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Weibliche Genitalverstümmelung: Ein religiöses Recht?

Von Thomas von der Osten-Sacken

In Indien stärkt Premierminister Narendra Modi muslimische Befürworter von Genitalverstümmelung (FGM). Ein schwerer Rückschlag für die Kampagnen zur Beendigung dieser Praxis in der islamischen Welt.

Weibliche Genitalverstümmelung: Ein religiöses Recht?Fast ein Jahrzehnt hat es gedauert, bis sich in Kreisen der UN und anderer Organisationen die Erkenntnis durchsetzte, dass die bisher publizierten Zahlen über Mädchen und Frauen, die weltweit Opfer von Genitalverstümmelung sind, viel zu niedrig angesetzt waren. 120 Millionen seien es, hieß es damals in sämtlichen Stellungnahmen und Erklärungen. Dabei richtete sich der Fokus fast ausschließlich auf den afrikanischen Kontinent. Irgendwann konnte man die Augen nicht mehr vor der Tatsache verschließen, dass FGM auch in unzähligen nahöstlichen und südostasiatischen Ländern praktiziert wird. Den Ausschlag gab eine von der Hilfsorganisation Wadi initiierte Kampagne im Nordirak. Inzwischen musste UNICEF deshalb seine Zahlen nach oben korrigieren und spricht inzwischen von 200 Millionen Mädchen.

Auch diese Zahl dürfte noch zu niedrig sein, weigert sich die Organisation doch Länder in ihre Listen aufzunehmen, aus denen keine von Regierungsseite bestätigten Daten vorliegen. In vielen Fällen weigern sich Regierungen schlicht über dieses Thema auch nur zu reden und behindern Frauen- und Menschenrechtsorganisationen, die versuchen, entsprechende Daten zu sammeln. Oman ist dafür ein gutes Beispiel: Unter schwierigsten Bedingungen wurden dort zwei kleine Studien durchgeführt, die verheerende Resultate erbrachten. Fast ALLE Frauen dort seien verstümmelt. Und doch taucht Oman auf keiner Karte derjenigen Länder auf, in denen FGM praktiziert wird. Die Liste lässt sich weiterführen. Längst bekannt ist, dass FGM etwa im Iran, in Pakistan, Indien, den Malediven, in Singapur, Malaysia und Indonesien praktiziert wird. Und auch aus anderen Ländern liegen Hinweise vor, denen dringend nachgegangen werden müsste.

Weibliche Genitalverstümmelung: Ein religiöses Recht?In den wenigsten Fällen können Organisationen vergleichsweise frei arbeiten. In Indien war und ist dies weitgehend möglich und es ist dem Mut und Engagement von Sahiyo zu verdanken, dass in recht kurzer Zeit bekannt wurde, wie hoch die Quote von FGM in der Gruppe der sich den Schiiten zurechnenden Bohra-Muslime in Südindien ist.  Den Aktivistinnen von Sahiyo gelang nicht nur, in Indien und auch weltweit für Öffentlichkeit zu sorgen, sondern sie schafften es, dass Regierung und Parlament in Dehli sich mit dem Thema befassten. Genitalverstümmelung sei nach geltendem Recht ein Verbrechen, hieß es im April 2018 noch in einer Erklärung der indischen Regierung an das oberste Gericht.

Wie in so vielen Ländern Asiens auch, wehren sich sowohl traditionell orientierte Gruppen als auch Teile des Klerus gegen eine Kriminalisierung. Was im Namen von Tradition und Islam praktiziert werde, heißt es regelmäßig, sei ja keineswegs eine Verstümmelung, sondern nur ein harmloser kleiner Schnitt, der viel mehr der Entfernung der Vorhaut bei Jungen als irgendeinem schwerwiegenden Eingriff gliche. So etwa argumentieren seit Jahren Kleriker der sha’fiitischen Reschtsschule, die vorsieht, dass Beschneidung von Mädchen und Jungen gelichermaßen im Islam vorgeschrieben sei: „Die offizielle Position der Schafi’i-Schule ist, dass sie für Frauen obligatorisch ist.“

Dieser Ansicht schließen sich auch Kleriker anderer sunnitischer Rechtsschulen sowie einige Schiiten an. Ihnen zufolge handelt es sich um ein religiöses Gebot, dass keine negativen Auswirkungen habe und die „Beschneidung“ der Klitoris oder Klitorisvorhaut von jungen Mädchen sei nun einmal religiöse Pflicht. In der Praxis ist tausendfach bewiesen, welch verheerende Auswirkungen jeder Eingriff auf psychische und physische Gesundheit von Mädchen und Frauen hat – laut international gültigen Definitionen fällt deswegen auch dieser so genannte Sunnat-Schnitt unter Genitalverstümmelung (FGM/C).

Weibliche Genitalverstümmelung: Ein religiöses Recht?Gerade in Ländern in denen die scha’fiitische Rechtsschule dominant ist, also etwa in Ägypten, dem kurdischen Nordirak oder Indonesien, in denen oft weit über 70% aller Mädchen verstümmelt wurden, versuchen sich Anhänger der Praxis mit dem Argument der Harmlosigkeit gegen Gesetze und Verbote zu wehren. Ein umso größerer Erfolg schien in Indien erreicht, bis sich der nationalistisch-hinduistische Premierminister Narendra Modi jüngst mit der Dawoodi Bohra Women’s Association for Religious Freedom (DBWRF) traf, einer konservativen Gruppe, die sich vehement für die „Beschneidung“ von Mädchen einsetzt. In diesem Treffen änderte Modi plötzlich die bisherige Haltung seiner Regierung und unterstützte das Anliegen von DBWRF statt eines Verbotes die Frage an ein Verfassungskomitee zu delegieren. Entsprechend entsetzt und empört reagieren Organisationen, die sich für ein gesetzliches Verbot strak machen und kritisieren in einer Online-Petition:

„Die Empfehlung [von Modi] stellt einen Versuch dar, Wahrnehmungen zu ändern. Statt die Verstümmelung weiblicher Genitalien primär als einen Verstoß gegen die verfassungsmäßigen Ansprüche und Menschenrechte von Frauen einzuordnen, soll das Recht, diese diskriminierende Praxis fortzusetzen, unter Berufung auf die Religionsfreiheit etabliert werden.“

Die Kehrtwende Modis dürfte nicht nur in Indien, sondern auch in Nordafrika, dem Nahen Osten und Südostasien all denen Auftrieb geben, die sich gegen ein Ende der Praxis engagieren und sie als religiös gerechtfertigte Notwendigkeit verteidigen. Ganz ähnlich nämlich argumentiert auch eine der größten muslmischen Vereinigungen Indonesiens und auch in Ägypten gibt es immer wieder entsprechende Vorstöße.

Weibliche Genitalverstümmelung: Ein religiöses Recht?In Zeiten, in denen überall Religion neu entdeckt wird und religiöse Freiheit von Fundamentalisten aller Couleur als bedrohtes Gut verteidigt wird, stoßen solche Forderungen leider auf offene Ohren. Überall in Asien stoßen Initiativen gegen FGM auf solche Widerstände. Dass jetzt sogar der demokratisch gewählte Premierminister  eines der bevölkerungsreichsten Länder der Welt, in dem immerhin fast 180 Millionen Muslime leben, sich derart positioniert, stellt ein Novum dar. Es steht deshalb zu befürchten, dass in Zeiten religiöser Rollbacks die Apologeten von Mädchenverstümmelung in Asien gestärkt, die Gegner dagegen weiter geschwächt werden, wo sie es doch gerade erst ein paar Jahre her ist, dass überhaupt bekannt wurde, wie weit verbreitet diese Praxis auf dem asiatischen Kontinent ist.

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