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Großbritannien: Antisemitismus und Protest dagegen (Teil 1)

Landesweite Demonstration gegen Antisemitismus in London
Landesweite Demonstration gegen Antisemitismus in London (© Imago Images / Avalon.red)

In der britischen Hauptstadt London beteiligten sich vergangenen Sonntag rund 70.000 Teilnehmer an einer Demonstration gegen Antisemitismus.

Zu den Rednern der Veranstaltung gehörten hochrangige Persönlichkeiten wie der Chief Rabbi Ephraim Mirvis, Chris Philp vom Shadow Home Secretary der Konservativen sowie Richard Tice als stellvertretender Vorsitzender der Reform UK. Diplomaten der israelischen Botschaft beteiligten sich ebenfalls und betonten die Bedeutung des gemeinsamen Einsatzes gegen Antisemitismus.

Vertreter der regierenden Labour-Partei hingegen blieben der Demonstration trotz Einladung fern: »Die skandalöse Entscheidung der Regierung, in einer Zeit des schlimmsten Antisemitismus in Großbritannien seit Menschengedenken niemanden zu entsenden, der vor der jüdischen Gemeinde spricht, wird die britischen Juden nicht beruhigen, dass diese Regierung hinter ihnen steht oder das Ausmaß der Krise überhaupt versteht«, erklärte die Kampagne gegen Antisemitismus (CAA), die den Marsch gemeinsam mit jüdischen Gemeindeorganisationen organisiert hatte.

Unter dem Appell »Enough is enough« rief Chief Rabbi Mirvis die britische Öffentlichkeit auf, angesichts der alarmierenden Zunahme antisemitischer Vorfälle und Ressentiments im Land endlich aufzuwachen. Bilder zeigten eine Menschenmenge mit den Flaggen Großbritanniens und Israels. Auch viele Exil-Iraner mit Flaggen des Irans vor 1979 beteiligten sich an dem Marsch, der vom BBC-Gebäude zum Parliament Square führte.

Der Aufruf zur Demonstration enthielt Beispiele für das Klima des Antisemitismus in Großbritannien aus den letzten Wochen und Monaten:

  • An das Haus von Rabbi Benzion Alperowitz und in seiner Nachbarschaft wurden Hakenkreuze gepinselt.
  •  In Bournemouth wurde ein jüdischer Junge von einem Autofahrer mit einem Luftgewehr in den Kopf geschossen. Zuvor soll der Fahrer den Jungen und seinen Begleiter beschimpft haben.
  • Bei einer Protestkundgebung vor der israelischen Botschaft in London erklärte ein Redner: »Dies wird die Botschaft Palästinas. Es wird keinen Frieden geben, bis Israel zerstört ist. Wir wollen Palästina in den Grenzen von 1948.«
  • In Aufnahmen eines kürzlichen Bob-Vylan-Konzerts war zu hören, wie eines der Banditglieder zum »bewaffneten Widerstand« gegen die israelischen Streitkräfte und die Londoner Polizei aufrief.
  • Während der Eröffnungszeremonie des Rollstuhlbasketball-Nationenpokals in Köln im August drehten die Mitglieder der britischen Mannschaft den israelischen Spielern während der israelischen Nationalhymne den Rücken zu.

»Extremisten und Fanatiker setzen sich durch, radikalisieren Kinder, wüten auf unseren Straßen und Universitäten und verbreiten sogar über unseren nationalen Rundfunk Gift und Galle – und das alles ohne Angst vor Konsequenzen«, hieß es in dem Aufruf zum Protestmarsch. »Zu viele unserer zivilgesellschaftlichen Institutionen haben, wenn überhaupt, mit Beschwichtigung reagiert. Viele unserer Polizeikräfte haben sich entschieden, den marschierenden Mobs nachzugeben und diejenigen zu verhaften, die sich ihnen entgegenstellen. Jetzt muss das Land aufwachen.«

Antisemitismus an Universitäten

Hinter der »Fassade tugendhafter Antirassismus-Rhetorik« seien Universitäten zu »Epizentren des Judenhasses« geworden: Jüdische Studenten würden misshandelt, jüdische Gesellschaften angegriffen und jüdische Institutionen verwüstet.

Ein Report der Pro-Israel-Organisation StandWithUs UK, der im Mai dem Oberhaus vorgelegt wurde, enthält Aussagen von betroffenen Studenten, die den Antisemitismus an Universitäten belegen. Der Bericht, der Zeugnisse von mehr als einem Dutzend Universitäten enthält, kommt zu dem Schluss, dass sich jüdische Studenten auf dem Campus weniger sicher fühlen, seitdem die Hamas am 7. Oktober 2023 ihren Krieg gegen Israel begonnen hat.

»Dieser Bericht bestätigt den schrecklichen Zustand, in dem wir uns befinden. Antisemitische Beschimpfungen scheinen auf dem Campus mittlerweile normal zu sein«, beklagte Lord Howard Leigh während der Debatte im Anschluss an die Präsentation. »Antisemitismus auf dem Campus ist nichts Neues …, aber er hat mittlerweile ein sehr besorgniserregendes Ausmaß erreicht, sodass jüdische Studenten tatsächlich Angst haben, eine britische Universität zu besuchen.«

Hier einige dieser Fälle:

  • King’s College London: In einem Seminar wurde die Hamas als »Pionier der Veränderung« dargestellt und die Ermordung von Zivilisten gerechtfertigt worden. Als ein Student sich darüber beschwerte, wurde ihm gesagt, der »akademische Diskurs« sei geschützt.
  • City St. Georges, University of London: Mehrere Dozenten sollen sich sympathisierend über die Hamas geäußert haben, Beschwerden seien fruchtlos geblieben.
  • University of East Anglia: Antisemitische Plakate seien an der Tagesordnung. Am Jahrestag des 7. Oktober seien die Massaker von einem Account des Studentenverbands im Internet gerechtfertigt worden.
  • University of Sussex: Am Jahrestag des 7. Oktober versammelten sich Studenten zu einer Mahnwache, bei der sie angefeindet wurden und ihnen gesagt wurde: »Ja, wir unterstützen die Hamas, das sind Freiheitskämpfer.« Auch hier folgten auf eine Anzeige keine Taten, obwohl die Hamas eine verbotene Terrororganisation ist, wie ein Zeuge resigniert feststellte.
  • University of Exeter: Ein Student berichtete, letztes Jahr mit Gleichgesinnten einen kleinen Pro-Israel-Stand an der Universität als Ort des Gesprächs aufgebaut zu haben, wo sie von einem wütenden Mob umringt worden seien: »Sie riefen Beleidigungen, beschädigten unsere Materialien und gossen rote Flüssigkeit auf unsere Israel-Fahne. Die Symbolik war erschreckend.« Die Universitätsleitung habe, statt zu helfen, die Pro-Israel-Studenten gerügt, weil diese sich an die Presse gewandt hatten. Die Botschaft sei klar, so der Zeuge: »Wenn du jüdisch oder pro-israelisch bist, bist du auf dich allein gestellt. Hass wird toleriert. Unterstützung ist an Bedingungen geknüpft. Und an die Öffentlichkeit zu gehen, wird bestraft.«
  • King’s College London: Im Chat eines Seminars erlebte eine Studentin Anfeindungen wie: »Ist hier eine verdammte Zionistin im Chat?«, »Schlampe, komm runter!«, oder: »Du bist nicht der Messias, für den du dich hältst.« Ausgangspunkt der Beschimpfungen war eine Vorlesung über den Nahen Osten. Jemand kommentierte, dies sei der Versuch, »die Zionisten zu belehren«. Als die Studentin fragte, warum er das so sehe, folgten die aggressiven Kommentare. Es folgten Äußerungen wie »Geh ins Bett«, »Schmeißt sie raus« (mit Tomaten-Emoticon) oder »Kann es nicht erwarten, dich morgen zu sehen«.
    Die Situation eskalierte laut der Studentin bis zu Drohungen, aus dem Hörsaal geworfen zu werden, sollte sie noch einmal eine Veranstaltung unterbrechen. Bis zu dem Punkt habe sie sich nie politisch geäußert, so die junge Frau, die meint, nicht wegen dessen angefeindet worden zu sein, was sie gesagt hatte, sondern wegen ihrer jüdischen Identität: »Meine Religion, Identität und Würde wurden auf die Anklagebank gesetzt.«
    Sie habe sich an die »Wohlbefindensberaterin« der Universität gewandt, die ihr riet, sich zu fragen, weshalb die anderen Studenten wohl so reagiert hätten. In einem späteren Mail habe sie denselben Ton angeschlagen. »Das war die Reaktion der Universität: Empathie mit dem Aggressor«, so die Studentin. Die Polizei teilte ihr mit, nichts unternehmen zu können, da die Äußerungen unterhalb der Strafbarkeitsschwelle lägen. Warum, fragt die Studentin, wird der Hass auf Juden toleriert? Ihre eigene Antwort: »Die Entmenschlichung der Juden ist so tief in den modernen Diskurs eingebettet, dass sich die Menschen dabei wohl fühlen, unseren Ausschluss zu fordern, sich über unseren Schmerz lustig zu machen und unser Recht infrage stellen, Teil des Universitätslebens zu sein.« Jeden Tag erlebe sie feindliche Blicke, die beiden Sitze links und rechts neben ihr blieben immer leer. Sie frage sich, ob sie die Davidsternkette abnehmen oder mit Stolz tragen solle.
  • Ein anderer Student vom King’s College wollte eine Veranstaltung mit einem iranischen Redner organisieren, die dazu gedacht gewesen sei, »Brücken zu bauen«. Doch der Ort sei von pro-palästinensischen Störern gestürmt und er selbst »beinahe körperlich angegriffen« worden. Der Sicherheitsdienst der Universität habe nicht eingegriffen. Am Jahrestag der Massaker vom 7. Oktober habe es eine »Trag-eine-Keffiyeh-Woche« an der Universität gegeben. Im Studentenverband sei Dissens unmöglich. Jeder wisse, dass ohne die muslimischen Stimmen nichts beschlossen werden könne – und diese seien eben antiisraelisch.
  • University of St Andrews: Als ein Student kurz nach dem 7. Oktober 2023 nach einem Wochenende zu Hause ins Studentenwohnheim zurückgekommen war, lagen all seine religiösen Gegenstände auf dem Boden. Als er sich bei seinem Mitbewohner darüber beschwerte, wurde ihm gesagt, eine »unmenschliche Regierung oder die terroristischen Aktivitäten der IDF« würden in diesem Wohnheim nicht geduldet.
  • University of Manchester: Nach dem 7. Oktober 2023 feierten Studenten die Massaker der Hamas in einem Internetforum. Ein Student sagt, er habe diese darum als Terroristen bezeichnet. Daraufhin wurden seine Kontaktdaten und seine Wohnadresse veröffentlicht, woraufhin er eigenen Angaben zufolge Hunderte von hasserfüllten Botschaften erhielt und bei der Universität wegen »Islamophobie« angezeigt wurde. Er selbst sei am Ende der Einzige gewesen, gegen den die Universität ein Disziplinarverfahren eingeleitet habe.
  • Queen Mary University London: Studenten hatten am 7. Oktober 2024 die Genehmigung für eine Mahnwache erhalten und zeigten Fotos der Geiseln. Dabei wurden sie von einem Mob mit Megaphonen umringt, der unter anderem »Globalisiert die Intifada!« brüllte. Der Sicherheitsdienst intervenierte zwar, doch nur, um die Teilnehmer der Mahnwache an einen sicheren Ort zu begleiten. Seither werde er auf dem Campus etwa als angeblich »islamophob« angefeindet, so ein Betroffener. Als er etwa einmal an der Bibliothek vorbeiging, habe jemand zu einem Freund gesagt: »Du musst lauter sprechen, da ist ein Zionist!« Jüdische Studenten verdienten Sicherheit, so der Zeuge, und zwar ohne die »Notwendigkeit, sich klein zu machen«, um sich sicher zu fühlen.
  • University of Birmingham: Studenten hatten am 7. Oktober 2024 eine Gedenkveranstaltung mit einem Nova-Überlebenden geplant. Geplant waren ein Gespräch mit ihm und ein kurzer Schweigemarsch mit Kerzen. Die Universität genehmigte jedoch den Marsch nicht, da er als »Provokation« aufgefasst werden könne. »Wir skandierten nicht, wir protestierten nicht, wir trauerten. Und doch wurde unsere Trauer als Bedrohung aufgefasst«, so die Studenten. Unmittelbar darauf veröffentlichten Israel-Hasser die Identität des Nova-Überlebenden. Sein Bild wurde ins Internet gestellt, umrahmt von blutroten Händen. »Die Botschaft war klar und zutiefst beunruhigend.« Der Überlebende aber, so der Zeuge, sei nicht verängstigt gewesen, sondern stolz. Er sei stolz darauf, dass seine Geschichte so wichtig genommen wird, dass es Leute gibt, die deren Veröffentlichung verhindern wollten. Die Veranstaltung fand schließlich in Anwesenheit von rund zweihundert Personen in einer Synagoge statt.

Kein Raum für jüdische Studenten

In der Synagoge waren die jüdischen Studenten sicher, aber auf dem Campus können sie sich nicht mehr frei versammeln. Antisemiten besetzen diesen Raum, der doch eigentlich ein öffentlicher sein sollte. Die Aussagen des Berichts ähneln einander. Immer wieder ist die Meinung von Dozenten oder Studenten zu hören, die Hamas habe »Gründe« und sei »nicht antisemitisch«. Jüdischen Studenten wurde gesagt, sie seien »gehirngewaschen«, würden »Genozid unterstützen« und »Desinformation verbreiten«.

Im Mai 2024 wurde von StandWithUs Ergebnisse einer im April 2024 durchgeführten Umfrage unter mehr als tausend nichtjüdischen Studenten an zwanzig britischen Universitäten präsentiert. Demnach wollten 64 Prozent die Hamas-Massaker vom 7. Oktober 2023 nicht als »Terrorismus« bezeichnen; 29 Prozent hielten sie für einen »verständlichen Akt des Widerstands«, und 38 Prozent stimmten der These zu, Studenten, die Israel öffentlich unterstützen, müssten mit Übergriffen auf dem Campus »rechnen«. Nur bei 31 Prozent der Befragten stieß diese Einstellung auf klare Ablehnung.

Teil 2 des Berichts lesen Sie morgen hier.

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