Der Gazastreifen bewegt sich zwischen einem Neuanfang und dem Kampf traditioneller Mächte wie der Fatah und der Hamas.
Mohammed Altlooli
Der Gazastreifen befindet sich heute an einem der komplexesten und schmerzhaftesten Wendepunkte seiner modernen Geschichte. Der Krieg hat die Infrastruktur zerstört, Familien auseinandergerissen und die Gesellschaft in einen Zustand kollektiver Erschöpfung getrieben. Doch die Krise ist nicht nur humanitärer Natur, sondern auch zutiefst politisch. Das Fehlen einer legitimen Führung, welche die Bevölkerung wirklich vertritt, hat ein Vakuum hinterlassen. Die bestehenden Fraktionen, allen voran die Hamas und die Fatah, sind nicht mehr in der Lage, den Einwohnern eine echte politische oder menschliche Perspektive zu bieten. Stattdessen sind sie selbst Teil des Problems geworden.
Inmitten dieses Vakuums entstehen neue Initiativen – einige still hinter verschlossenen Türen, andere treten vorsichtig in die öffentliche Diskussion ein. Diese Bemühungen stützen sich nicht auf hochtrabende Slogans, sondern entspringen einer wesentlichen Forderung: Einer authentischen Vertretung der Bevölkerung des Gazastreifens, frei von starren Parteiideologien.
Hinter den Kulissen
Weit entfernt vom Lärm der täglichen Politik wird still und leise etwas vorbereitet. So finden geheime Treffen, offene Gespräche zwischen palästinensischen Akteuren der Zivilgesellschaft und ihren internationalen Partnern sowie Diskussionen mit israelischen Partnern statt – all dies mit dem Ziel, dem Gazastreifen nicht eine weitere Autorität aufzuzwingen, sondern die Grundlage für eine neue politische Phase zu schaffen, die auf Vertrauen basiert.
Die zentrale Idee ist die Schaffung eines neuen repräsentativen Rahmens: Eine Stimme, die in der Bevölkerung selbst verwurzelt ist und deren dringendes Bedürfnis nach Frieden, Sicherheit und Würde widerspiegelt. Aus Tragödien ergeben sich manchmal Chancen, die nicht ignoriert werden können, und der aktuelle Moment könnte einer dieser seltenen Wendepunkte sein.
Die Gespräche der palästinensischen Aktivisten mit israelischen Partnern drehen sich um die grundlegende und schwierige Frage, wie nach Jahrzehnten des Blutvergießens wieder Vertrauen aufgebaut werden kann. Die Antwort beginnt bei der menschlichen Dimension: Die Menschen im Gazastreifen sind der endlosen Kriege müde, und die Menschen in Israel sind es leid, in Angst zu leben. Wenn ein neues ziviles Rahmenwerk entsteht, das wirklich für die kriegsmüden Menschen in der Küstenenklave spricht, könnte dies die Tür zu praktischen, nicht ideologischen Verhandlungen öffnen, die auf folgenden Punkten aufbauen:
- Linderung des täglichen Leidens,
- Wiederaufbau der Wirtschaft,
- Gewährleistung einer transparenten Zivilverwaltung,
- Schaffung realistischer Perspektiven für Koexistenz und Frieden.
Dieser Ansatz verspricht keine schnellen Lösungen, aber er schafft einen Weg, der den Kreislauf von Gewalt und Stagnation durchbrechen kann.
Palästinensische Jugend
Am besten in der Lage, diese Vision zu verwirklichen, ist die junge Generation. Sie ist inmitten der Trümmer der wiederholt von der Hamas vom Zaun gebrochenen Kriege aufgewachsen, hat die erstickende Isolation der Blockade erlebt und strebt dennoch danach, ein normales Leben wie ihre Altersgenossen in anderen Teilen der Welt zu führen. Was sie auszeichnet, ist eine entscheidende Stärke: Sie ist nicht durch das Erbe alter Spaltungen belastet und nicht an die ideologischen Kämpfe gebunden, die Hamas und Fatah geprägt haben. Statt der Vergangenheit kann sie sich der Zukunft zuwenden. Für sie bedeutet Führung nicht militante Macht oder festgefahrene Fraktionskämpfe; es geht um transparente zivile Verwaltung, Dienst an der Bevölkerung und die Wiederherstellung der Menschenwürde im täglichen Leben.
Es ist vorhersehbar, dass Hamas und Fatah aus unterschiedlichen Gründen Widerstand gegen solch einen Neustart leisten werden. Für die Hamas ist jede Alternative eine direkte Bedrohung ihrer Herrschaft, für die Fatah untergräbt ein neuer Akteur ihren historischen Anspruch auf die Vertretung aller Palästinenser.
In einer paradoxen Wendung könnten die rivalisierenden Fraktionen sogar eine gemeinsame Basis finden, indem sie sich zusammen gegen den Aufstieg einer neuen politischen Kraft im Gazastreifen stellen. Diese im Entstehen befindliche Initiative verfügt noch nicht über starke Institutionen oder über internationale Legitimität, aber sie wird von etwas Wertvollerem getragen, nämlich der moralischen Legitimität durch eine Bevölkerung, die verzweifelt nach echten Veränderungen sucht.
Europäisches Vorbild?
Hier bietet die europäische Geschichte auffällige Parallelen. Auch das Nachkriegseuropa brachte etwas Neues hervor: das europäische Projekt selbst, geboren aus der Asche der Spaltung und Zerstörung. Zunächst leisteten nationalistische Mächte aus Furcht vor dem Verlust ihres Einflusses Widerstand, doch mit der Zeit bewies das Projekt, dass zivile und wirtschaftliche Zusammenarbeit stärker sein kann als die hasserfüllte Erinnerung an den Kriegsgegner.
Niemand kann die Frage nach der Zukunft mit Sicherheit beantworten. Die Bemühungen im Gazastreifen könnten scheitern wie viele Versuche zuvor. Sie könnten durch den Druck etablierter Mächte schon im Keim erstickt werden. Aber allein die Tatsache, dass solche Diskussionen stattfinden – und israelische und internationale Partner erreichen –, signalisiert, dass sich die Zeiten ändern.
Die Erfahrungen Europas untermauern diese Möglichkeit: Deutschland wurde nach dem Zweiten Weltkrieg mithilfe des Marshall-Plans von Grund auf neu aufgebaut und schließlich zu einem Eckpfeiler des Friedens in Europa. Der Balkan entwickelte sich aus blutigen Kriegen in den 1990er Jahren heraus zu einem Teil der Europäischen Union. In Nordirland verwandelte das Karfreitagsabkommen von 1998 den jahrzehntelangen bewaffneten Konflikt in einen politischen Prozess, der zum Teil von einer neuen Generation angeführt wurde. – Diese Fälle zeigen eine simple Wahrheit: Selbst die blutigsten Konflikte können zu einer neuen Realität führen, wenn politischer Wille und Zivilcourage Hand in Hand gehen.
Die Geschichte des Gazastreifens ist seit jeher eine Geschichte der Widerstandsfähigkeit. Unter den Trümmern entstanden Formen des zivilen Widerstands. Hinter geschlossenen Grenzen entstanden kreative humanitäre Initiativen. Wenn wir heute von einem politischen Neustart sprechen, scheint es, als würde Gaza erneut seine Geschichte neu schreiben – ähnlich wie Europa, das aus den Trümmern zweier Weltkriege wiederauferstanden ist.
Dieser Neuanfang mag von der alten Garde bekämpft werden und er bedeutet nicht das sofortige Ende der Hamas oder der Fatah. Aber er markiert den Beginn einer Phase, die von den überkommenen Fraktionen nicht länger ignoriert werden kann. Eine Phase, die der Welt sagt: Wir – die Jugend von Gaza – können uns selbst vertreten; so, wie Europa nach der Zerstörung gelernt hat, sich selbst zu vertreten. Wir glauben, dass der Gazastreifen sein eigenes Projekt für Frieden, Gerechtigkeit und Würde haben kann, ähnlich wie Europas Projekt für Einheit und Frieden.
Mohammed Altlooli ist palästinensischer Bürgerrechtler und Gründer der Temporary Palestinian Civil Affairs (TPCA).






