Noch bevor sich die israelische Regierung überhaupt gebildet hat, erhöht Europa den diplomatischen Druck, von Annexionen abzusehen. Dabei wird die Einseitigkeit der Europäer immer mehr zum Friedenshindernis.
Den Anfang machte der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell. „Die Position der EU bezüglich des Status der 1967 von Israel besetzten Gebiete bleibt unverändert“, erklärte er am 23. April. „Die EU erkennt die israelische Souveränität über das besetzte Westjordanland nicht an. Die Europäische Union weist erneut darauf hin, dass jede Annexion eine schwerwiegende Verletzung des Völkerrechts darstellen würde. Die Europäische Union wird die Lage und ihre weiteren Auswirkungen weiterhin genau beobachten und entsprechend handeln.“
Was nicht ganz der Wahrheit entspricht. Denn außenpolitische Beschlüsse über Standpunkte der Union werden in der Europäischen Union grundsätzlich einstimmig gefasst. Und acht der 27 EU-Länder sprachen sich gegen die Erklärung aus, darunter Österreich und Ungarn, wie die Jerusalem Post berichtete. Einer israelischen diplomatischen Quelle zufolge opponierten damit mehr EU-Länder gegen eine Erklärung zu Israel als je zuvor. Deshalb veröffentlichte Borrell das Statement nicht im Namen der Union, sondern als ihr Außenbeauftragter in seinem eigenen.
Wenige Stunden später bekam Borrell Unterstützung von Frankreichs Botschafter bei den Vereinten Nationen, Nicolas de Rivière:
„Zuallererst möchte ich angesichts der jüngsten Entwicklungen Frankreichs ernste Besorgnis über die drohende Annexion wiederholen. Frankreich hat zusammen mit seinen europäischen Partnern wiederholt vor der Annexion von Teilen des Westjordanlandes, einschließlich des Jordantals und der Siedlungen, gewarnt. Sie würde einen eklatanten Verstoß gegen das Völkerrecht darstellen, das den gewaltsamen Erwerb der besetzten Gebiete streng verbietet. Solche Schritte würden, wenn sie umgesetzt würden, nicht unangefochten bleiben und dürfen in unseren Beziehungen zu Israel nicht übersehen werden.“
In seiner kaum verklausulierten Drohung, Frankreichs Beziehungen zu Israel zu verschlechtern, übernahm de Rivière fast wortwörtlich die Formulierung von Borrell, mit der dieser im Februar den „Trump Friedensplan“ zurückgewiesen hatte: „Schritte in Richtung einer Annexion, sollten sie realisiert werden, werden nicht unangefochten durchgehen..“
Den vorläufigen Höhepunkt im Aufbau der diplomatischen Drohkulisse setzten nun elf europäische Botschafter in einer Videokonferenz am 30. April:
„Wir sind sehr besorgt über die Klausel im Koalitionsvertrag, die den Weg für die Annexion von Teilen des Westjordanlandes ebnet. Die Annexion irgendeines Teils des Westjordanlandes stellt eine klare Verletzung des Völkerrechts dar. Solche einseitigen Schritte werden den Bemühungen um eine Erneuerung des Friedensprozesses schaden und schwerwiegende Folgen für die regionale Stabilität und die Stellung Israels in der internationalen Arena haben.“
Die Botschafter von Deutschland, Frankreich, den Niederlanden, Italien, Spanien, Schweden, Belgien, Irland, Dänemark, Finnland und dem Vereinigten Königreich formulierten ihre Drohung, dass sich die Beziehungen ihrer Länder zu Israel verschlechtern würden, sollten die Pläne der (wahrscheinlichen) künftigen Regierung umgesetzt werden, etwas zurückhaltender als Borrell und de Rivière, aber genauso unmissverständlich.
Die EU als Friedenhindernis
Unmittelbarer Anlass für die diplomatischen Interventionen ist das Koalitionsabkommen zwischen Netanjahu und Gantz, das ab 1. Juli den Weg für die Annexion von Teilen der Westbank freimacht. Der Zeitpunkt der Einmischung ist insofern bemerkenswert, als sich die neue Regierung in Israel noch gar nicht gebildet hat. Um das Koalitionsabkommen umzusetzen, bedarf es noch einer Reihe von Gesetzesbeschlüssen der Knesset. Wenn die Regierung bis 7. Mai nicht steht, wählt Israel im August ein viertes Mal. Mir ist nicht in Erinnerung, dass sich Europa je zuvor in Koalitionsabkommen eines anderen Landes eingemischt hätte.
Während europäische Länder vorsorglich Druck auf Israel aufbauen, stellen sie sich gegenüber palästinensischen Ungeheuerlichkeiten blind und taub. Für Palästinenser lohnt sich der Mord an Juden nach wie vor. Neben Ruhm und Ehre winken großzügige finanzielle Zuwendungen. Allein im Januar 2020 zahlte die Palästinensische Autonomiebehörde 21 Millionen Dollar an von Israel festgehaltene Terroristen und an Familien von Terroristen, die bei Anschlägen getötet wurden.
Genau eine Woche, bevor die elf Botschafter gegen das israelische Koalitionsabkommen protestierten, priesen Palästinensische Autonomiebehörde und Fatah den „Märtyrertod“ dreier Terroristen, die an der Planung, Entführung und Ermordung von elf israelischen Athleten bei den Olympischen Spielen 1972 in München beteiligt waren. Mahmud Abbas persönlich ehrte die Mörder auf Facebook. Bereits 2019 hatte er ein Universitätsgebäude nach dem Architekten des Massakers von München benannt. Khalil Al-Wazir Abu Jihad verantwortete zwischen 1960 und 1980 eine Reihe von Terroranschlägen, bei denen 125 Israelis ums Leben kamen. Von Protestnoten des EU-Außenbeauftragten oder seiner Kollegen ist nichts bekannt, weder 2019 noch heute.
In völliger Verkennung der Realität beharren weite Teile Europas auf der Vorstellung, der Weg zu einer Zwei-Staaten-Lösung würde über immer größere Zugeständnisse Israels führen. Das Gegenteil ist der Fall. Selbst als Ehud Olmert 2008 Mahmud Abbas mehr als 100% der Westbank und die Teilung Jerusalems anbot, wurde er brüsk zurückgewiesen.
Weder die israelischen Siedlungen noch die Anerkennung Jerusalems als israelische Hauptstadt verhindern eine Zwei-Staaten-Lösung, sondern die Illusion der palästinensischen Führung, den jüdischen Staat eines Tages beseitigen zu können. Wer diese Illusion nährt, macht sich selbst zum Friedenshindernis. Dass Borrell nun wenigstens in einigen EU-Ländern auf Widerstand stieß, mag vielleicht ein kleiner Hoffnungsschimmer für eine realistischere Nahostpolitik des Kontinents sein.