Latest News

Der ESC und der Hang zu Verschwörungstheorien

Wütende Demonstraten mit palästinensischen Flaggen bestürmen den Wagen mit der israelischen Delegation beim ESC in Basel. (© imago images/Manuel Stefan)
Wütende Demonstraten mit palästinensischen Flaggen bestürmen den Wagen mit der israelischen Delegation beim ESC in Basel. (© imago images/Manuel Stefan)

Ausgerechnet jene Länder, die eine politische Kampagne gegen Israel führen, werfen diesem vor, den »kulturellen Charakter« des ESC zu gefährden.

Immer wieder finden sich Antisemiten, pardon, »Israel-Kritiker«, mit Vorgängen konfrontiert, die es ihren Vorstellungen zufolge nicht geben dürfte. Da rationale Erklärungen sie zwingen würden, ihre Ideologie infrage zu stellen, suchen sie nach anderen Erklärungen für das ihnen Unverständliche. Mit traumwandlerischer Sicherheit landen sie sodann bei Verschwörungsfantasien über finstere Machenschaften der Juden bzw. der Israelis.

Vor einigen Jahren konnten beispielsweise die beiden amerikanischen Politikwissenschaftler John J. Mearsheimer und Stephen L. Walt auf Basis ihres Verständnisses internationaler Politik keine Gründe dafür finden, warum die amerikanische Politik trotz kleinerer Unterschiede über alle Präsidentschaften hinweg stets solidarisch zu Israel steht.

Anstatt jedoch Zweifel an den vermeintlichen Wahrheiten der von ihnen vertretenen »realistischen« Schule der Theorie internationaler Beziehungen zu bekommen, fanden sie eine andere Lösung: Sie entdeckten das Wirken einer hinter den Kulissen agierenden, mächtigen »Israel-Lobby«, so auch der Titel ihres Buches aus dem Jahr 2007, welche die amerikanische Politik in der Hand habe und dafür verantwortlich sei, dass die USA eine Politik verträten, die ihren »eigentlichen« nationalen Interessen widerspreche. Rationale Erklärungen einer besonderen Beziehung zweier Staaten ersetzten Mearsheimer/Walt durch eine Verschwörungsfantasie.

(Einer der beiden Autoren, John Mearsheimer, ist heute übrigens ein vehementer Verteidiger von Wladimir Putins  Krieg gegen die Ukraine, macht den Westen für das Blutvergießen verantwortlich und bekannte unlängst in der Neuen Zürcher Zeitung sogar: »Ich hätte dasselbe getan wie Putin. Ich hätte die Ukraine sogar noch früher überfallen.« Zufall ist das nicht: Israelfeindschaft und Putin-Verstehertum gehen oft Hand in Hand.)

Verschwörung beim ESC

Genau das Muster ist aktuell in den Debatten nach dem diesjährigen Finale des Eurovision Song Contests zu beobachten. Politiker, Rundfunkstationen und Künstler in Ländern wie Spanien, Irland oder Belgien können nicht akzeptieren, dass ihre eigenen ESC-Beiträge durch teils blamable Erfolgslosigkeit glänzten, Israel im Gegensatz dazu aber Platz zwei in diesem Wettbewerb belegte. Und mehr noch: Der Song der Überlebenden des 7. Oktobers, Yuval Raphael, gewann mit großem Vorsprung die Publikumswertung und wurde dadurch auf den zweiten Spitzenplatz katapultiert.

»Israel-Kritiker« wie der spanische Premier Pedro Sánchez konnten sich nicht damit abfinden, dass ein großer Teil des Publikums seine Stimme an Israel vergeben hatte, und da nicht sein kann, was nicht sein darf, witterten sie sofort finstere Machenschaften: Irgendwie muss es Israel gelungen sein, das Publikums-Voting manipuliert zu haben.

So erklärte der spanische Sender RTVE, er werde einen Antrag auf Überprüfung des Televotings einbringen, da er der Ansicht sei, »dass das Televoting durch die aktuellen militärischen Konflikte beeinflusst wurde und dies den kulturellen Charakter der Veranstaltung gefährden könnte«. Etliche Stimmen fordern erneut den Ausschluss Israels vom ESC, wie sie es schon anlässlich der letztjährigen Austragung des Wettbewerbs getan hatten.

Da sie sich einfach nicht vorstellen können, dass eine Mehrheit des Publikums nicht nur ihre eigene Israelfeindschaft nicht teilt, sondern womöglich sogar aus Mitgefühl mit einem Opfer des Hamas-Massakers, das in seinem Song seine schrecklichen Erlebnisse verarbeitet, ihre Stimmen gegeben hat, muss hier eine großangelegte, verschwörerische Manipulation stattgefunden haben!

Keinerlei Selbstreflektion

Dass es für diesen Vorwurf keinerlei Belege gibt, kann ihm nichts anhaben, denn um Fakten geht es bei Verschwörungsfantasien nie, sie dienen höchsten als Ausgangspunkt für die unternommenen Spintisierereien. Charakteristisch für diese Art des Denkens ist auch der völlige Mangel an Selbstreflektion, der dazu führt, dass sich die Vorwürfe angesichts des eigenen Verhaltens als klassische Projektionen erweisen.

Um beim Beispiel des ESC zu bleiben: Wie erwähnt, forderten auch schon im letzten Jahr Politiker, Rundfunkstationen und Künstler im Vorfeld den Ausschluss Israels vom Wettbewerb. In Malmö im vergangenen wie in Basel in diesem Jahr zogen wütende, israelfeindliche Demonstranten durch die Straßen. Letztes Jahr wurde das Hotel der israelischen Teilnehmerin Eden Golan von Israelhassern belagert; in Basel drohten Demonstranten der diesjährigen israelischen Teilnehmerin – noch einmal sei es gesagt: einer Überlebenden des Hamas-Massakers – mit eindeutigen Gesten, ihr die Kehle durchschneiden zu wollen.

Während der Wettbewerbe wurden die israelischen Auftritte von teils lautstarken Buh-Rufen übertönt; in Basel konnten zwei Israelhasser gerade noch daran gehindert werden, Yuval Raphael auf der Bühne mit Farbbeuteln zu attackieren. Andere ESC-Teilnehmer, darunter der letztjährige Gewinner Nemo, betrieben regelrechtes Mobbing gegen die israelische Kollegin. Der spanische Fernsehsender brach die ESC-Regeln, als er vor Raphaels Auftritt eine israelfeindliche Einblendung machte.

All das hatte nichts mit künstlerischen oder kulturellen Kriterien zu tun, sondern war einzig und allein politisch motiviert: Der Staat Israel, den man zum internationalen Paria machen will, soll zum Schweigen gebracht werden.

Trotzdem entblödete sich das spanische RTVE nicht, den Ausschluss Israels zu fordern, weil dessen Teilnahme ausgerechnet den »kulturellen Charakter der Veranstaltung gefährden« würde. Sie, die seit zwei Jahren eine politische Kampagne gegen Israel führen und das Land aus ausschließlich politischen Gründen canceln wollen, erfinden eine israelische Verschwörung bzw. Manipulation und schwingen sich zu Verteidigern des »kulturellen Charakter« des ESC auf, gegen den Israel verstoße.

Ein besseres Beispiel für den projektiven Kern antisemitischer bzw. israelfeindlicher Verschwörungsfantasien lässt sich kaum ausdenken.

Bleiben Sie informiert!
Mit unserem wöchentlichen Newsletter erhalten Sie alle aktuellen Analysen und Kommentare unserer Experten und Autoren.

Zeigen Sie bitte Ihre Wertschätzung. Spenden Sie jetzt mit Bank oder Kreditkarte oder direkt über Ihren PayPal Account. 

Mehr zu den Themen

Das könnte Sie auch interessieren

Wir reden Tachles!

Abonnieren Sie unseren Newsletter und erhalten Sie alle aktuellen Analysen und Kommentare unserer Experten und Autoren!

Nur einmal wöchentlich. Versprochen!