sich als potenzielle Nachfolger in der Fatah-Bewegung sehen«, analysiert Ganor.

Auch nach Ansicht von Michael konkurrieren Hamas und Fatah dermaßen um die Macht, das eine echte Versöhnung zwischen ihnen so gut wie ausgeschlossen ist. »Die Hamas in Gaza und al-Arouri wollen die Fatah ersetzen«, sagte er, sie wollten also statt und nicht mit ihr regieren.

Ganor zufolge handelt es sich bei der Hamas um eine hybride Terrororganisation, da sie das Gebiet und die Bevölkerung im Gazastreifen kontrolliert und damit auch Regierungsfunktionen ausübt. Als solch hybrides Regime »bettet sie ihre militärische Infrastruktur in die zivile Infrastruktur ein und nutzt die Zivilbevölkerung als Schutzschild, während sie gleichzeitig politische und staatliche Systeme für die tägliche Verwaltung des Lebens in dem von ihr kontrollierten Gebiet einrichtet«.

Oftmals bestehe ein Widerspruch zwischen dem terroristischen Kern der Organisation, der weiterhin gewaltsame Aktivitäten gegen israelische zivile Ziele durchführt, sei es durch Raketenbeschuss des israelischen Kernlandes oder durch die Initiierung und Ausführung von Anschlägen in der Westbank und der Notwendigkeit, die Bevölkerung im Gazastreifen mit lebenswichtigen Dienstleistungen wie Nahrung, Wasser, Strom und Treibstoff zu versorgen, so Ganor. 

5-Fronten-Angriffsplan

Die Strategie der Hamas, deren wichtigster Bestandteil der Gazastreifen ist, hat laut Michael eine Art internationale Ausrichtung, aber nur dem Anschein nach, denn all das sei einem Ziel untergeordnet: »Die Hamas baut in der Tat fünf Fronten auf, die allerdings allesamt darauf ausgelegt sind, einen einzigen terroristischen Schlag gegen Israel führen zu können: aus dem Gazastreifen, aus Ost-Jerusalem, dem Südlibanon, dem Westjordanland und durch arabische Israelis.« 

Die »Operation Guardian of the Walls« im Mai 2021 sei der Startschuss für den Versuch der Hamas gewesen, all diese Komponenten miteinander zu verbinden. Der Angriff begann in Ost-Jerusalem, setzte sich mit einem Ultimatum aus dem Gazastreifen fort, entwickelte sich zu Raketenattacken aus dem Gazastreifen und endete mit Auseinandersetzungen auf Israels Straßen sowie Raketen aus dem Südlibanon. 

Neben dieser konzentrierten Anstrengung, Fähigkeiten an fünf Fronten aufzubauen, verfolgt die Hamas eine »Logik der Trennung«, was bedeutet, den Gazastreifen ruhig zu halten und gleichzeitig in allen Bereichen Fähigkeiten aufzubauen und die Bereiche außerhalb Gazas zu ins Spiel zu bringen. Der Grund für diese Strategie sei, »dass Gaza derzeit eine positive Entwicklung des Wiederaufbaus, des Wirtschaftswachstums, zunehmenden Arbeitsgenehmigungen durch Israel sowie steigender Importe und Exporte befindet. Ägypten führt umfangreiche Bauprogramme durch, die mit 500 Mio. Dollar aus den Emiraten finanziert werden«, erläutert Michael. 

Die Hamas nutze diese wirtschaftliche Deckung, um sich eine Ruhephase zu verschaffen, in der sie ihre Kräfte verstärkt und sich auf den Tag des Konflikts vorbereitet, warnte er. »Die Idee dahinter ist, die Kontrolle über die Herzen und Köpfe der palästinensischen Öffentlichkeit zu gewinnen und an dem Tag, an dem der Befehl kommt, alle Fronten zu aktivieren«, befürchtet der Wissenschaftler.

Boaz Ganor wiederum wies darauf hin, dass die Hamas-Führung traditionell zwischen dem politischen und dem militärischen Flügel sowie zwischen der Führung in Gaza und jener im Ausland gespalten sei. »Die militärische Führung überlässt es der politischen Führung im Gazastreifen, die Angelegenheiten des dortigen Regimes zu regeln und mischt sich in die verschiedenen zivilen Angelegenheiten nicht ein. Sie behält sich aber das Recht vor, militärische Angelegenheiten zu regeln, also die Bewaffnung, die Rekrutierung von Mitarbeitern für den militärischen Flügel und natürlich die militärischen und terroristischen Aktivitäten gegen Israel«, sagte er.

Dieser Flügel agiere gelegentlich auch, um andere Gruppierungen wie den PIJ in Gaza zu zügeln. Innerhalb der Hamas habe die Auslandsführung im Ausland zwar im Laufe der Jahre an Bedeutung verloren, »aber sie ist nach wie vor das Gremium, das die Interessen der Organisation gegenüber den arabischen Staaten und jenen, die die Hamas unterstützen, vertritt, allen voran Katar, die Türkei und der Iran. Die Führung im Ausland unterhält auch Beziehungen zur Hisbollah im Libanon«, so Ganor.

Letztlich, so Michael, glaube die Hamas, Israel zerstören und durch einen palästinensischen islamischen Staat ersetzen zu können. Dabei verstehe sie es, »einen operativen und sogar strategischen Pragmatismus an den Tag zu legen, aber das ist nicht mit Mäßigung zu verwechseln. Ihr Endziel ist in der Hamas-Charta klar formuliert«, sagte er. Anders als das westliche Zeitverständnis, das auf einer rationalen Kosten-Nutzen-Analyse der Zukunft beruht, betrachte die Hamas Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als eine Einheit und wolle zu einer vergangenen Periode islamischen Ruhms zurückkehren, fuhr Michael fort. »In ihrer Vision befreit die Hamas ›Palästina‹ vom [Mittel-]Meer bis zum [Jordan-]Fluss, und das Land wird Teil eines größeren Puzzles, der islamischen Nation, von Marrakesch bis Bangladesch werden.«

Israelische Abschreckung und wirtschaftlicher Aspekt

In der näheren Zukunft, meint Boaz Ganor, wird die israelische Politik gegenüber der Hamas den Einschätzungen folgen, die die Regierungen im Laufe der vergangen Jahre getroffen haben. Ihr vorrangiges Ziel bestehe darin, die Ruhe an der Südgrenze so weit wie möglich zu bewahren, die Grenze zum Gazastreifen mit fortschrittlicher Technologie, einer intelligenten Sperranlage und Militäreinheiten zu verstärken, die die Zivilbevölkerung schützen und den Bauern ermöglichen, ihr Land in der Region zu bewirtschaften, ohne Menschenleben zu gefährden.

Dieses Ziel werde durch defensive militärische Mittel erreicht, »aber in den vergangenen Jahren auch durch eine Politik der Nulltoleranz gegenüber feindlichen militärischen oder terroristischen Aktivitäten aus dem Gazastreifen: also Raketen- und Mörserbeschuss, Sprengstoffballons, Infiltrationsversuche auf israelisches Gebiet durch Angriffstunnel oder über das Meer und vieles mehr«, sagte Ganor.

Israel bezeichnet die Hamas als verantwortlich für alles, was im Gazastreifen geschieht, weshalb jeder Angriffsversuch, auch wenn er von einer »rebellischen« Organisation durchgeführt wird, eine Reaktion gegen die Hamas auslöst, damit sie andere Organisationen in die Schranken weist, so der Experte. Zu den Ausnahmen dieser Politik gehören die israelischen Operationen »Black Belt« im November 2019 und »Breaking Dawn« im August 2022, bei der Israel gegen den Palästinensischen Islamischen Dschihad vorging, wobei die Hamas jeweils im Hintergrund blieb, nicht eingriff und es dem schwächeren PIJ überließ, die Schläge der IDF einzustecken.

Um die Ruhe vor Ort zu bewahren, habe Israel einerseits dem Transfer von Geldern und Gehältern aus Katar an die Bewohner des Gazastreifens zugestimmt. Unter der Regierungskoalition von Naftali Bennett und Yair Lapid erhöhte Israel zugleich »die Zahl der Arbeitsgenehmigungen für Gazaner in Israel. Es hat den Anschein, als ob die Kombination aus einer Verbesserung der wirtschaftlichen Lage im Gazastreifen und einer Politik der Nulltoleranz gegenüber jeglichen feindlichen Handlungen aus dem Gazastreifen ihr Ziel erreicht und zu einer relativen Ruhe seit der Operation Guardian of the Walls im Mai 2021 geführt hat«, meint Ganor.

Gleichzeitig warnte er jedoch, die derzeitige Ruhe könnte trügerisch sein. So habe die Hamas ihre Aufrüstungsbemühungen nicht eingestellt und baue ihr Raketenarsenal aus, während sie zudem daran arbeite, die Reichweite der Raketen zu vergrößern. Obendrein habe die Hamas »ihre Versuche intensiviert, die Palästinenser in der Westbank zu Anschlägen innerhalb Israels und zur Rebellion gegen die Palästinensische Autonomiebehörde zu ermutigen. Kommt es nicht schon vorher zu einer militärischen Eskalation, wird der Siedepunkt wohl mit dem Beginn des Kampfes um die Nachfolge von Mahmoud Abbas erreicht werden.«

Der Artikel erschien auf Englisch beim Jewish News Syndicate(Übersetzung von Alexander Gruber.)

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