In Hannah Arendts Über Palästina geht es nur am Rande um Palästina. Und dort, wo es darum geht, liegt die Autorin schwer daneben.
Glaubt man seinem Herausgeber Thomas Meyer, so ist das unlängst von Hannah Arendt (1906–1975) im Piper Verlag erschienene Buch Über Palästina nicht weniger als eine »Sensation«. Sensationell daran ist allerdings am ehesten noch der aus marketingtechnischen Gründen sicherlich gut gewählte Titel. Inhaltlich dürften Leser, die sich von der Lektüre Einsichten in Arendts Haltung zu, nun ja, »Palästina« erwarten, schwer enttäuscht werden.
Das Buch umfasst neben einem Nachwort des Herausgebers zwei, wie es auf der Titelseite heißt, »bisher unbekannte Texte erstmals auf Deutsch«. Aber, und hier beginnt schon der Etikettenschwindel, nur einer der beiden, Amerikanische Außenpolitik und Palästina aus dem Jahr 1944, stammt nachvollziehbarerweise von der Autorin selbst. Dazu später mehr.
Das Flüchtlingsproblem
Der andere, der den weitaus größeren Teil des Buches ausmacht, ist ein Bericht mit dem Titel Das Palästinensische Flüchtlingsproblem. Ein neuer Ansatz und ein Plan für eine Lösung, der 1958 von einer amerikanisch-zionistischen Organisation publiziert wurde. Hannah Arendt gehörte zwar zum insgesamt neunzehn Namen umfassenden Autorengremium; unerwähnt bleibt aber, was oder wie viel tatsächlich aus Arendts Feder stammte. Laut einer Vorbemerkung soll sie immerhin »mitgearbeitet« haben; von den wenigen namentlich ausgewiesenen Teilen des Berichts hat sie aber jedenfalls keinen geschrieben.
Aus den Ausführungen von Herausgeber Meyer kann man schließen, dass Arendt selbst die Bedeutung des Berichts und ihrer Mitwirkung daran alles andere als groß eingeschätzt haben dürfte: Üblicherweise versandte sie ihre neu erschienenen Bücher und sonstigen Texte an eine »umfangreiche Adressatenliste«; doch in diesem Fall erhielt offenbar einzig Karl Jaspers ein Exemplar zugeschickt, auf das er in einem Antwortbrief ausführlich zu sprechen kam. Abgesehen davon hat Arendt ihn offenbar völlig unerwähnt gelassen; selbst in den Briefwechseln mit in Israel lebenden Freunden findet sich kein einziger Hinweis darauf.
Zwei grundlegende Einwände
Nun ist Das Palästinensische Flüchtlingsproblem für an diesem Thema interessierte Leser eine durchaus lohnenswerte Lektüre. Insbesondere die Anhänge zu dem Bericht, die eine Vielzahl an Informationen zur Geschichte und Kontextualisierung der Flüchtlingsfrage enthalten, sind von historischem Interesse. Warum der Bericht und die darin enthaltenen Lösungsvorschläge aber für nicht hochgradig spezialisierte Leser sechsundsechzig Jahre nach seiner ursprünglichen Veröffentlichung relevant sein sollen, kann auch Herausgeber Meyer nicht wirklich begründen: »Es war noch nie klug, das Wissen und die Hoffnungen früherer Generationen zu ignorieren«, schreibt er in seinem Nachwort. Mehr ist ihm offenbar nicht eingefallen.
Eine heutige Relevanz von Das Palästinensische Flüchtlingsproblem plausibel zu machen ist allerdings zugegebenermaßen keine leichte Aufgabe. Denn bei der Lektüre drängen sich zumindest zwei große Einwände auf. Erstens war das Flüchtlingsproblem im Jahr 1958 noch vergleichsweise überschaubar: Welche Optionen auch immer damals zur Überwindung des Problems existierten, bezog sich auf bloß rund eine Million Palästinenser, von denen vier Fünftel immer noch auf dem Territorium des ehemaligen Mandatsgebiets Palästina lebten – nicht in Israel, aber eben im Gazastreifen und im Westjordanland.
Mehr als sechs Jahrzehnte später sind bei der UNRWA, dem eigens Palästinensern vorbehaltenen Hilfswerks der Vereinten Nationen, aber bereits rund sechs Millionen palästinensische Flüchtlinge registriert, Tendenz stark steigend. Das Problem hat sich im Laufe der Jahre vervielfacht, was einige der präsentierten Bestandteile einer umfassenden Lösung nicht unbeeinträchtigt lassen kann.
Dabei ist zuallererst selbstverständlich an etwaige palästinensische »Rückkehrer« nach Israel zu denken: Im Jahr 1958 bemühten sich die Autoren des Berichts, wirtschaftliche und Sicherheitsbedenken Israels über »Rückkehrer« zu zerstreuen, doch insbesondere Letztere sind im Laufe der Zeit nicht kleiner, sondern deutlich größer geworden.
Der zweite Einwand gegen Das Palästinensische Flüchtlingsproblem ist dagegen viel grundlegender: Die vorgeschlagenen Lösungen sind alle nicht unplausibel und selbstverständlich wird eine Überwindung des Problems eine Mixtur der Optionen beinhalten müssen, die in dem Bericht angeführt wurden. Aber wären die beteiligten Akteure, darunter nicht zuletzt die arabischen Staaten, bereit gewesen, konstruktiv an seiner Lösung mitzuwirken, wie der Bericht es voraussetzte, hätte es das Flüchtlingsproblem schon im Jahr 1958 nicht mehr gegeben.
Die Haltung einiger arabischer Staaten zu Israel hat sich seitdem verändert: Ägypten und Jordanien haben Friedensverträge mit dem jüdischen Staat unterzeichnet; die Abraham-Abkommen ein neues Kapitel im Verhältnis einiger anderer arabischer Staaten aufgeschlagen. Auf die Überwindung des palästinensischen Flüchtlingsproblems hat das allerdings noch keine Auswirkungen gehabt – und die Palästinenser halten, darin bestärkt durch die UNRWA, unbeirrt daran fest, ein »uneingeschränktes Recht auf Rückkehr« zu haben. Daran konnten noch so viele »realistische« Lösungsvorschläge nichts ändern.
Und »Palästina«?
Mit Arendts Position zu »Palästina« haben die Erörterungen des Flüchtlingsproblems jedenfalls, wenn überhaupt, nur am Rande zu tun. Aber auch der eindeutig von Arendt stammende, gerade einmal fünfzehn Seiten lange Text Amerikanische Außenpolitik und Palästina aus dem Jahr 1944 ist diesbezüglich eine Enttäuschung. Denn anders als der Titel es nahelegt, geht es auch darin eigentlich gar nicht um »Palästina«, sondern eben um amerikanische Außenpolitik.
Arendt versucht sich darin für eine »republikanische« Außenpolitik der USA starkzumachen, im Grunde eine werteorientierte Außenpolitik, die sich von der Realpolitik europäischer Mächte (vor allem Großbritanniens) unterscheiden müsse, und bezieht sich in diesem Zusammenhang auf die Beziehungen der USA zu den arabischen Staaten. Ausgangspunkt ihrer Überlegungen ist zwar eine (letztlich gescheiterte) Resolution im US-Kongress, die sich für die Errichtung eines jüdischen Staates mit Unterstützung der USA aussprach, aber »Palästina« spielt in dem Text nur eine höchst ungeordnete Rolle.
Und die wenigen Passagen, in denen Arendt auf die dortige Situation zu sprechen kam, gehören zu den fragwürdigsten des knappen Beitrags. So schrieb sie:
»Der arabisch-jüdische Konflikt kann und wird sich lösen lassen innerhalb des Rahmens einer freundschaftlichen Kooperation aller Mittelmeervölker, die um ihrer politischen Unabhängigkeit und freien ökonomischen Entwicklung willen ohnehin auf gute nachbarschaftliche Verhältnisse und vielleicht sogar auf eine Föderation angewiesen sein werden.«
Man braucht nicht erst das Wissen um die Geschichte des Jahrzehnte andauernden arabisch/palästinensisch-israelischen Konflikts nach dem Zweiten Weltkrieg, um zu erkennen, wie falsch Arendts Einschätzung war, sofern sie darin nicht bloß abstrakt die Voraussetzung für eine Bewältigung des Konflikts anführen wollte, sondern ihre konkrete Erwartung zum Ausdruck brachte. Auch damals schon gab es viele, die solche Vorstellungen für hoffnungslos naiv hielten und wussten, wie wenig sie mit der Lage vor Ort zu tun hatten.
Arendt, Hannah: Über Palästina. Heruasgegeben von Thomas Meyer, München 2024.