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Ein kleines Land, aber eine große Familie

Flugshow am Strand von Tel Aviv
Flugshow zum Unabhängigkeitstag am Strand von Tel Aviv | © imago images / Xinhua

Der israelische Spirit ist eine Mischung aus Optimismus, Zusammenhalt, Lebenswillen und einer Prise Verrücktheit. Er zeigt sich in allen möglichen Lebenssituationen. 

„Israel ist ein kleines Land, aber eine große Familie.“ Der Mann, der mit diesem Satz seinen Vortrag in Wien beendet, ist einer der erfolgreichsten Sportler des Landes. Und er hat nur ein Bein.

Asael Shabo war neun Jahre alt, als die Welt, wie er sie kannte, in Stücke gerissen wurde. Seine Familie wohnte in Itamar, einem kleinen Dorf in den Tälern von Samaria, nahe Nablus. Am 20. Juni 2002, gegen neun Uhr abends, drangen zwei palästinensische Terroristen der PLFP (Popular Front for the Liberation of Palestine) in ihr Haus, bewaffnet mit AK-47 Maschinengewehren und Handgranaten. Als erstes erschossen sie seine Mutter, als sie die Treppe herunterunterkam, um nach dem rechten zu sehen. Dann feuerten sie auf die Kinder. Asaels Brüder Neria (15), Zvika (12) und Avishai (5) starben im Kugelhagel. Seine 13-jährige Schwester Avia wurde in den Oberkörper getroffen, sie überlebte. 

Asael sah seine Mutter und seine Geschwister sterben, er lag am Boden, sein rechtes Knie von neun Kugeln zertrümmert. Er überlebte, indem er sich totstellte. Als ihn einer der Mörder trat, um zu prüfen, ob er noch am Leben sei, hielt er still. Er atmete unhörbar flach. Kein Stöhnen, kein Schluchzen. Nur der stumme Wille zu überleben. 

Ein Nachbar versuchte vergeblich zu helfen. Yoseph Twito (31), Vater von fünf Kindern und Chef der örtlichen Sicherheitswache, wurde erschossen. Militär und Polizei umstellten das Haus, in dem sich die Mörder verschanzt hatten. Es dauerte mehr als eine Stunde, bis sie die Terroristen überwältigen konnten, das Haus geriet während des Gefechts in Brand. Bei seiner Bergung realisierte Asael, dass ihn die Rettungsleute für tot hielten und schrie aus Leibeskräften. Später erzählten ihm die Sanitäter, sie hätten ein zartes, kaum hörbares Wimmern vernommen.  

Als Asaels Vater Boaz von der Arbeit kam, stand sein Haus in Flammen, er musste die Leichen seiner Frau und drei seiner Kinder identifizieren und zwei Kinder ins Krankenhaus begleiten, deren Überleben ungewiss war. Bis heute findet Boaz keine Ruhe. Jeder hätte seinen eigenen Weg, um mit einem solchen Trauma fertig zu werden, erzählt Asael. Der Weg seines Vaters sei ständige Arbeit und Beschäftigung. Er könne es nicht mehr ertragen, mit sich allein zu sein. 

Nach ein paar Tagen erwachte Asael aus dem Koma. Er wusste, dass er ins Leben zurückfinden musste, sonst wäre sein Vater zerbrochen, sagt er, und mit ihm der Rest der Familie. Gib dein Bestes und mach weiter. Aufgeben ist keine Option. Ziemlich viel Verantwortung für einen Neunjährigen, der gerade seine halbe Familie und dreiviertel seines rechten Beins verloren hat. 

Asael fand zurück ins Leben. Er wurde einer der erfolgreichsten Schwimmer Israels und danach ebenso erfolgreich im Rollstuhl-Basketball. Insgesamt gewann er mehr als 70 Medaillen und Pokale. Seine Geschichte ist eine Geschichte von der Überwindung eines Traumas. Eine Geschichte des Überlebens. Eine Geschichte Israels. 

Eine ganze Generation von Shabos

Ende November schickte mir ein Freund ein Video aus Ashkelon, aufgenommen als die Hamas hunderte Raketen auf den Süden Israels feuerte. Man sieht einen kleinen Buben wimmern, er bebt am ganzen Körper. Die Kamera schwenkt zu seiner Schwester, zitternd und schluchzend beginnt sie zu reden. Ihre Augen sind weit aufgerissen vor Entsetzen. Ich habe noch nie ein Kind so zittern gesehen. Die Verzweiflung der Kinder ist herzzerreißend und nur schwer zu ertragen. 

Ich dachte an Ifat, die ich im Mai in Netif HaAsara kennengelernt habe, einem Dorf unmittelbar an der Grenze zum Gazastreifen. Ihr Sohn könne nicht mehr schlafen, erzählte sie, und in der Grundschule sei der eigentlich erstklassige Schüler verhaltensauffällig geworden. Die ununterbrochenen Raketenangriffe im Frühjahr wären zu viel für ihn gewesen. Kinder könnten einen tagelangen Beschuss nicht verarbeiten, sie wüssten nicht, ob er jemals enden würde. Doch der Staat leiste Großartiges, es gäbe kostenlos erstklassige psychologische Betreuung für die Kinder, man sehe auch bereits die ersten Fortschritte. Ifat erzählt ihren Kindern oft von früher, sagte sie, als die Handwerker aus Gaza, die oft bei ihnen arbeiteten, mit ihnen gegessen und Tee getrunken haben und sich über die Süßigkeiten freuten, die ihnen Ifats Familie für ihre Kinder mitgab. Sie lege großen Wert darauf, dass ihre Kinder lernen, die Menschen in Gaza als Nachbarn zu betrachten, trotz allem. Und dass ihre Kinder verstehen würden, dass sie immer noch ungleich besser dran seien als die Kinder dieser Nachbarn.

Die große Familie hilft, wo sie kann. Doch im Süden Israels wächst eine Generation schwer traumatisierter Kinder heran. Eine Generation, in der jeder einzelne die Kraft und den Lebenswillen eines Asael Shabo brauchen wird, um sein Trauma zu überwinden.

In den vergangenen Wochen wurde Israel von schweren Unwettern heimgesucht. Stürme und Überschwemmungen kosteten sieben Menschen das Leben. Videos, die im Netz kursieren, zeigen, was die Stärke dieses Landes ausmacht. Zusammenhalt, Hilfsbereitschaft und ein manchmal verrückt anmutender Spirit, der sich aus Zuversicht und Lebensmut speist. Studenten, die auf ihren Boards durch die Straßen von Tel-Aviv paddeln. Ein Surfer, der das Hochwasser im sonst ruhigen Lakhish-Fluss für einen Wellenritt nutzt. Ein Wasserski-Fahrer, der sich von einem Truck durch die überfluteten Straßen ziehen lässt. Mach das Beste draus. Mach weiter. Aufgeben ist keine Option.

Anmerkung: Asael Shabo war von Keren Hajessod nach Wien eingeladen worden. Die israelische Hilfsorganisation hat Asael auf seinem Weg zurück ins Leben geholfen und – wie tausende andere israelische Terroropfer – finanziell unterstützt.  

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