Auch im Krieg Israels gegen das iranische Atomgramm schien es für viele Medien einfacher und beliebter zu sein, die üblichen Floskeln zu bemühen, als ein realistisches Bild der Lage zeichnen.
»Die Gewaltspirale im Krieg der Erzfeinde Israel und Iran dreht sich immer schneller«, bemühte das Handelsblatt am 15. Juni wieder einmal eine der klassischen Nahost-Floskeln, mit denen dem Urteil ausgewichen werden soll, welche Seite ursächlich für den Konflikt verantwortlich ist und welcher Seite aufgezwungen wird, ihn zu führen, notfalls auch offensiv. »Angriff folgt Angriff – im militärischen Konflikt zwischen Israel und dem Iran zeigen sich beide Seiten nicht gewillt, die Gewaltspirale zu durchbrechen«, stieß die Deutsche Welle am selben Tag ins gleiche Horn. »Eskalation zwischen Israel und Iran: ›Gewaltspirale dreht sich unaufhaltsam weiter‹«, titelten die Oberösterreichischen Nachrichten bereits am 13. Juni, um nachfolgend festzuhalten: »Die Lage droht völlig aus den Fugen zu geraten: Mit dem Großangriff Israels auf den Iran eskaliert die Situation im Nahen und Mittleren Osten.«
In der medialen Darstellung, die sich um die Vorgeschichte des israelischen Angriffs nicht weiter kümmert, sondern reflexhaft die Phrase von der »Gewaltspirale« bemüht, die eine »Eskalation« erfahren habe, soll es also wieder einmal Israel gewesen sein, das mit seinem Angriff auf Einrichtungen des iranischen Militärs und der Revolutionsgarde die Lage im Nahen Osten zum Rotieren gebracht habe, und nicht etwa der Iran, als er – nur einen Tag nach dem Hamas-Massaker vom 7. Oktober 2023 – durch seine Stellvertretermiliz Hisbollah den Schattenkrieg gegen Israel in permanente Raketenangriffe übergehen ließ: in einen offenen Krieg, der nicht nur den Norden Israels de facto unbewohnbar machte, sondern an dem sich die Islamische Republik am 13. April 2024 sowie am 1. Oktober 2024 mit dem Abfeuern hunderter Raketen und Drohnen auf Israel auch direkt selbst beteiligte.
Es soll der Angriff Israels auf das iranische Atom- und Raketenprogramm gewesen sein, der die aktuelle Eskalation bewirkte, und nicht etwa das Vorantreiben dieser Programme, die letztlich nur einem Zweck dienten: der Aufrechterhaltung der iranischen Vernichtungsdrohung gegen den jüdischen Staat, die seit der Islamischen Revolution von 1979 die Staatsräson des Teheraner Regimes darstellt. Dementsprechend schaffte es auch eine Meldung – bis auf wenige Ausnahmen (hier oder hier) – nicht in die deutschsprachigen Medien; die Meldung nämlich, welcher Umstand eigentlich einer der zentralen Auslöser für die israelische Einschätzung war: Der »Punkt ohne Wiederkehr« stünde unmittelbar bevor, nach dem eine iranische Atombombe nicht mehr zu verhindern gewesen wäre, was ein Einschreiten nötig gemacht habe.
Neue Erkenntnisse
Zwar wurden immer wieder die US-Geheimdienste zitiert, die in ihrem im März von der Direktorin der nationalen Nachrichtendienste Tulsi Gabbard präsentierten Bericht zu dem Schluss gekommen sind, der Iran reichere zwar Uran auf ein Niveau an, für das es nur militärischen Nutzen gibt, aber er arbeite momentan nicht unmittelbar an der Entwicklung eines Sprengkopfs, der neben der Urananreicherung und den Trägerraketen den dritten notwendigen Teil eines Atomwaffenprogramms bildet. Dass dieser Verweis eher dem Versuch galt, den israelischen Angriff für ungerechtfertigt hinzustellen, als dem Versuch, die aktuelle Situation adäquat einzuschätzen, zeigte sich nicht zuletzt darin, dass die neuesten Erkenntnisse der israelischen Geheimdienste, die ja die Grundlage für Benjamin Netanjahus Entscheidung zum Angriff darstellten, weitestgehend ignoriert wurden.
Unter dem Titel »Inside the spy dossier that led Israel to war« legte der Economist am 18. Juni diese neuesten Erkenntnisse dar, die in der medialen Diskussion um die Rechtfertigung und Angemessenheit des israelischen Vorgehens eine so unterbelichtete Rolle spielten. Dem angesprochenen Dossier der israelischen Nachrichtendienste zufolge arbeitete der Iran nämlich entgegen früheren Erkenntnissen doch (wieder) am Bau eines Sprengkopfs, war also im Begriff, sich auch der dritten und letzten Komponente zu bemächtigen, die er für den Bau einer Atombombe benötigt.
Iranische Atomwissenschaftler hätten »ihre Arbeit beschleunigt und standen kurz davor, sich mit Kommandeuren des iranischen Raketenkorps zu treffen, offenbar, um die ›Kopplung‹ eines Atomsprengkopfs mit einer Rakete vorzubereiten«, heißt es in dem Economist-Artikel. Diese Erkenntnisse seien nicht nur »wirklich neuartig«, sondern belegten auch, dass der Iran drauf und dran gewesen sei, den Rubikon zu überschreiten. So stellte das geplante Treffen zwischen Atomwissenschaftlern und den Kommandeuren des Luft- und Raumfahrtprogramms der Revolutionsgarde »einen Wendepunkt dar, da die Raketenchefs zum ersten Mal in das Geheimnis [der Sprengkopfentwicklung] eingeweiht würden, was wiederum darauf hindeutet, dass die Planung für die ›Kopplung‹ eines nuklearen Sprengkopfs mit einer Trägerrakete kurz vor dem Beginn stand«.
Beschleunigte Bemühungen
Dass die vor etwa sechs Jahren gegründete geheime »Sonderarbeitsgruppe«, deren Ziel es war, den Weg für einen schnellen Prozess der Waffenproduktion zu ebnen, falls der Oberste iranische Führer Ali Khamenei dies beschließen sollte, ihre Forschungen Ende letzten Jahres noch einmal intensiviert hatte, lag laut den israelischen Erkenntnissen an der begrenzten Wirkung der iranischen Raketenangriffe auf Israel und der Schwächung der Luftabwehr durch israelische Gegenangriffe im Oktober 2024. Darüber hinaus stand die Islamische Republik vor dem Zusammenbruch ihrer Stellvertreter, der Hamas im Gazastreifen und der Hisbollah im Libanon, was den Wunsch nach Atomwaffenkapazitäten in Teheran weiter anheizte.
Angesichts dieser Erkenntnisse hätten die eingangs zitierten Meldungen – statt von einer »Gewaltspirale« zu sprechen, die durch die israelischen Angriffe angeheizt würde – adäquater lauten müssen: »Irans Griff nach der Atombombe zwingt Israel zu Militärschlag«. Allerdings scheint es immer noch einfacher und beliebter zu sein, zumindest eine Mitschuld des jüdischen Staates an der Lage im Iran sowie im Nahen Osten zu insinuieren, als sich den Mühen tiefgreifender Recherchen zu unterziehen, die ein realistisches Bild der Lage zeichnen.