Zu den vielen Kritikpunkten, mit denen sich der israelische Premierminister auseinanderzusetzen hat, ist ein weiterer hinzugekommen: Angeblich wurde Benjamin Netanjahu schon vor Jahren über das millionenschwere Finanznetzwerk der Hamas informiert.
An Vorwürfen und Kritik fehlt es dem umstrittenen israelischen Premierminister wahrlich nicht. Benjamin Netanjahu sei, so wird ihm vorgehalten, in erster Linie an seinem persönlichen und politischen Überleben interessiert, spalte das Volk und habe Warnzeichen über einen bevorstehenden Angriff der Hamas in den Wind geschlagen. Vergangenen Samstag hat die New York Times eine weitere, ernste Anschuldigung gegen ihn erhoben: Laut einer Ermittlung des Blattes ignorierte der Premier einen frühzeitigen Mahnruf des Mossad über ein international verzweigtes finanzielles Netzwerk der Hamas weitgehend.
Hamas-Finanznetzwerk aufgedeckt
Die New York Times berichtete von Harpoon, einer speziellen Task Force des israelischen Geheimdienstes Mossad. Sie soll bereits im Jahr 2015 ein geheimes Investitionsportfolio der Hamas aufgedeckt haben. Udi Levy, ehemaliger Leiter der Abteilung für Wirtschaftskriegsführung des Mossad und Teammitglied von Harpoon, hätte Benjamin Netanjahu persönlich über das fünfhundert Millionen Dollar schwere Hamas-Finanznetzwerk informiert, sei aber auf taube Ohren gestoßen.
Im Jahr 2018 gelang es dem Mossad, konkrete Einzelheiten über das genannte Netzwerk zu erlangen. Auf dem Rechner eines hohen Hamas-Funktionärs fanden die Agenten Dokumente, die auf weltweite Liegenschaften verwiesen, darunter sudanesische Unternehmen, die sich mit Bergbau, Hühnerzucht und Straßenbau beschäftigen, zwei Wolkenkratzer in den Vereinigten Arabischen Emiraten und allen voran Immobilienfirmen in der Türkei.
Dreh- und Angelpunkt Türkei
Überhaupt scheint die Türkei der Dreh-und Angelpunkt des finanziellen Netzwerks gewesen zu sein. So stand etwa das türkische Immobilienunternehmen Trend GYO im Mittelpunkt der Operation und wirkte so legal, dass selbst große amerikanische und europäische Banken mit seinen Aktien handelten. Allerdings waren Eigentümer der Firma eng mit der Hamas verbunden, machten ihre Anteile systematisch zu Geld und zogen dergestalt Kapital aus dem Portfolio ab.
Obwohl also der Mossad den israelischen Premierminister und im Übrigen auch die amerikanische Regierung über diese Unternehmungen informierte, verhängten die Entscheidungsträger keinerlei Sanktionen gegen das dubiose Netzwerk. Mehr noch: Im selben Jahr, 2018, entschied sich Netanjahu dazu, weitere Millionen Dollar über Katar in den Gazastreifen fließen zu lassen. Das Geld würde, so seine offizielle Begründung, die Hamas besänftigen und von Terrorattacken abhalten. In privatem Rahmen soll er zudem gemeint haben, die Hamas als Gegengewicht zur Palästinensischen Autonomiebehörde im Westjordanland stärken zu wollen.
Erst Mitte 2022 wurden Trend GYO und andere Unternehmen des Finanznetzwerks von den USA auf die schwarze Liste gesetzt, eine Tatsache, die den türkischen Präsidenten offenbar nicht sonderlich beeindruckte; das Firmenkonstrukt ist noch immer an der türkischen Börse gelistet. Da half es auch nicht, dass Elizabeth Rosenberg, eine Verantwortliche des amerikanischen Finanzministeriums, beteuerte: »Die Hamas hat durch ihr geheimes Investitionsportfolio enorme Einnahmen generiert, während sie die Bevölkerung in Gaza harten Lebens- und Wirtschaftsbedingungen aussetzt.« Die Gelder flossen weiter an die Terrororganisation, und sowohl Israel als auch die USA drückten diesbezüglich die Augen zu.
Gut, im Nachhinein ist es leicht klüger zu sein und das Konzept, wonach man über finanziellen Wohlstand Frieden erkaufen kann, ist nicht unplausibel. Trotzdem muss Benjamin Netanjahu klar gewesen sein, dass die von der Hamas angesammelten Beträge der Vorbereitung eines massiven Anschlags dienen könnten. Als man ihn allerdings bei einer Pressekonferenz letzten Samstagabend zu den Ermittlungen der New York Times befragte, hielt er sich, wie stets, bedeckt. Er kenne diese Ermittlungen nicht und würde zudem bitten, mit solchen Fragen bis nach Kriegsende zu warten.
Tamir Pardo, Chef des Mossad von 2011 bis 2016, sieht das anders. »Ich meine, wenn jemand den Geldfluss gestoppt hätte, würden wir heute ganz anders dastehen.« Auch Udi Levy sieht es ähnlich: »Alle reden über das Geheimdienstfiasko am 7. Oktober, doch niemand spricht darüber, dass verabsäumt wurde, den Geldfluss zu unterbinden.« Es sei, so Levy, »das Geld, das Geld«, welches das Massaker ermöglicht habe.
Geldhahn der Hamas abdrehen
Tatsächlich sind es die internationalen Finanzzuwendungen, die es der Hamas erlauben, Terrortunnel zu bauen, Raketen zu kaufen und Kinder zum Dschihad zu erziehen. Diese Erkenntnis ist nicht neu, aber wichtiger denn je, geht es darum, der Hamas das Handwerk zu legen. »Ich meine, wir könnten Kriege verhindern, wenn wir die finanzielle Infrastruktur der Terrorgruppen zerstören. Aber wir müssen dabei ernsthaft vorgehen«, sagt Levy, also der Hamas den Geldhahn und damit deren Sauerstoffzufuhr abdrehen.
Die Schwierigkeiten bei der diesbezüglichen Umsetzung erklärt Rechtsanwalt Gary Osen, der in der Vergangenheit schon erfolgreich Terrorfinanziers wegen Unterstützung der Hamas verklagte. Man habe nicht genügend getan, um Geldflüsse an die Hamas zu blockieren, »bei Weitem nicht«, erklärte Osen kürzlich gegenüber dem Wirtschaftssender CNBC. Eine Organisation, gegen die der Jurist wiederholte Male, jedoch erfolglos, vorging, ist die türkische IHH Humanitarian Relief Foundation, die Verbindungen zur Hamas hat. IHH wird im Übrigen auch von Israel als direkter Sponsor der Hamas angeführt.
Weshalb diese Organisation von den USA nicht als Unterstützer von Terrorismus eingestuft wurde, begründet Osen folgendermaßen: »Es gibt wahrscheinlich diplomatische Gründe, einschließlich der engen Verbindungen der Organisation zur türkischen Regierung, einem NATO-Verbündeten Amerikas. Regierungen haben viele Gründe, nichts zu tun.«
Sicherlich gab es Motive und Überlegungen für die Regierungen Israels und den USA, den Geldfluss an die Hamas nicht unterbunden zu haben. Den Preis für dieses Nichtstun zahlt jetzt die Bevölkerung in Israel und in Gaza.