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Immer mehr Frauen wehren sich gegen Zwangsheiraten

Statistiken über Zwangsehen sollten auch gegen den Strich gelesen werden. (Quelle: PickPik)
Statistiken über Zwangsehen sollten auch gegen den Strich gelesen werden. (Quelle: PickPik)

Dass immer mehr Mädchen bei Hilfseinrichtungen Schutz vor Zwangsehen suchen, ist eine gute Nachricht. Klingt paradox, ist es aber nicht.

Vor einigen Tagen war an dieser Stelle ein Beitrag über die Hilfsorganisation „Orient Express“ zu lesen, die u.a. als Beratungsstelle und Schutzeinrichtung für von Zwangsheirat bedrohte Frauen und Mädchen dient. Im Jahr 2019 wendeten sich demnach 139 Betroffene an den Verein, 16 mehr als im Jahr zuvor. Die Statistik scheint auf den ersten Blick also zu belegen, was in der Überschrift des Beitrags zu lesen war: „Wien: Immer mehr Mädchen von Zwangsheirat bedroht“. Doch lohnt ein zweiter Blick, um die Geschichte gewissermaßen gegen den Strich zu lesen.

Betroffene würden den Weg zum Verein über das Jugendamt, die Polizei oder den Frauen-Notruf finden, darüber führen die Mitarbeiter die steigende Zahl an Schutzsuchenden aber auch darauf zurück, dass „wir immer mehr Klientinnen durch unsere Aufklärungsarbeit erreichen“. Und dieser Punkt verdient unsere Aufmerksamkeit, handelt es sich dabei doch um eine durchaus positive Entwicklung, die seit Jahren von Organisationen, die sich gegen Gewalt gegen Frauen und Mädchen engagieren, auch an anderen Orten beschrieben wird.

Anders als noch vor zehn oder fünfzehn Jahren wenden sich, ob im Nahen Osten oder Europa, immer mehr Betroffene an Schutzeinrichtungen. Das hätten sie früher so nicht getan, oft nicht einmal tun können, weil es entsprechende Einrichtungen gar nicht gab, oder Unwissen und Scham sie davon abhielten.

Konzentriert man sich nur auf die Statistik, läuft man Gefahr, diese Entwicklung zu übersehen und den Eindruck zu verfestigen, dass in Familien mit islamischem Hintergrund die Gewalt kontinuierlich zunehme und alles nur schlimmer werde: mehr Zwangsehen, mehr Ehrenmorde, mehr Genitalverstümmelungen.

Beispiel Genitalverstümmelung

Ich kenne dieses Dilemma nur zu gut aus eigener, langjähriger Erfahrung. Bevor zum Beispiel vor fünfzehn Jahren Wadi, die Organisation für die ich arbeite, zum ersten Mal publik machte, dass es weibliche Genitalverstümmelung auch im Nordirak gebe, wusste niemand davon. Plötzlich kamen dann Schlagzeilen, dass bis zu 70% aller Frauen in Irakisch-Kurdistan betroffen seien.

Oft war damals zu hören, dass der rasante Anstieg der Zahlen zeige, wie die Islamisierung im Nahen Osten gnadenlos voranschreite. In Wirklichkeit aber war das Gegenteil der Fall: Weil in Irakisch-Kurdistan einigermaßen freie Verhältnisse herrschten und Frauenorganisationen erstmal ohne Todesangst über solche Praktiken sprechen konnten, wurde überhaupt erst das Ausmaß des Problems bekannt, dass es ja seit Hunderten von Jahren gibt.

Gewalt gegen Frauen

Ganz ähnlich verhielt es sich mit so genannten Ehrenmorden und Zwangsehen, die unter dem angeblich säkularen Regime Saddam Husseins seit 1990 sogar durch den berüchtigten Paragraphen 111 des Strafgesetzbuches legalisiert wurden und erst seit 2000 in den kurdischen Selbstverwaltungsgebieten unter Strafe stehen. Lange Zeit existierten nicht einmal Stellen, an die sich betroffene Frauen wenden konnten, erste Frauenschutzhäuser in der Region öffneten erst in den späten 90er Jahren. Deshalb liegen aus dieser Zeit auch keinerlei wirklich belastbare Zahlen oder gar vertrauenswürdige Statistiken vor.

Wenn heute Fälle von häuslicher Gewalt – wenn auch immer noch unzureichend – dokumentiert und manchmal halbherzig strafrechtlich verfolgt werden, ist das als Fortschritt zu werten. Auch wurde mittlerweile eine eigene Behörde eingerichtet, das „Department of Combating Violence Against Women“ (DCVW), und die kurdische Regionalregierung initiiert jährlich Kampagnen gegen Gewalt. Erst vor wenigen Tagen gab der Leiter des DCVW, Kurdo Omer Abdullah, während einer Veranstaltung bekannt, dass in den letzten Jahren die Zahl registrierter Ehrtötungen in der Region erstmalig zurückgegangen sei.

Dies sind nur zwei Beispiele für eine Entwicklung, die überall im Nahen Osten und in Nordafrika stattfindet und auch auf Europa Auswirkungen hat: Immer mehr Frauen und Mädchen wehren sich, die ihnen von Tradition und konservativen religiösen Autoritäten zugedachten Rollen zu übernehmen – und suchen in Konfliktfällen Hilfe. Deshalb werden solche Fälle überhaupt auch bekannt, denn solange die Betroffenen ihre Qualen nur still erdulden, dringen Informationen über ihr Schicksal nicht an die Öffentlichkeit und tauchen entsprechend in keiner Statistik auf.

Solange sie sich nicht zur Wehr setzen, müssen sie tägliche Misshandlungen ertragen, verletzen mit ihrem Verhalten aber nicht die sogenannte Familienehre. Sobald aber in einer Gesellschaft Ehrtötungen zum öffentlichen Thema werden, ist klar, dass immer mehr Frauen unterdrückerische Traditionen nicht weiter zu akzeptieren bereit sind.

Hilfe suchen und finden

Die Meldung über die wachsende Zahl von Frauen und Mädchen, die sich an den Verein „Orient Express“ und ähnliche Einrichtungen wenden, hätte besser die Überschrift tragen sollen: „Immer mehr Mädchen wehren sich gegen Zwangsheirat“.

Denn wie inzwischen sogar wissenschaftlich nachgewiesen wurde, werden immer mehr Artikel gar nicht mehr ganz gelesen und oft nur noch wegen Überschrift und erstem Absatz in sozialen Medien geteilt. Dabei geht es in der Regel dann weniger um Erkenntnisgewinn, Aufklärung oder Debatte, sondern man will eine Meinung oder einen Standpunkt, der eh schon verfestigt ist, einfach nur bestärken und dafür möglichst viel Zustimmung aus dem virtuellen Freundeskreis erhalten.

Mit der anderen Überschrift wäre die Aufmerksamkeit darauf gelenkt worden, dass es sich bei diesen Mädchen nicht nur um arme Opfer einer fortschreitenden Islamisierung handelt, und sich die Situation nicht nur verschlechtert, sondern dass immer mehr Mädchen schon in jungen Jahren den großen Mut aufbringen, sich gegen das ihnen von ihrer Familie zugedachte Schicksal zu wehren. Und je mehr sich melden und den Schutz von Hilfseinrichtungen in Anspruch nehmen, umso mehr befördern sie damit weiteren Veränderungen. Das zeigen auch die kleinen Beispiele, die ich aus dem Irak angeführt habe.

Jeder, der von Spenden abhängig ist, weiß: Meldungen darüber, dass alles nur schlimmer werde, sind besser dazu geeignet, die notwendige Unterstützung zu generieren. Berichtet man dagegen von positiven Entwicklungen und zeigt auf, dass sich durchaus etwas verändert, steht zu befürchten, dass dringend benötigte Gelder gestrichen werden. Dies ist gerade der Beratungsstelle Papayata in Berlin passiert.

Das ist so falsch wie tragisch, denn eigentlich müsste es in Wien und anderswo viel mehr solcher Einrichtungen und Hilfsangebote geben. Denn selbstverständlich finden in die Statistiken nur die dokumentierten Fälle Eingang, die Dunkelziffer dürfte wesentlich höher liegen. Denn noch, so muss man annehmen, haben viele betroffene Mädchen entweder nicht die Möglichkeit oder den Mut, diesen Schritt zu setzen, der meist zum Ausschluss aus Familie und Verwandtschaft führt und mit einem hohen persönlichen Preis bezahlt werden muss.

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