Die Billigung der jahrelangen Praxis der illegalen, weil nicht erdbebengeschützten Bauten, fällt dem türkischen Präsidenten nun per Massenklagen auf den Kopf.
Dass eine Naturgewalt zum mächtigsten Feind des türkischen Präsidenten – noch dazu knapp vor der entscheidenden Präsidentschaftswahl – werden könnte und ihn möglicherweise um sein Amt bringt, damit hat niemand gerechnet.
Wie türkische Medien berichten, sahen sich mittlerweile über sechzig Anwälte durch die Abertausenden von Toten und Verletzten, die 1,5 Millionen Obdachlosen und die um ihre Existenz gebrachten Menschen in der Türkei dazu veranlasst, den Präsidenten, Minister und Gouverneure, aber auch Bauunternehmer mit Klagen »wegen fahrlässiger Tötung und Amtsmissbrauch«, einzudecken – sehen sie doch die Schuld für die katastrophalen Folgen des gewaltigen Erdbebens und seiner Nachbeben bei der Regierung, den politisch Verantwortlichen und der Bauwirtschaft.
»Als Juristen dieses Staates können wir unsere Augen nicht vor so einer Ungerechtigkeit verschließen«, sagte eine von ihnen, die Anwältin Pinar Akbina Karaman.
Misswirtschaft und Korruption
Laut den türkischen Behörden ist fast eine Million Gebäude schwer beschädigt, an die 120.000 davon so stark, dass sie abgerissen werden müssen. Nicht nur die klagenden Anwälte sind davon überzeugt, dass die Folgen der Erdbeben – fast täglich kommt es in der ganzen Region zu Nachbeben, und ein Ende ist laut Experten nicht absehbar – geringer ausgefallen wären, hätten Bauunternehmer und die zuständigen Behörden in den letzten Jahren für die Einhaltung der Baubestimmungen in Sachen Erdbebensicherheit gesorgt.
Doch Korruption, Misswirtschaft und die Verwendung billiger Baumaterialien haben im ganzen Land dazu geführt, dass instabile und erdbebengefährdete Wohnungsbauten errichtet wurden, was die politische Opposition dem Präsidenten nun zum Vorwurf macht.
Die Antwort Erdogans kam prompt, wie die Nachrichtenagentur APA berichtet: Nicht die Regierung, sondern das »Ausmaß der Katastrophe« habe Schuld an den Folgen. Erdogan wies auch die landesweite Kritik an seinem Krisenmanagement zurück, obwohl offensichtlich ist, dass die Hilfe für die betroffene Bevölkerung viel zu spät – und vor allem unzureichend – angelaufen ist.
Die holprige Rechtfertigung, die Erdogan öffentlich verkündete, wurde von vielen denn auch postwendend zurückgewiesen. So meinte der Bürgermeister von Istanbul, Ekrem Imamoglu, in einem Interview mit dem Nachrichtenmagazin Der Spiegel, »was wir hier sehen, haben wir selbst verursacht. Wir haben unsere Särge mit unseren eigenen Händen gezimmert. … Wir haben das leider als Gesellschaft und als Verwaltung insgesamt zu verantworten«.
Imamoglu, der selbst aus dem Baugewerbe stammt, verweist auch auf die jahrelange Praxis der sogenannten Amnestiegesetze, die dazu geführt hat, dass nachträglich Gebäude, die illegal errichtet wurden, legalisiert wurden, und dass in vollem Bewusstsein der Unzulänglichkeit billige und unzureichende Baumaterialen verwendet wurden.
Völlig überfordert
Auch Louisa Vinton, Vertreterin des UNO-Entwicklungsprogramms (UNDP) in der Türkei, kritisierte am Dienstag die Lage: »Die Berge an Schutt und Geröll sind beispiellos.« Das UNDP schätzt laut internationalen Medien den Umfang von Schutt und Asche auf zwischen 116 und 210 Millionen Tonnen. Es ist völlig unklar, wie diese Mengen entfernt bzw. gelagert werden sollen.
Hinzu kommt, dass die türkische Katastrophenschutzbehörde AFAD völlig überfordert ist. Das Beben war nach Angaben der Vereinten Nationen nicht nur nach Todesopfern das schlimmste in der türkischen Geschichte.
Kritik kommt auch vom Bürgermeister der Gemeinde Samandag, Refik Eryilmaz, der am Dienstag auf YouTube der AFAD logistische Fehler vorwarf, da es nicht nur zu wenige und ungeeignete Zelte gebe, sondern auch viel zu wenige sanitäre Einrichtungen. Schon jetzt wird befürchtet, dass es aufgrund der katastrophalen Zustände, unter denen die nun obdachlosen Menschen leiden, zu Seuchenausbrüchen und Krankheiten kommen könnte.