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Erdogans Machtkampf: Vom autoritären Politiker zum Autokraten

Nach Imamoglus Verhaftung: Proteste gegen Erdogans immer autokratischeren Vorgehen Erdogan
Nach Imamoglus Verhaftung: Proteste gegen Erdogans immer autokratischeren Vorgehen Erdogan (Imago Images / ZUMA Press Wire)

Istanbuls Bürgermeister Ekrem Imamoglu wollte den türkischen Langzeitpräsidenten Erdogan bei den kommenden Wahlen herausfordern. Doch jetzt sitzt er im Gefängnis. 

Am 19. März wurde der Istanbuler Bürgermeister in einer Blitzaktion in seinem Haus festgenommen. Die Vorwürfe gegen Ekrem Imamoglu wiegen schwer: Er wird der Korruption verdächtigt, soll Bestechungsgelder angenommen und eine Terrororganisation unterstützt haben – Anschuldigungen, die von Imamoglu vehement bestritten werden. Mittlerweile wurde auch sein Rechtsanwalt unter dem Vorwurf der »Geldwäsche von Vermögenswerten aus einer Straftat« inhaftiert, kurz darauf aber unter Auflagen wieder freigelassen.

Die Opposition wirft der Regierung vor, Imamoglus Verhaftung sei politisch motiviert, was diese wiederum in Abrede stellte und betonte, die Justiz arbeite unabhängig. Doch während der zwei Jahrzehnte seiner Präsidentschaft hat Erdogan seinen Einfluss auf die Medien und die Justiz ständig ausgeweitet. 

Erdogans Nemesis

Als Ekrem Imamoglu im März 2019 zum Bürgermeister der größten Stadt der Türkei gewählt wurde, war dies ein schwerer Schlag für Recep Tayyip Erdogan. Dessen Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) hatte Istanbul ein Vierteljahrhundert lang regiert. Verzweifelt bemüht, die Wahlniederlage ungeschehen zu machen, bestand Erdogan darauf, die Ergebnisse der Kommunalwahlen in der 16-Millionen-Stadt wegen angeblicher Unregelmäßigkeiten für ungültig zu erklären. Die Anfechtung ging durch und führte zu einer Wiederholung der Wahl einige Monate später, die ebenfalls zugunsten Imamoglus ausfiel.

Bei den Kommunalwahlen im vergangenen Jahr konnte sich Imamoglus Republikanische Volkspartei (CHP) erneut gegenüber Erdogans Regierungspartei durchsetzen. Der 54-Jährige wurde in seinem Amt als Bürgermeister von Istanbul bestätigt. Aber nicht nur in Istanbul musste die AKP eine Wahlniederlage einstecken, sie verlor sogar landesweit ihre Mehrheit an die oppositionelle CHP. Dass Erdogan nun seinen größten politischen Gegner festnehmen ließ, zeigt seine Bereitschaft, notfalls auch als Autokrat die Türkei weiter zu regieren. Doch es gibt Widerstand.

Landesweiter Protest

Die jetzige Verhaftung des beliebten Politikers löste die größten Massenproteste in der Türkei seit über zehn Jahren aus. Nicht nur in Istanbul, auch in der Hauptstadt Ankara und der ägäischen Hafenstadt Izmir gingen Hunderttausende trotz Demonstrationsverbots auf die Straßen. Sicherheitskräfte setzten Wasserwerfer und Tränengas ein, um die Proteste aufzulösen. Über 1.800 Demonstranten und mindestens ein Dutzend Journalisten wurden verhaftet, darunter der BBC-Reporter Mark Lowen, der des Landes verwiesen wurde. 

Die Reaktion der Regierung auf die Massenproteste läuft nach demselben Muster wie bei den Gezi-Protesten im Jahr 2013 ab: Ursprünglich als kleine Demonstration gegen ein Bauprojekt im Gezi-Park in Istanbul gestartet, weitete sie sich zu Massenprotesten aus, die sich gegen die autoritäre Politik Erdogans und die zunehmende Einschränkung der Meinungsfreiheit richteten. Die Polizei ging brutal gegen die Demonstranten vor und setzt Wasserwerfer, Tränengas und Gummigeschosse ein. Elf Menschen starben, Tausende wurden verletzt. Erdogan bezeichnete die legitimen Proteste damals als »Umsturzversuch«.

All das scheint sich jetzt zu wiederholen. Präsident Erdogan versucht den Widerstand gegen seine autoritäre Politik zu verunglimpfen, indem er die Proteste als »Straßenterror« bezeichnet und die Demonstranten beschuldigt, Polizisten mit Säure und Äxten zu attackieren. Auch die bei vielen AKP-Anhängern so wirkungsvolle Islam-Karte wurde ausgespielt, als der AKP-Gouverneur von Istanbul auf X behauptete, Demonstranten hätten die Sehzade-Moschee im Zentrum der Stadt beschädigt.

Einen gravierenden Unterschied gibt es aber: Entzündete sich der Unmut der Bevölkerung 2013 an einem von Erdogan initiierten Bauprojekt, hat er jetzt seinen größten politischen Gegner inhaftieren lassen. Ganz offensichtlich vollzog er in diesen zwölf Jahren den Schritt vom Politiker mit autoritären Zügen zu einem handfesten Autokraten.

Hürden für die Wahl 2028

Während Ekrem Imamoglu im Marmara-Hochsicherheitsgefängnis westlich von Istanbul, in dem besonders viele politische Gefangene einsitzen, festgehalten wird, hielt die CHP am vergangenen Sonntag eine Vorwahl ab. Laut Özgür Özel, Vorsitzender der CHP, gaben über dreizehn Millionen Nicht-Parteimitglieder ihre Stimme über sogenannte Solidaritätswahlboxen ab, um ihre Unterstützung für den Istanbuler Bürgermeister zu bekunden. Etwa 1,5 Millionen Parteimitglieder hätten für Imamoglu als Präsidentschaftskandidat der Partei für die Wahlen im Jahr 2028 gestimmt.

Dieses Ergebnis zeigt, wie gefährlich Imamoglu Erdogan werden könnte; allerdings kann bis dahin noch viel passieren. Ob Imamoglu überhaupt zu den Wahlen wird antreten können, ist mehr als ungewiss. Sollte ein Gericht die gegen ihn vorgebrachten Vorwürfe bestätigen und ihn verurteilen, wäre er von den Wahlen ausgeschlossen.

Aber auch von anderer Seite droht dem Politiker Gefahr: Laut Al-Monitor wurde ihm einen Tag vor seiner Verhaftung von der Universität Istanbul sein Hochschulabschluss aberkannt. Die Universitätsleitung begründete dies mit Unregelmäßigkeiten bei seinem Wechsel von einer türkisch-zypriotischen Universität an die School of Business Administration im Jahr 1990. Ein gültiger Hochschulabschluss ist jedoch verfassungsmäßige Voraussetzung für Präsidentschaftskandidaten in der Türkei.

Allerdings ist auch Erdogans Abschluss seit Jahren ein umstrittenes Thema. Seinen eigenen Angaben zufolge habe er 1981 einen Abschluss an der Istanbuler Marmara-Universität erworben, doch wie die Deutsche Welle berichtete, erhielt sie erst im Jahr 1982 ihren jetzigen Status als Universität. Offiziell dürfte Erdogan bei den Wahlen 2028 ohnehin nicht mehr antreten, da er das von der Verfassung festgesetzte Limit von zwei Amtszeiten bereits erreicht hat. Dennoch gibt es für den 71-Jährigen Möglichkeiten, sich eine weitere Amtszeit zu sichern, nämlich vorgezogene Neuwahlen oder eine Verfassungsänderung. 

Für beides benötigt der Präsident aber entsprechende Mehrheiten und deshalb Verbündete über seine Partei und die Regierungskoalition hinaus, wie die Türkei-Expertin Çiğdem Akyol im Interview mit NTV erklärte. Dies sei auch der Grund, weshalb die türkische Regierung den Kurden seit Wochen Zugeständnisse mache und es Friedensgespräche mit Abdullah Öcalan, dem inhaftierten früheren PKK-Chef, geben soll.

EU braucht Erdogan

Dieser historische Friedensschluss zwischen der Regierung und den Kurden ist durch die Imamoglu-Affäre nun gefährdet. Zwar verurteilten die Kurden die Verhaftung des Bürgermeisters und leisteten moralische Unterstützung, indem sie sich mit CHP-Vorsitzenden Özel trafen. Allerdings riefen pro-kurdische Parteien ihre Anhänger nicht auf, sich der Opposition anzuschließen, so, wie sie es auch 2013 nicht taten.

Aus Europa kommen durchaus vereinzelte Stimmen, welche die Verhaftung Imamoglus als antidemokratisch kritisieren. So nannte Deutschland die Inhaftierung des Bürgermeisters »völlig inakzeptabel« und erklärte, es verfolge die Entwicklungen mit »großer Sorge«. Insgesamt hält sich die Kritik aber in Grenzen. Grund für die Zurückhaltung in Brüssel ist die neue weltpolitische Lage. Nachdem klar wurde, dass auf die USA kein Verlass mehr ist, zielen die Europäer darauf ab, den Kreis der Bündnispartner zu erweitern. 

Erdogans Türkei, die über die zweitgrößte Arme innerhalb der NATO verfügt, bekommt dabei eine besondere Bedeutung. Nicht zuletzt, weil Ankara bei der Sicherung einer möglichen Waffenruhe in der Ukraine eine wichtige Rolle spielen könnte und Erdogan schon seine Bereitschaft signalisiert hat, sich mit türkischen Truppen zu beteiligen. Nicht zuletzt verfügt die Türkei über eine moderne Rüstungsindustrie und bietet sich daher beim europäischen Projekt der Aufrüstung als potenzieller Lieferant von Hightech-Waffen an. 

Das alles weiß Erdogan natürlich und setzt darauf, dass Brüssel ihm den neuen Tabubruch durchgehen lässt – und die Karten stehen gut für ihn.

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