Jeder Einwohner von Gaza weiß, was sich in österreichischen Redaktionen noch nicht herumgesprochen haben dürfte: dass es im aktuellen Krieg auch tote Hamas-Kämpfer gibt.
Mitte August meldete die österreichische Tageszeitung Die Presse, dass nach Angaben der Gesundheitsbehörde in Gaza seit Beginn der israelischen Militäroffensive Anfang Oktober »bei Angriffen mindestens 40.005 Palästinenserinnen und Palästinenser getötet worden« seien. Der Standard und die Homepage des österreichischen Rundfunks ORF meldeten dieselbe Zahl, wiesen aber immerhin noch darauf hin, dass die Gesundheitsbehörde in Gaza von der Hamas kontrolliert wird und in ihren Statistiken nicht zwischen Zivilisten und Kombattanten unterscheidet.
Der UNO-Hochkommissar für Menschenrechte Volker Türk sprach in einer Mitteilung zu den gemeldeten Zahlen von einem »düsteren Meilenstein für die Welt«. Diese »unvorstellbare Situation«, in der die meisten der Toten Frauen und Kinder seien, sei »überwiegend auf wiederholte Verstöße der israelischen Streitkräfte zurückzuführen«, die sich nicht an die Regeln des Kriegs hielten, wie der ORF Türk zitierte – und so seine einschränkenden Worte zur Glaubwürdigkeit der Gesundheitsbehörde in Gaza sofort wieder revidierte.
Nach einem Bericht des Institute for National Security Studies (INSS) wurden in Gaza 17.000 Hamas-Terroristen von den Israelischen Verteidigungsstreitkräften (IDF) getötet, seitdem die Terrorgruppe am 7. Oktober mit ihrem Überfall auf Israel den Krieg vom Zaun gebrochen hatte. Das Verhältnis von getöteten Kombattanten zu getöteten Zivilisten würde also unter 1 zu 1,5 liegen, was laut Angaben führender Militärexperten bemerkenswert niedrig für einen Antiterrorkampf in einem so dicht besiedelten und urban geprägten Gebiet wir dem Gazastreifen ist.
Hamas-Strategie …
Doch warum liest man davon nichts in den Medien hierzulande, wo es oft so erscheint, als gäbe es keine Hamas-Kämpfer unter den im Gazastreifen Getöteten? Einer der Gründe dafür ist, dass die Hamas selbst tunlichst drauf bedacht ist, keine Angaben über ihre Gefallenen zu machen, woraus sich auch erklärt, weshalb die von der Hamas kontrollierte Gesundheitsbehörde in Gaza nicht zwischen Zivilisten und Kombattanten unterscheidet.
Dass die Bewohner des Gazastreifens wissen, was sich in österreichische Redaktionen auch nach mehr als zehn Monaten Krieg noch nicht herumgesprochen zu haben scheint, konnte man unlängst in der israelischen Zeitung Haaretz nachlesen. Unter dem Titel »Warum die Hamas versucht, die Zahl ihrer von Israel getöteten Kämpfer zu verheimlichen« hieß es dort, dass die Terrorgruppe besonders seit dem 7. Oktober zur Strategie übergegangen ist, »lange Listen mit den Namen von Frauen, Kindern und älteren Menschen, die während des Kriegs getötet wurden« zu veröffentlichen, aber keinerlei Informationen zu Kombattanten preiszugeben.
Bezogen auf die eingangs zitierte Zahl von über 40.000 Toten hieß es, diese lasse sich nicht nur nicht unabhängig bestätigen, sondern auf den dementsprechenden Listen befänden sich auch »mehrere bekannte ranghohe Terroristen, die als Frauen aufgeführt wurden, oder sie erschienen mit gefälschten Ausweisnummern unter den Toten«.
Berichte über tote Hamas-Mitglieder würden die Propaganda der Terrorgruppe durchkreuzen, laut der sie einen erfolgreichen Kampf gegen Israel führt und mit den angeblich massenhaft getöteten israelischen Soldaten prahlt. »Heute ist die Bevölkerung gegen die Hamas, und die Gruppe will keine Situation schaffen, in der die [palästinensische] Öffentlichkeit der israelischen Seite glaubt, die sagt: ›Wir haben Tausende von Hamas-Terroristen getötet‹«, zitierte Haaretz den israelischen Aktivisten Gershon Baskin.
… des Schweigens
Die Zeitung berichtete weiters, dass die Hamas-Strategie des Schweigens über die eigenen Opfer auch unmittelbare Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung im Gazastreifen hat. So ist diese einem »inoffiziellen Kodex des Schweigens« unterworfen, der aus Angst vor Repression eingehalten wird, da die Hamas jede Zuwiderhandlung als Verrat ansieht, der Israel hilft und deswegen als Kollaboration betrachtet und dementsprechend geahndet wird.
»Die allgemeine Annahme auf der Straße ist, dass die Welt sich weniger mit dem Leiden der Menschen im Gazastreifen identifizieren wird, wenn die Namen der toten Kämpfer veröffentlicht werden. Das würde die Bombardierung des Gazastreifens legitimieren«, sagte ein von der Zeitung zitierter Palästinenser aus Gaza-Stadt. »Solange es Videos und Berichte über die Zivilbevölkerung gibt, sagt niemand etwas. Aber wenn es jemand wagt, die Hamas zu kritisieren oder den Namen eines toten Kämpfers zu erwähnen, wird er als ›Verräter‹ bezeichnet und auch so behandelt.«
Bemerkenswert ist auch der scharfe Kontrast zum Vorgehen der Hamas im Westjordanland, wo die Terrorgruppe auf ihrem offiziellen Telegram-Kanal Berichte über die im Kampf gegen Israel getöteten Mitglieder mit vollständigem Namen und Bildern veröffentlich und mit den Opfern prahlt.
»Aber Sie werden kein einziges Bild eines Hamas-Kämpfers aus Gaza sehen. Es ist ein Überlebenskampf um das Bild, das die Hamas der Welt vermittelt. Wenn man nicht über bewaffnete Männer spricht, sie nicht erwähnt, nicht erwähnt, dass sie getötet wurden, dann existieren sie in dem Narrativ auch nicht«, präzisierte eine Bewohnerin von Gaza – und beschreibt damit sehr genau, was man Woche für Woche in österreichischen und europäischen Medien beobachten kann, wo die Strategie der Terrorgruppe aufgeht und tote Hamas-Kämpfer nicht vorkommen, ganz so, als gäbe es sie nicht.