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„Ein Krieg, der keiner ist“

Bustsation mit Bunker in Sderot
Bustsation mit Bunker in Sderot (© Imago Images / UPI Photos)

Permanent gehen Raketen und Mörsergranaten auf die israelische Stadt Sderot am Rand des Gazastreifens nieder. Dort ist derzeit die Filmemacherin Ilona Rothin (u.a. bekannt für die Filme „Gestatten, ich bin ein Siedler!“ und „Holocaust light gibt es nicht!“). Am Mittwochnachmittag schilderte sie in einem Telefongespräch gegenüber Mena-Watch ihre Eindrücke.

300 Raketenangriffe habe es in den letzten drei Tagen gegeben, sagt Ilona Rothin. „Es ist ein Dauerfeuer. Vor 30 Sekunden ging wieder die Red-Alert-App auf unseren Handys los, die vor einschlagenden Raketen warnt. Vor zehn Minuten gab es in dem Kibbuz Nir Am bei Sderot, wo ich übernachtet habe, Raketeneinschläge. Die Straßen sind leergefegt, Kindergärten und Schulen sind geschlossen, nicht nur in Sderot, sondern auch entlang der Mittelmeerküste, in Aschkelon und Aschdod.“ Die Raketenangriffe der Hamas erfolgten in sehr kurzen Abständen.

Gestern habe sie ein Auto geliehen, bei einem Autoverleih in Sderots Industriegebiet. Weil das Auto nichts getaugt habe, habe sie ein zweites Mal hinfahren müssen, zum Umtausch. „Gerade, als wir aus dem Industriegebiet wieder raus waren und auf der Straße nach Tel Aviv fuhren, schlug auf der Straße, auf der wir gefahren waren, eine Granate ein.“

Eine Klinik, über die in Deutschland niemand schreibt

Wer könne, der verlasse Sderot. „Eine Freundin von mir, die in Nir Am lebt, hatte Besuch von Freunden. Die sind alle abgereist. Die Stimmung ist sehr gespannt, die Leute sind tierisch genervt, weil die Regierung nichts tut.“

Rothin erzählt von einer neuen Klinik in Sderot – über sie schreibe in Deutschland „kein Mensch“. In der Klinik gebe es eine Spezialabteilung für traumatisierte Kinder. Die werde dringend gebraucht: „Der Raketenalarm geht einem so auf die Nerven, es ist wie in einem Kriegsfilm. Die Sirenen sind heute elektronisch und klingen etwas anders als im Zweiten Weltkrieg, aber es nervt.“ Ihre Freundin aus Nir Am sei gestern während des Alarms auf dem Nachhauseweg gewesen: „Der Hund lief weg, wegen der Sirene, ihr Kind hinterher, ist schwer gestürzt.“ Tote gibt es bislang glücklicherweise nicht. „Iron Dome ist so perfekt, das holt fast alles runter. Aber ein paar schlagen eben doch ein. Darum ist die Stadt leer.“

Was Ilona Rothin in Sderot auffällt: Es gibt noch mehr Bunker als bei ihrem Besuch im letzten Jahr. „Neben jeder Bushaltestelle ist einer. Auf den Kinderspielplätzen gibt es Bunker, die aussehen wie Raupen: Wenn die Kinder dort spielen und es gibt einen Raketenalarm, laufen sie in die Raupe.“

Eine neue Quälerei der Hamas

Die Hamas sei dazu übergegangen, „Tag und Nacht“ anzugreifen. „Und ob es nun die Hamas ist oder der Islamische Dschihad, das ist ein und dasselbe. Das sind dieselben Jungs.“

Etwas Neues habe die Hamas sich in letzter Zeit ausgedacht, „eine neue Quälerei“: „Es gibt sieben Kibbuzim, die direkt am Gazastreifen liegen und Landwirtschaft betreiben. Mit den Tunneln kam die Hamas nicht weiter, weil die alle entdeckt werden. Jetzt kriechen sie mit Scharfschützen über die Felder bis zum Zaun und bedrohen die Bauern, die auf den Feldern arbeiten.“ Bislang hätten sie nicht geschossen: „Denn dann würde die IDF sie töten, aber guck mal aus wenigen Metern in so einen Gewehrlauf! Also die Situation ist sehr gespannt, es ist psychologische Kriegsführung.

Schwierige Lage für die Regierung

Die Zeitungen hier sind sich einig, dass die Hamas einen Krieg am Boden provozieren will. Aber Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hat gestern auf der Pressekonferenz gesagt: Wir haben zwar den Massenmörder Bahaa Abu al-Ata gezielt getötet, weil er so viele Menschen auf dem Gewissen hat, sind aber maßvoll und vorsichtig.“

Die israelische Regierung, die ja nur kommissarisch im Amt sei, sei „in einer schwierigen Lage“, so Rothin. „Netanjahu verhält sich eigentlich clever, er hält sich bedeckt, und die IDF hält sich zurück.“ An den Straßenkreuzungen in Sderot sehe man gepanzerte Truppentransporter, aber keine große Ansammlung von Militärgerät, die auf eine Offensive hindeute. Das wäre auch keine gute Idee, meint Rothin: „Ein Krieg jetzt wäre eine Katastrophe.“

Eskalation durch Europa

Die „Leute im Berliner Außenministerium, die für den jüdischen Staat immer gute Ratschläge hätten, „sollen dankbar sein, dass Israel so besonnen ist“. Die Hamas strebe eine Eskalation an, das sei eine große Gefahr für den Weltfrieden. Auch die israelische Wirtschaft leide unter dem Krieg: „Die Leute können ja nicht arbeiten gehen.“ Viele Menschen, die in Sderot, Aschkelon oder Aschdod lebten, hätten sich, wenn sie die Möglichkeit dazu hätten, Urlaub genommen und seien ins Landesinnere geflüchtet.

Die Israelis seien „mürbe“, „sie haben genug“, so Rothin. „Es kann nicht sein, dass dieses Land ununterbrochen angegriffen wird.“ Sie ist empört darüber, dass zur selben Zeit, wo Israel belagert und mit Raketen und Granaten beschossen wird, der Europäische Gerichtshof (EuGH) die Boykottkampagne gegen Israel „juristisch legitimiert“ habe, indem er eine Kennzeichnungspflicht für in jüdischen Siedlungen in Judäa und Samaria hergestellte Güter verlangt. „Das sorgt für noch mehr Spannung, nicht für Deeskalation.“

Ein Krieg, der keiner ist

„Das ist alles sehr bedrohlich. Es fühlt sich an wie Krieg, ist aber keiner.“ Die israelische Luftwaffe fliege sehr tief über Sderot. In der Nacht sei es kaum möglich zu schlafen; wenn Iron Dome die heranfliegenden Raketen am Himmel zerstöre, sei es sehr laut, „wie Feuerwerk“.

Wird eine Rakete in der Luft abgeschossen, fallen die Trümmerteile runter. Jedes von ihnen kann einen Menschen töten – oder ein Auto zerstören, wie es gerade auf einem Supermarktparkplatz in Sderot passiert ist. Dennoch habe sie in Sderot jemanden getroffen, der nicht in einen Bunker wolle, erzählt Rothin: „Er glaubt, dass er bessere Chancen hat, wenn er rennen kann.“

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