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Tankstopp: Die Golfstaaten müssen ihre Wirtschaften diversifizieren (Teil 1)

Arbeiter in einer Rafinerie von Saudi Aramco. Die Golfstaaten müssen ihre Wirtschaft breiter aufstellen, als nur auf Erdöl und-gas zu setzen. (© imago images/Xinhua)
Arbeiter in einer Rafinerie von Saudi Aramco. Die Golfstaaten müssen ihre Wirtschaft breiter aufstellen, als nur auf Erdöl und-gas zu setzen. (© imago images/Xinhua)

Die Golfstaaten wollen ihre Abhängigkeit vom Erdöl reduzieren und müssen ihre Budgets nachhaltig in Ordnung bringen. Dieser Weg wird kein leichter sein.

Russlands Überfall auf die Ukraine mag den Eindruck erzeugen, Öl und Gas wären knappe Güter. Das Gegenteil ist der Fall, von beidem gab es weltweit noch nie so viele bekannte Reserven wie heute, und auch der Verbrauch wird noch lange Zeit steigen. Das Zeitalter des Erdöls wird nicht aus Mangel an Öl zu Ende gehen, genauso wenig wie ein Mangel an Steinen die Steinzeit beendet hat.

Die Nachfrage wird schneller versiegen als die Quellen. Und damit geht auch die Ära des schwarzen Goldes, dem die Golfstaaten ihren Reichtum verdanken, langsam zu Ende. Der Internationale Währungsfonds (IWF) erwartet in einer Analyse vom Februar 2020, dass die weltweite Ölnachfrage innerhalb der nächsten zwei Jahrzehnte ihren Höhepunkt erreichen wird. Dazu haben die Golfstaaten ein ernsthaftes Haushaltsproblem: Beim derzeitigen finanzpolitischen Kurs könnte der finanzielle Reichtum der Region schon in fünfzehn Jahren aufgebraucht sein. Die Doppelkrise der Golfstaaten, die sowohl von der Pandemie selbst als auch von deren Auswirkungen auf die globalen Ölpreise betroffen sind, verstärkt den Handlungsdruck.

Neue Konkurrenz am Erdölmarkt

Erdöl ist das Blut, das durch die Adern der Moderne fließt. Nicht nur die Mobilität ist – noch – von Öl abhängig, der Rohstoff wird zu Polstermöbeln, Fensterrahmen, Fußbodenbelägen, Kleidung, Verpackungen, Kunststoffen, Waschmitteln, Düngemitteln, Kosmetika oder Medikamenten verarbeitet. In einer Couch stecken durchschnittlich sechzig Liter Erdöl, in einem Pressspanregal mehr als sieben Liter. Sogar unsere Bücher baden im Öl ihrer Billy-Regale.

Dennoch bemühen sich die sechs erdölexportierenden Länder des Golfkooperationsrates (GCC) – Bahrain, Katar, Kuwait, Oman, Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) – seit Jahrzehnten, von Öl- und Gaserträgen unabhängiger zu werden. Aus gutem Grund.

Der IWF nennt zwei Schlüsselfaktoren für die langfristige Entwicklung des Erdölmarkts: Die erhöhte Verfügbarkeit aufgrund neuer Technologien und die zunehmende Abkehr von Erdöl aufgrund regulatorischer Maßnahmen gegen den Klimawandel.

Schieferöl hat sich in den USA zur zweitgünstigsten Ölquelle der Welt entwickelt. Die Vereinigten Staaten sind bereits seit 2017 der größte Ölproduzent der Welt und werden in Kürze Netto-Ölexporteur. Andere Länder wie China werden voraussichtlich ihrem Beispiel folgen.

Die Technologie hat auch die Produktivität bestehender konventioneller Ölbohrungen gesteigert und die Ölförderung billiger gemacht. Dadurch sind zwar die nachgewiesenen Reserven in den GCC-Ländern in den letzten zehn Jahren trotz hoher Fördermengen gestiegen, aber gleichzeitig hat sich das weltweite Ölangebot erheblich vergrößert: Der Markt wird leistungsfähiger und preiselastischer. Die Befürchtungen über die Erschöpfung der Ölvorräte sind Geschichte.

Grenzen des Wachstums

Die Bemühungen vieler Länder, den Ölverbrauch wegen des Klimawandels zu senken, wurden bisher vom weltweiten Wirtschafts- und Bevölkerungswachstum überdeckt. Der IWF rechnet jedoch damit, dass schnellere Innovationen und stärkere regulatorische Impulse für den Umweltschutz die Abwendung von der Erdöl-Wirtschaft beschleunigen werden: die weltweite Ölnachfrage könnte in den nächsten zwei Jahrzehnten ihren Höhepunkt erreichen und danach allmählich zurückgehen. Demgegenüber werde sich die weltweite Nachfrage nach Erdgas voraussichtlich zwar verlangsamen, aber noch jahrzehntelang steigen.

Zusammengefasst: Die weltweite Nachfrage nach Erdöl wird noch rund zwanzig Jahre wachsen. Gleichzeitig setzen ein größeres Angebot und neue globale Konkurrenten die Preise unter Druck. Die Abkehr der Welt von einer Kohlenwasserstoff-basierten Energieversorgung wird die von weltweitem Einkommens- und Bevölkerungswachstum getriebene Nachfrage kompensieren. Langfristig wird die Nachfrage nach Erdöl sinken.

Einkommenssteuern: Ein Tabu mit Folgen

In den meisten Golfstaaten stellen Öl und Gas mindestens ein Fünftel des Bruttoinlandsprodukts (BIP), mehr als 65 Prozent der Gesamtexporte und mehr als die Hälfte der Staatseinnahmen. Die Öl- und Gasproduktion machte 2019 bis zu 45 Prozent der Wirtschaftsleistung Kuwaits aus, etwa 35 Prozent der Wirtschaftsleistung von Katar und Oman und fast ein Viertel der Wirtschaftsleistung Saudi-Arabiens und der Vereinigten Arabischen Emirate. Bahrain war das einzige GCC-Land, in dem Kohlenwasserstoffe vor der Pandemie weniger als 15 Prozent zum BIP beitrugen.

Der Kohlenwasserstoffsektor trägt mit Gewinnsteuern, Lizenzgebühren und Dividenden der nationalen Ölgesellschaften den Löwenanteil an den Staatseinnahmen der GCC-Länder. Die Staatshaushalte sind von Öl und Gas abhängig. Die Golfstaaten erzielen keine Einnahmen aus direkten Steuern wie Einkommens- und Grundsteuern.

Laut Moody’s ist dies zum Teil eine Folge des langjährigen Engagements der Regierungen für ein Null- oder sehr niedriges Steuerumfeld, »das Teil des impliziten Gesellschaftsvertrags zwischen den Herrschern und den Bürgern ist, aber auch den Wunsch widerspiegelt, Anreize für Wachstum und Entwicklung außerhalb des Ölsektors zu schaffen«.

Von der globalen Finanzkrise bis zum Krieg gegen die Ukraine sind die Ölpreise und die durchschnittlichen jährlichen Öleinnahmen der GCC-Region zurückgegangen, während die laufenden Ausgaben bis zum Ölpreisschock von 2014 weitgehend unvermindert weiter anstiegen. Die staatlichen Sparquoten sanken und die Vermögensbildung verlangsamte sich.

Großer Reformbedarf

Die Dringlichkeit von Reformen ist nicht überall gleich. Kuwait, Katar und die Vereinigten Arabischen Emirate haben die stärksten Volkswirtschaften in der Region. Sie verfügen über große Ressourcen und eine kleine Bevölkerung. Da sie weniger existenziell bedroht sind, konzentrieren sich die Reformen dort auf ein kontinuierliches Wachstum und die Förderung von wirtschaftlicher Dynamik.

Saudi-Arabien, Bahrain und Oman stehen vor größeren Herausforderungen. Saudi-Arabien verfügt über die größten Erdölreserven der Region, aber aufgrund seiner großen Bevölkerung sind Reserven und Einnahmen pro Kopf relativ gering. Zudem sind 40 Prozent der Bevölkerung unter 25 Jahre alt, die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei 25 Prozent.

Den dringendsten Reformbedarf haben Bahrain und Oman. Sie verfügen über weitaus geringere Pro-Kopf-Ölreserven und Staatsvermögen als die anderen GCC-Länder. Der Einbruch des Ölpreises im Jahr 2014 hat den Staatshaushalt von Bahrein lahmgelegt und zu einem erheblichen Defizit geführt. Die politische Lage – Bahrein wird von der sunnitischen Familie Al Khalifa regiert, während die Mehrheit der Bevölkerung schiitisch ist – hat die Reaktion auf die Krise besonders schwierig gemacht. Der 79-jährige Sultan von Oman hat keinen Erben, die unklare Nachfolge gefährdet die langfristige Stabilität.

Wie lange reicht das Vermögen?

Bereits die hohen Haushaltsdefizite nach dem Ölpreisschock 2014 lösten umfassende Reformen aus. Alle GCC-Länder haben begonnen, weitreichende Struktur- und Steuerreformen durchzuführen. Die Einführung von Verbrauchs- und Mehrwertsteuern in Bahrain, Saudi-Arabien, den Vereinigten Arabischen Emiraten und Oman zeigen erste Erfolge.

Die Vereinigten Arabischen Emirate und Katar werden gemäß Moody’s im heurigen Jahr wieder Haushaltsüberschüsse erzielen, die Defizite in Oman und Saudi-Arabien werden weniger als ein Prozent des BIP betragen. In Bahrain und Kuwait gehen die Defizite zwar leicht zurück, werden aber hoch bleiben. Allgemein haben sich die Haushaltssalden gegenüber der Zeit vor der Pandemie verbessert. Die Steigerungen der Öl- und Gaspreise durch den Krieg in der Ukraine sind in dieser Prognose nicht eingepreist, die tatsächlichen Staatseinnahmen dürften heuer also noch deutlich höher ausfallen als angenommen.

Dennoch braucht es Reformen. Die Regierungen in der Region teilen den Ölreichtum mit ihren Bürgern durch sehr niedrige Energiepreise und einen überaus attraktiven öffentlichen Sektor. Großzügige öffentliche Leistungen, gut bezahlte Arbeitsplätze sowie andere Vorteile machen die Beschäftigung im privaten Sektor vergleichsweise weniger attraktiv. Das bremst die wirtschaftliche Dynamik und behindert das Streben der Volkswirtschaften nach mehr Unabhängigkeit vom Erdöl.

»Bei dem derzeitigen finanzpolitischen Kurs könnte die Region ihren finanziellen Reichtum in den nächsten fünfzehn Jahren aufbrauchen«, warnt der IWF. Die Entwicklung der Erdölpreise mag diese Zeitspanne verkürzen oder verlängern, am Trend ändert sie nichts.

Krise als Chance

Die Doppelkrise in der Pandemie führte zu erhöhten staatlichen Kreditaufnahmen für das Gesundheitswesen und öffentliche Unterstützungsprogramme, während die Kapitalinvestitionen erheblich zurückgingen. Dies hatte negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Diversifizierung. Die Lockdowns störten Sektoren außerhalb des Kohlenstoffsektors wie Tourismus, Gastgewerbe, Transport und Einzelhandel und ließen die Arbeitslosigkeit ansteigen, was sich wiederum negativ auf den privaten Konsum auswirkte.

Gleichzeitig hat die Krise aber auch der Umgestaltung der Volkswirtschaften Auftrieb gegeben. Die externen Schocks haben die Folgen des Nichthandelns aufgezeigt und die Anreize für eine wirtschaftliche Diversifizierung verstärkt. Die GCC-Länder haben den Reformbedarf erkannt und reagieren darauf.

Wirtschaft im Wandel

Oberstes Ziel ist die Diversifikation der Wirtschaft und damit die Erhöhung des Anteils des Privatsektors an der Wirtschaftsleistung. Das bedeutet keine Abkehr von Öl und Gas, sondern die Entwicklung neuer Wirtschaftszweige on top, um die Abhängigkeit vom Kohlenwasserstoffsektor zu verringern. In der Praxis verdrängen jedoch staatliche Investitionen oft die Investitionen des privaten Sektors.

Die richtige Balance von Anreizen ist auch eine budgetäre Herausforderung. Einerseits will man mit dem Verzicht auf Einkommenssteuern ein günstiges Umfeld für den privaten Sektor und Investitionen aus dem Ausland schaffen, andererseits würde der vollständige Ersatz des Kohlenwasserstoffsektors durch andere Wirtschaftszweige zu erheblichen Einbußen im Staatshaushalt führen: von jedem Dollar des Kohlenwasserstoff-BIP fließen durchschnittlich 80 Cent in den Staatshaushalt der GCC-Länder. Demgegenüber schafft ein Dollar des BIP aus der Nicht-Kohlenwasserstoffindustrie derzeit nur rund zehn Cent an Staatseinnahmen gegenüber 14,5 Cent weltweit.

Lesen Sie hier den zweiten Teil dieser Analyse. Eine gekürzte Fassung des Texts wurde zuerst im Magazin DER PRAGMATICUS veröffentlicht (https://www.derpragmaticus.com/r/oel-nachfrage/).

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