Die europäischen Hoffnungen, dass es unter dem neuen US-Präsidenten zu einer raschen Rückkehr zum Atomdeal kommen könnte, werden wohl enttäuscht werden.
Erinnern Sie sich noch an Henry Kissinger, den ehemaligen Sicherheitsberater und Außenminister der USA? Seine Äußerung über das Atomabkommen mit Iran, für das sich Deutschland seit Jahren in die Bresche wirft, blieb hierzulande ungehört. „Wir sollten uns nichts vormachen“, warnte Anfang dieses Jahres der inzwischen 97-jährige.
„Ich glaube nicht, dass der Iran-Deal mit seiner zeitlichen Begrenzung und seinen vielen Schlupflöchern zu etwas anderem führen wird, als dazu, Atomwaffen in den gesamten Nahen Osten zu bringen und somit eine Situation latenter Spannungen zu schaffen, die früher oder später zum Ausbruch kommen wird.“
Kissinger malt hier die Horrorvision eines Atomkriegs im Nahen und Mittleren Osten an die Wand, der „früher oder später“ ausbrechen werde, falls an den Überresten des Atomdeals und der ihm zugrundeliegenden Dialog-Strategie festhalten wird.
Schnelle Rückkehr zum Atomdeal?
Seine überaus berechtigte Warnung zielt auf den neuen US-Präsidenten Joe Biden, der im Präsidentschaftswahlkampf erklärte, dem Atomdeal wieder beitreten zu wollen, „wenn Teheran zur Einhaltung des Abkommens zurückkehrt.“ Das Regime reagierte auf diese Geste guten Willens auf eigene Art: es forcierte seine nukleare Aufrüstung und drohte mit der Ausweisung von IAEA-Inspektoren, sollte die neue Administration die von Donald Trump verhängten Sanktionen bis Mitte Februar 2021 nicht rückgängig gemacht haben.
Immerhin ist dieser Erpressungsversuch, soviel lässt sich jetzt schon sagen, gescheitert: Eine rasche Rückkehr zum Atomabkommen wird es auch unter Biden nicht geben.
- Erstens haben sich die iranischen Verstöße gegen das Abkommen derart summiert, dass es Monate dauern würde, um die iranische Atomrüstung auf das im Atomabkommen verlangte Maß zurückzufahren.
- Zweitens braucht es eine Phase der Überprüfung: „Wir müssten zunächst bewerten, ob es stimmt, wenn sie sagen, dass sie ihren Verpflichtungen wieder nachkommen, und dann würden wir von dort aus weitersehen“, so der neue Außenminister Antony Blinken in einer Anhörung des amerikanischen Senats.
- Drittens aber versprach Blinken, dass sich die neue Administration vor einem Neubeginn von Verhandlungen mit Israel und den Golfstaaten abstimmen werde.
Doch eben das, was die USA vom Iran erwarten, dass nämlich das Land in Vorleistung geht, erwartet Teheran auch von Washington. Zugleich setzt das Regime die forcierte Herstellung von Urankomponenten, die ausschließlich militärischen Zwecken dienen, unablässig fort. Anders als von vielen erhofft, stehen somit auch nach Bidens Wahlsieg die Zeichen auf Sturm.
Welches Interesse hat Deutschland?
In Deutschland äußerte sich besonders Guido Steinberg besorgt. Der renommierte Nahost-Experte ist Mitarbeiter des hierzulande wichtigsten außenpolitischen Thinktanks, der Stiftung Wissenschaft und Politik.
„Eine Rückkehr zum Atomabkommen mit Iran in seiner früheren Form ist unwahrscheinlich“, lautet seine Prognose, die er Anfang dieses Jahres in einem Arbeitspapier der Bundesakademie für Sicherheitspolitik veröffentlichte. Vielmehr habe „der Konflikt das Potential, sich weiter zu verschärfen.“ Ursache sei „in erster Linie die iranische Expansion im Nahen Osten“. Die Islamische Republik ziele „als schiitisch-islamistische und revolutionär-antiimperialistische Macht … auf eine Revision der regionalen Machtverhältnisse.“
Steinberg hält es auch aufgrund des Machtkampfs zwischen Iran und Saudi-Arabien für unwahrscheinlich, dass Teheran den „Wunsch nach einer eigenen Bombe“ aufgibt und den USA gegenüber substanzielle Zugeständnisse macht. Auch Deutschland müsse sich deshalb „auf Krisenszenarien vorbereiten.“
Steinberg zieht aus dieser von mir geteilten Analyse einen bemerkenswerten Schluss. Es sei nötig, schreibt er in seinem Papier, „die bisherige deutsche Interessendefinition zu überdenken“ und „im Extremfall“ auch die Unterstützung von Militärschlägen in Betracht zu ziehen:
„Politiker, Diplomaten und Wissenschaftler haben in den letzten Jahren häufig argumentiert, dass es in erster Linie gelte, eine kriegerische Auseinandersetzung zwischen Iran und seinen Gegnern zu verhindern. Das noch wichtigere Interesse der Bundesrepublik sollte aber sein, eine nukleare Bewaffnung von Regionalstaaten zu verhindern.
Notwendige Konsequenz dieser Interessendefinition könnte es im Extremfall sein, auch einen Militärschlag der USA und/oder Israels gegen Iran zu unterstützten, falls dieser notwendig werden sollte, um eine nukleare Bewaffnung des Landes zu verhindern.“
Militärschlag und iranische Atombombe verhindern
Steinberg trifft hier eine wichtige Unterscheidung. Er sieht auf der einen Seite deutsche Politiker, Diplomaten und Wissenschaftler, die eher einen atomwaffenfähigen Iran als „kriegerische Auseinandersetzungen“ in Kauf nehmen wollen.
Er sieht auf der anderen Seite jene, die die iranische Bombe auf jeden Fall zu verhindern suchen und für diesen Zweck auch Militärschläge für angemessen halten. Zur letztgenannten Gruppe gehören parteiübergreifend die Israelis mitsamt ihren neuen arabischen Verbündeten. Deutschland sollte ebenfalls dazu gehören, fordert Steinberg:
„Eine deutlichere Formulierung dieses Interesses könnte auch dazu dienen, den Druck auf den Iran zu erhöhen“.
Den Druck auf Iran erhöhen – dies böte die vielleicht letzte Chance, die iranische Bombe und eine Bombardierung Iran abzuwenden.
Mit diesem Plädoyer spricht Steinberg ein zentrales Problem der von Joe Biden angestrebten neuen transatlantischen Partnerschaft an. Auf welcher Grundlage soll diese Partnerschaft im Falle Irans beruhen? Wird die EU von nun an den Druck auf Teheran gemeinsam mit den USA verstärken? Oder werden sich die USA der Dialog-Strategie Frankreichs, Großbritanniens und Deutschlands anschließen, um den Atomdeal irgendwie zu retten und Henry Kissingers Warnungen in den Wind schlagen?