Der durchaus positive Eindruck, den die Geiseln bei ihrer Befreiung machten, trügt, denn die Auswirkungen der psychischen und physischen Haftbedingungen treten erst später auf.
Als israelische Spezialeinheiten am vergangenen Samstag in einer riskanten Operation bei Tageslicht in ein Gebäude im Zentrum des Gazastreifens eindrangen, gelangten sie in den Raum, in dem Almog Meir Jan, Andrei Kozlov und Shlomi Ziv die meiste Zeit verbracht hatten, seitdem sie bei den von der Hamas angeführten Angriffen am 7. Oktober 2023 von einem Musikfestival entführt worden waren.
Sowohl die Sicherheitskräfte als auch die Geiseln identifizierten den in dieser Wohnung lebenden Journalisten Abdullah al-Jamal als einen ihrer Entführer, der – wie auch sein Vater – Im Zuge der Befreiungsaktion getötet wurde. Ahmad al-Jamal war Arzt und Imam in einer von der Hamas betriebenen örtlichen Moschee. Die Verbindung zwischen der Terrororganisation und dem Journalisten war in der Nachbarschaft allgemein bekannt.
Sechs Monate lang lebten die drei Entführten in einem abgedunkelten Raum und schliefen auf Matratzen auf dem Boden. Ihr einziger Kontakt zur Außenwelt waren die Wachen, die sie mit Essen versorgten und immer wieder misshandelten. Der unter ihnen wohnenden Familie, zu der auch Kinder gehörten, begegneten sie nie; durften aber in deren seltener Abwesenheit die Küche im Erdgeschoss benutzen.
Die langsam in die Öffentlichkeit dringenden Berichte über ihre Zeit als Gefangene basieren auf Interviews mit Angehörigen der Geiseln sowie mit israelischen Sicherheitsbeamten und Medizinern.
Physische und psychische Tortur
Um sich die Zeit zu vertreiben, spielten die Gefangenen Karten, lernten Arabisch, brachten sich gegenseitig Hebräisch oder Russisch bei und hielten die Zeit in Tagebüchern fest. Dabei wurden die drei Männer enge Freunde und entwickelten einen Zusammenhalt, der ihnen half, die Tortur zu überstehen.
Hielten sie sich nicht an die strengen Regeln, wurden sie zum Beispiel im Badezimmer eingesperrt oder an besonders heißen Tagen mit dicken Decken zugedeckt. In einem Akt psychischer Folter drohten ihnen die Bewacher immer wieder mit dem Tod und suggerierten den Verängstigten, dass sich niemand um sie kümmern oder befreien werde.
Als sie eines Tages das arabische Programm von Al Jazeera sehen durften, lief gerade ein aktueller Beitrag über eine Kundgebung der Familien der Geiseln in Tel Aviv. Einer der Gefangenen entdeckte auf einem Plakat sein eigenes Gesicht. Die Kundgebung fand ausgerechnet am Tag seines Geburtstags statt. Das zu sehen »gab ihm das Gefühl, dass er nicht vergessen worden war«, erzählte Aviram Meir, der Onkel einer der Geiseln.
Als die Befreiten wieder in Israel waren, habe man deren Angehörige, wie sie berichteten, geraten, nicht nach Details der Gefangenschaft zu fragen und sich damit abzufinden, erst mit der Zeit mehr über die Torturen ihrer Angehörigen zu erfahren. Die israelischen Sicherheitsbehörden baten die Geiseln und ihre Angehörigen auch, Einzelheiten über ihre Gefangenschaft geheim zu halten. So wurde der vollständige Bericht über die Misshandlungen bereits früher freigelassener Geiseln erst nach mehr als einen Monat veröffentlicht. Darin beschrieben sie, in unterirdischen Tunneln festgehalten und psychisch, physisch und sexuell misshandelt worden zu sein.
— Mena-Watch (@MENA_WATCH) June 13, 2024
Der Schein trügt
In den Videos, die von den am Samstag geretteten Geiseln bei ihrer Rückkehr nach Israel und ihrer Aufnahme im Sheba Medical Center veröffentlicht wurden, lächelten die Befreiten in die Kamera und keiner von ihnen sah ausgemergelt aus. Itai Pessach, der in seiner ärztlichen Tätigkeit sich um die geretteten Geiseln kümmert, weiß jedoch, dass sie trotz des positiven ersten Anscheins »physische und psychische Folter« durchlebt hätten. Ihr anfängliches »gesundes« Auftreten habe viel mit dem bei der Befreiung ausgeschütteten Adrenalin und dem Jubel über ihre Freilassung zu tun.
Pessach fügte hinzu, es sei wahrscheinlich, dass das Gewicht der Gefangenen während ihrer Gefangenschaft aufgrund von Angst, Stress und Misshandlung schwankte. So zeigten sie Anzeichen von Muskelschwund und Unterernährung und hätten die Fähigkeit verloren, bestimmte Tätigkeiten auszuführen. »Wir haben Geschichten gehört, die alles übertreffen, was man sich vorstellen kann«, sagte der Arzt.
Als die drei Geiseln in Israel ankamen, sahen sie frisch und gepflegt aus, mit geschorenen Köpfen und sauberen Bärten. Aviram Meir, der Onkel von Meir Jan, sagte, die drei seien in der Lage gewesen, sich in der Gefangenschaft selbst zu pflegen. Er beschrieb die Haut seines Neffen als blass. »Sie haben seit acht Monaten keine Sonne mehr gesehen«, sagte er.
Die erfolgreiche Rettungsaktion wird die Hamas zwingen, die Art und Weise, wie sie Geiseln versteckt, zu ändern, aber sie wird nicht unbedingt die Härte der Bedingungen, unter denen die verschleppten Israelis festgehalten werden, erhöhen, glaubt der palästinensische politische Analyst Younis Al-Zuraie. »Sie werden wahrscheinlich sicherstellen, dass sich zukünftig nicht mehr als eine Geisel an einem Ort aufhält und die Gefangenen häufig verlegen, um nicht entdeckt zu werden. Ihr Sicherheitsapparat wird diese Vorkehrungen treffen.«
Noch unklar ist, wo die drei vor ihrem letzten Versteck untergebracht waren. Argamani wurde zusammen mit anderen Geiseln – unter anderem mit Moran Stella Yanai – in mehreren Häusern festgehalten, bevor sie an ihrem endgültigen Aufenthaltsort ankam. Andere freigelassene Geiseln sagten, sie seien in Tunneln festgehalten worden.
Die Tatsache, dass die drei Geiseln über einen so langen Zeitraum gemeinsam an einem Ort gehalten werden konnte, ohne dass es zu einer Rettungsaktion kam, zeige das hohe Maß an Geheimdienstarbeit, das notwendig sei, um eine solche Befreiungsoperation durchführen zu können, sagte der ehemaliger Kommandeur für Geiselangelegenheiten beim israelischen Militär, Avi Kalo.
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— Sammi Acampora | שימונה ריפקה (@sammigallivants) June 13, 2024