Nach mehr als eineinhalb Jahren Krieg gegen die Hamas bleibt unklar, wie es mit dem Gazastreifen weitergehen soll.
Die Hamas hat den Vorschlag einer fünfjährigen »Hudna« in den Raum gestellt – ein Waffenstillstand im islamischen Recht, der zwischen Muslimen und Ungläubigen geschlossen werden kann, wenn und solange die Muslime militärisch unterlegen sind, der aber keinen dauerhaften Frieden bedeutet, sondern eine Phase temporärer Koexistenz. Die Absicht der Hamas ist also klar: Sie will ihr Überleben im Gazastreifen sichern.
Israel müsste der Hamas zufolge, wie schon mehrfach seit dem 7. Oktober 2023, im Gegenzug für jede freigelassene Geisel eine Vielzahl von inhaftierten Terroristen aus israelischen Gefängnissen entlassen, von denen sich unzweifelhaft viele wieder Terroraktivitäten widmen werden, sobald sie die Möglichkeit dazu haben.
Israel seinerseits will das Problem grundsätzlich lösen: Die Hamas soll im Gazastreifen künftig keine Rolle mehr spielen. Mehrfach hat Israel der Hamas-Führung angeboten, sie in ein anderes arabisches Land abziehen zu lassen, wie Jassir Arafat es getan hatte, als er 1982 mit der PLO-Führung Beirut verließ und nach Tunesien ging. Doch davon will die Hamas nichts wissen.
Israelische Position
Wie die offizielle israelische Position gerade aussieht, ist schwierig zu beurteilen. Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hat Medien zufolge den Sieg über die Hamas als wichtigeres Ziel im Gaza-Krieg bezeichnet als die Rückkehr der Geiseln. Die Freilassung der Verschleppten sei zwar »ein sehr wichtiges Ziel«, das oberste aber der Sieg über Israels Feinde.
Derzeit werden Zehntausende an Wehrpflichtigen zusätzlich einberufen, die für eine längere militärische Besetzung des Gazastreifens eingesetzt werden sollen, doch wird vermutet, dass mit der Umsetzung noch die bevorstehende Nahost-Reise von US-Präsident Donald Trump abgewartet wird.
Was die zusätzlichen Soldaten genau erreichen sollen, was nicht bisher schon militärisch möglich war, dürfte die große Frage sein, die auch die Führung der Israelischen Verteidigungsstreitkräfte (IDF) gerade beschäftigt. Kolportiert wird, dass sie mit den Ankündigungen der Regierung wenig Freude haben soll. Insbesondere soll sie davor warnen, dass eine solch größere Operation das Leben der noch im Gazastreifen verbliebenen Geiseln gefährden würde. Nach israelischen Informationen werden derzeit noch 24 Personen sowie 35 Leichen von Verschleppten festgehalten. Die Chance, sie durch verstärkten militärischen Druck freizubekommen, wird nicht als hoch eingeschätzt.
Für Wirbel sorgen darüber hinaus Stellungnahmen aus dem Regierungslager, etwa von Finanzminister Bezalel Smotrich, die sich in Fantasien über eine dauerhafte Besetzung des Gazastreifens, die Zerstörung palästinensischer Infrastruktur und die ganz oder teilweise Vertreibung der Palästinenser ergehen; manche sehnen gar eine Wiederbesiedelung des Gazastreifens herbei. Letzteres hat Netanjahu in der Vergangenheit ausdrücklich ausgeschlossen, aber er ist auf die Stimmen der Extremisten angewiesen und hat sein eigenes politisches Überleben von diesen abhängig gemacht.
Eine große Mehrheit der israelischen Bevölkerung ist strikt gegen eine dauerhafte Besetzung oder gar jüdische Wiederbesiedelung des Gazastreifens und fordert ganz im Gegenteil einen Deal mit der Hamas, durch den die Geiseln freikommen würden. Darauf und auf nichts anderes müssten alle Anstrengungen ausgerichtet werden. Angehörige der Geiseln werfen dem Ministerpräsidenten vor, das Leben der Verschleppten mit einem neuerlich verstärkten Militäreinsatz in Gefahr zu bringen.
Der Haken dabei ist, dass so gut wie ausgeschlossen ist, dass die Hamas im Fall eines Abkommens wirklich alle Geiseln freilassen würde, da diese ihre einzige noch verbliebene Überlebensgarantie sind. Oft wird so getan, als bestünde die Wahl zwischen einer Weiterführung des Kriegs auf der einen und der Befreiung der Geiseln durch einen Deal mit der Hamas auf der anderen Seite, doch das dürfte eine Scheinalternative sein, da Letztere aller Wahrscheinlichkeit nach so oder so nicht erreicht werden könnte. Und ein Abschluss mit der Hamas würde bedeuten, diese an der Macht zu belassen – was neuen Terror aus dem Gazastreifen nur zu einer Frage der Zeit machen würde.
Religiöses Gebot
Die Dilemmata, mit denen Israel seit der Verschleppung seiner Bürger konfrontiert ist, sind leider in der jüdischen Geschichte alles andere als neu. Täglich, und nicht erst seit dem 7. Oktober 2023, beten gläubige Juden für die Befreiung von Gefangenen. »Pidjon Schewu’im«, ihre Auslösung, ist eine Mizwa, eine besondere Wohltat, die im Judentum seit Jahrtausenden leider nie bloße Theorie geblieben ist. Ihren Feinden war schnell klar, dass jüdische Gemeinden viel Mühe aufwenden würden, um ihre Mitglieder zu befreien.
Die Mizwa geht auf das 1. Buch Mose 14, 14–15 zurück. Dort lesen wir, dass Abrahams Neffe Lot aus Sedom entführt wurde: »Des Nachts teilten er und seine Knechte sich in Gruppen, und er schlug sie und verfolgte sie bis Choba (…). Und er brachte alle Habe zurück, auch seinen Verwandten Lot (…) und auch die Frauen.« Dies war offenbar eine gewaltsame Befreiungsaktion.
Im Talmudtraktat Baba Batra (8b) wird die Mizwa der Befreiung eine »große Mizwa« genannt. Rawa fragte Rabba bar Mari, woher »die Aussage der Weisen« komme, dass die Befreiung von Gefangenen eine große Mizwa ist. Rabbi Jochanan fährt fort und erklärt die zitierten Strafen: Tod, Schwert, Hunger und Gefangenschaft. Dann schließt er: »Bei der Gefangenschaft ist alles vorhanden.« Er meint damit alle aufgezählten Strafen. Damit sagt er, dass Gefangene allem ausgesetzt sein können, denn sie sind der Willkür derer ausgesetzt, die sie gefangen halten. Es war also allen bewusst, was Geiseln oder Gefangene zu erwarten hatten.
Wie sollte die Praxis aussehen? Die Mischna (Gittin 4,6) sagt: »Man löse Gefangene nicht über ihren Wert aus – wegen der Ordnung der Welt.« Der Talmud sagt: Wer es sich leisten kann, sollte den Betrag aufwenden. Wenn die Gemeinde es nicht kann, kann ihr das nicht zugemutet werden.
Im Tur, einem grundlegenden halachischen Werk aus dem 14. Jahrhundert, formulierte Jakow ben Ascher für die Praxis einschränkend: »Wir lösen Gefangene nicht für mehr als ihren Wert aus, wegen der Ordnung der Welt, damit unsere Feinde sich nicht anstrengen, zu entführen. Und selbst wenn ihre Verwandten sie für mehr als ihren Wert freikaufen wollen, lassen wir das nicht zu.«
Die Debatten im Talmud waren nicht nur graue Theorie, sondern Spiegel jüdischen Lebens. Leider sind sie heute nicht minder aktuell, als sie es damals waren.